Der Gedanke ist faszinierend: Ein Pub in London im Januar 1962. Am 6. Januar wurde Hanns Eislers "Deutsche Sinfonie" erstmals in London aufgeführt. Eisler, der auch die Nationalhymne der DDR komponiert hatte, weilt zur Premiere in London und trifft im Pub einen jungen Mann, der gerade versucht, mit einer Band namens "The Beatles" die erste Schallplattenaufnahme auf die Reihe zu bekommen. Der Bursche heißt John Lennon.

In London weilten die Beatles in diesem Winter tatsächlich. Bei der berühmten Plattenfirma Decca machten sie Probeaufnahmen – noch in der Besetzung Lennon, McCartney, Harrison, Sutcliff, Best. Es ist eine jener Geschichten, die heute gern als Anekdote erzählt werden: Bei Decca waren sie wohl zu blöd, die genialste Band des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Der Plattenvertrag kam nicht zustande. Und dann das mit den Gitarren …

Dabei war 1962 das Jahr, in dem die Beatles tatsächlich erst zu sich selbst fanden – das Jahr auch, in dem Stu Sutcliff starb und Ringo Starr Pete Best am Schlagzeug ersetzte. Das Schwanenküken war schon aus dem Ei geschlüpft – aber noch kein weißer Schwan. Das kam erst in diesem Jahr und war im Januar, als John Lennon sich womöglich in einen Pub in der Nähe der Aufnahmestudios verirrte, noch nicht abzusehen. Dass der junge Mann aus Liverpool aber das Zeug zu Großem und ganz gewiss Unerwartetem haben würde, das hatten die Hamburger im Jahr zuvor schon hören können, das klang schon an in der Adaption von “Ain’t She Sweet” und im Lennon/McCartney-Song “Love Me Do”.Und dann John Lennon, der intellektuelle Kopf der Band, eines Abends in der Kneipe von James Donavan Bloomfield. Jemand hat eine Begegnung arrangiert mit dem berühmten Hanns Eisler, der im tadellos geschneiderten Anzug erscheint, begleitet von seinem Sohn Georg, der da und dort aushilft, wo ein paar englische Vokabeln fehlen. Aber nach 14 Jahren in den USA kann Eisler fließend Englisch. Jemand hat ein Tonband auf den Tisch gestellt, als ahnte er, dass hier ein Gespräch stattfinden würde, das dokumentiert werden muss für die Nachwelt. Eisler, Schüler Schönbergs und Freund Brechts, einer der großen Neuerer in der Musik des 20. Jahrhunderts, unterhält sich mit dem 21jährigen Burschen aus Liverpool, der gerade dabei ist, Musik fürs Volk ganz anders zu denken und zu machen. Zwei Männer auf Augenhöhe?

Das Thema, über das sie sich unterhalten, hat sie wirklich beide bewegt: Wie macht man im 20. Jahrhundert Musik? Und für wen? Und mit welchem Ziel? Immerhin hatte sich Eisler 40 Jahre lang intensiv den Kopf zerbrochen über wirklich populäre Musik, die nicht nur die Emotionen anspricht, sondern auch den Verstand. Die nicht nur einlullt und den Zuhörer in seinen Emotionen ersäuft. Es gibt genug Äußerungen von ihm über die banale, volkstümelnde Musik seiner Zeit. Über die gefälligen Walzertakte und die Marschrhythmen vieler deutscher Schlager.

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Und dann dieser Lennon, der ganz ähnlich zu ticken schien – der aber etwas ganz anderes wollte: Musik, die das Lebensgefühl seiner Zeit tatsächlich erfasste, nicht zupappte, sondern zum Klingen brachte. Das Erstaunliche: Im Englischen passt das fast nahtlos zusammen. Der englische Text liest sich, als hätten die beiden wirklich konzentriert miteinander geplaudert, als hätten sie sich vorgenommen, sich bei dieser einmaligen Gelegenheit ganz unaufgeregt über ihre Haltung zur Musik zu unterhalten, ihr Wollen, ihr Streben. Wahrscheinlich würde es sogar funktionieren, diesen Text fürs Radio tatsächlich einzuspielen. Mit Gläserklirren und dann und wann dem Zischen eines Streichholzes im Hintergrund.

Im Deutschen klingt Vieles, was Eisler sagt – und auch so geschrieben hat in seiner Zeit – steif. Worte, die im Englischen leicht klingen und einfach, bekommen im Deutschen die Schwerlastigkeit der politischen Phrase. “Working people” ist so eine Phrase – “werktätige Menschen”. Oder dieses Uraltwort, das einen närrisch machen kann, wenn man es in der Kulturphraseologie der 1950er Jahre wiederfindet: Estradenmusik. Eigentlich undenkbar, sich so ein Gespräch überhaupt in Deutsch vorzustellen. Diesem malträtierten und von Politschranzen verhunzten und belasteten Deutsch. Das man nicht benutzen muss. Und man findet bei Eisler auch anderes. Manchmal hat er wohl still für sich geflucht, weil er die Textvorlagen seiner Zeit grauenvoll fand. Fündig wurde er – natürlich. Bei Brecht. Und bei Tucholsky.Auch Deutsch kann schön sein.

Was Eisler und Lennon sich hier erzählen, findet man so auch in ihren Arbeiten wieder. Man merkt, wie gut Thomas Freitag die beiden und ihre Gedankenwelten kennt. Welten, die sich da und dort berühren – und auch mal aufeinander prallen.

Thomas Freitag ist mit diesem Tonbandprotokoll der besonderen Art eine doppelte Hommage geglückt. Und er schafft etwas, was auch kein dickes theoretisches Buch schaffen könnte: Er verknüpft die Fäden zweier Musikgeschichten, die in der üblichen Wahrnehmung nichts miteinander zu tun haben. Gerade aus deutscher Perspektive, wo die gut bestallten Musikkritiker der so genannten “ernsten” Musik nichts, aber auch gar nichts mit den schrillen Musikkritikern der Unterhaltungsmusik zu tun haben. So dass die einen nicht mal mehr merken, wenn Musiker ihre Wurzeln in der anderen Musik-Welt haben.

Womit man Lennon und Eisler natürlich als etwas begreift, was sie so außergewöhnlich machte: Sie waren Grenzgänger. Aus Überzeugung. Und sie haben den Reichtum dieser Grenzüberschreitungen für ihre Arbeit nutzbar gemacht. Was dann wohl eines der schönsten Merkmale wirklich guter Kunst beschreibt: Ihre Schöpfer sind neugierig, experimentierfreudig und immer auf das Entdecken neuer Möglichkeiten aus, das umzusetzen, was sie bewegt. Da ist es gut vorstellbar, die beiden da sitzen zu sehen, jeder überzeugt von dem, was er getan hat und tut.

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Das Neue, so merkwürdig …
Thomas Freitag, Neues Leben 2012, 14,95 Euro

Und am Ende darf Eisler den jungen Mann auch noch nach seiner Liebe fragen. “Sie sind verliebt, Herr Lennon?” – Etwas anderes kann man ja nicht wirklich denken, wenn man “Love Me Do” zum ersten Mal hört.

Ein Nachwort von Tony Sheridan gibt es auch noch, einem der frühen Begleiter der Beatles. Oder umgekehrt: Sie haben ihn begleitet auf seiner Single “My Bonnie”, aufgenommen 1961 in Hamburg. Einige der Lesungen zum Buch gestalten Tony Sheridan und Thomas Freitag gemeinsam.

Bei der Leipziger Buchvorstellung am 6. September wird Thomas Freitag von John Carlson am Klavier begleitet. Die Lesung findet am Donnerstag, 6. September, um 20 Uhr in der Ratstonne der Moritzbastei statt.

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