Was mit dem "Blick vom Turm" in einer thüringischen Stadt mit Wald und alter Waffentradition begann, ist mittlerweile zur Trilogie gediehen. Immo Sennewalds Helden aus der abgeschiedenen Provinz hat es in alle Winde zerstreut. Die Jugendfreunde haben studiert und Karriere gemacht. Oder das, was man so Karriere nennen konnte in einem Land, in dem auch für ein einigermaßen selbstgewähltes Leben Anpassung und Unterordnung gefordert wurden.

Es war immer das “Hic Rhodus, hic salta!”. Schmeißt du dein Rückgrat weg und fügst du dich den Erwartungen? Passt du dich an? Oder riskierst du, von vornherein aussortiert zu werden, in die schlimmste Provinz verbannt, verdammt zu Dienstbotentätigkeiten?

Immo Sennewalds große Zeiterzählung umfasst zwei Zeiten und zwei Welten, lebt von den Rückblenden und Einschüben. Und was als Schelmenroman begann, wird zur Zeitkritik. Im Mittelpunkt steht exemplarisch eigentlich die Generation der heute 60-Jährigen. Auch der Held des Buches, Gustav Horbel, gehört dazu. In ihm steckt der Autor selbst mit all seinen Erfahrungen in den Windungen eines Lebens, das nicht passte und nicht passt.

Auch Sennewald hat anfangs Physik studiert wie Horbel, schloss ein Hochschulstudium als Schauspielregisseur ab und ging dann als Journalist zu Rundfunk und Fernsehen. Heute lebt der in Suhl Geborene in Baden-Baden. Und auch sein Gustav Horbel lebt im Westen, wohin er ausreiste, nachdem ihm die Arbeit als Regisseur selbst in der ostdeutschen Provinz verleidet wurde. Dass er mit seinem kritischen Geist und seiner Widerspenstigkeit gegen die angepasste Willfährigkeit unangenehm auffiel, das wusste er ja, dass die Stasi ihn beobachtete, wie sie alles beobachtete, was nur in Geringsten unangepasst war, auch das wusste er.Typisch für jene, die in der DDR Karriere als Überwacher machten, ist sein einstiger Jugendfreund Matthias Montag, der nach dem Mathematikstudium beim MfS einsteigt und sich als besonders forscher Entlarver von verkappten Abtrünnigen seine ersten Sporen verdient. Er ist – der Leser kann es ja hautnah miterfahren – eine Type wie aus einem Gogolschen Roman, so sehr von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt, dass er über Leichen geht. Obwohl er eigentlich tagtäglich Blut und Wasser schwitzt, weil er merkt, dass er den Erwartungen seiner Vorgesetzten nicht im Mindesten genügt.

Anschaulich zeigt Sennewald, wie der stetig wachsende Überwachungsdruck das Leben seiner Protagonisten beschädigt – sie geradezu in die Ablehnung gegenüber einem Land treibt, von dem am Ende nur noch die härtesten Genossen zu glauben scheinen, dass es die Erfüllung einer großen Utopie wäre. Aber Utopien sterben, wenn die Lüge regiert. Was auch Silvia, die rothaarige Jugendliebe von Gustav erfährt, die den NVA-Offizier Klaus Lampert geheiratet hat, der 1984 bei einem Transport sowjetischer Kurzstreckenraketen zu Tode kommt. Der Tod bleibt mysteriös. Wie so mancher Todesfall in dieser Geschichte, bei dem man nicht so recht weiß, ob hier nun nachgeholfen wurde von diversen Geheimdiensten. Und die sind allgegenwärtig – Silvias Vater ist ein hohes Tier beim MfS, ihr Halbbruder Herrmann scheint ganz und gar in einer zwiespältigen Beziehung zum KGB zu stehen.

20 Jahre nach dem großen deutschen Einheitsbrei verknotet sich das alles noch einmal, macht sich Gustav auf die Suche nach seinem Studienkollegen Anton Fürbringer, dessen Forschungen in DDR-Zeiten niemand so recht brauchte, weil sie weit über die gewollten Möglichkeiten des Landes hinausgingen. Seine Ideen könnten aber, wie es scheint, in den Zeiten einer notwendigen Energiewende sensationell sein. Doch wie findet man verschollene Gestalten aus jener Zeit? Selbst dann, wenn es ein selbstgesetztes Thema ist. Denn Gustav Horbel hat nicht nur in DDR-Zeiten erfahren, wie Hierarchien funktionieren. Es ist bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auch nicht wirklich so, dass kritische Beiträge oder gar eigene Initiativen von Reportern erwünscht sind.

Etliche seiner Arbeiten werden abgelehnt, weil man auf höheren Etagen meint, sie seien nicht zeitgemäß, andere Themen seien dran – oder andere Redakteure sollten das Thema bearbeiten.

Es lohnt sich tatsächlich, “Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen” von Laurence J. Peter und Raymond Hull wieder zu lesen, erschienen 1972 und selbst in der DDR ganz am Ende noch aufgelegt. Hierarchien funktionieren immer nach den selben Mustern. Es ist egal, welche Inhalte man hineinkippt. Sie entwickeln Mechanismen der Verhinderungen, der Desorganisation, der Intrigen und der Schaffung immer neuer Instanzen der Unfähigkeit. Für Gustav Horbel bedeutet es: Er könnte sich wieder krümmen und den Erwartungen der Chefs genügen. Er tut es aber nicht und rechnet sich nun – nach all den Brüchen in seiner Karriere – mal wieder zum Prekariat.Aber er kann – als er dann doch seiner einstigen Jugendliebe gegenüber sitzt – ihr offen in die Augen sehen. Er ist sich treu geblieben, auch weil er in seinem Leben Freunde gefunden hat wie den Westberliner Journalisten Guido Hersfelder. Auch Gustav hätte das Schicksal ereilen können, das da Bautzen hieß, so wie es Gabi Fürbringer geschah, der ehemaligen Leistungssportlerin und Ex-Frau von Anton Fürbringer. Auch das eine eigene Lebensgeschichte in diesem Gespinst der deutsch-deutschen Schicksale – tragisch insbesondere durch die Trennung von ihrer Tochter Carla, deren Leben von dieser Tragödie fortan gezeichnet ist. Tragisch auch durch die Rolle ihres Geliebten Karsten Keller, Schauspieler und von Matthias Montag zum Spitzel gedungen, obwohl er diesen Zwiespalt nicht aushält und sich fortan zu Tode säuft.

Was an Sennewalds nun dreiteiliger Saga besticht, ist seine Unvoreingenommenheit. Er versucht, die Handlungsweisen seiner Figuren zu verstehen, die Motive und Zwänge offen zu legen. Was durchaus interessante Gestalten ergibt, wie die überzeugte Hardlinerin und ehemalige Lehrerin Inge Hofrichter, die Mutter von Silvia, die dem Leser anfangs kaltschnäuzig und verbiestert erscheint und sich im Lauf der Geschichte als eine durchaus komplexe Figur erweist. Bis hin zu den heimtückischen Kapiteln zum Finale des Buches hin, als sich das ganze Hofrichtersche Familiengespinst für Silvia (und am Ende sogar für den Ex-Stasi-Mann Matthias Montag) wieder einmal als völlig anders gestrickt erweist, als gedacht. Das Ende der einen geheimniskrämerischen Gesellschaft hat neue Geheimniskrämereien erzeugt, bei denen – achja, das kennt man irgendwie – die Dunkelmänner und Geschäftemacher aus Ost und West mal wieder oder noch immer und nun unter neuen Maskeraden ihre keineswegs koscheren Geschäfte machen. Hier zum Beispiel mit einer einst in der DDR-Waffenschmiede konstruierten Variante der sowjetischen Kalaschnikow, die NATO-Munition verschießen kann. Ein echter Exportschlager, wenn man in den illegalen Waffengeschäften in aller Welt mitmischt.

Und dass Sennewald hier keine Räuberpistole erzählt, kann jeder in der deutschsprachigen Wikipedia unter den Stichwort “Wieger” nachlesen.

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Raketenschirm
Immo Sennewald, Salier Verlag 2013, 16,00 Euro

Auch eine plausible Variante für die Ermordung des Treuhand-Chefs Detlev Karsten Rohwedder und dessen spätere Vertuschung bietet Sennewald an. Womit sich der Kreis schließt zur großen Schelmen- und Weltgeschichte aus dem ersten Buch “Der Blick vom Turm”, die so sehr an die Schelmengeschichten der Herren Ilf und Petrow erinnerte. Die großen Ganoven entpuppen sich, wenn man ihnen dann doch mal auf Erden begegnet, als ziemlich windige Gestalten, in ihrer Persönlichkeit tief zerrissen von Süchten, Lüsten oder auch nur von russischem Wodka.

Aber die Saga lebt auch von der stets wachgehaltenen Angst des Lesers um die eigentlichen Hauptgestalten und ihr halbwegs heiles Überleben in Zeiten, in denen selbstbewusste Charaktere nicht wirklich erwünscht sind und deshalb immer wieder in die Mühlen und Fährnisse der gefühllosen Hierarchien geraten.

Wikipedia zur in der DDR produzierten “Wieger: http://de.wikipedia.org/wiki/Wieger

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