Einen Versuch ist es wert. Oder zwei. Oder drei. Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Man muss seinem Gehirn nur eine mögliche Interpretation anbieten für Vorgänge, die er nicht versteht, schon glaubt er dran. Vorsehung, Fügung - das sind Begriffe aus ganz alten Zeiten. Aus einer Welt, in der die Menschen noch höhere Mächte hinter allem sahen, was sie erlebten. Eine Welt, wie sie Bernhard Streck in seinem Buch "Sterbendes Heidentum" eindrucksvoll schildert.

Auch im Christentum hat sich eine Menge dieser alten, heidnischen Wurzeln erhalten. Jede Religion ist eine Übergangsreligion, nimmt Elemente ihrer Vorläufer auf, besetzt tief verwurzelte Glaubenspartikel und schreibt sie um und fort. Der Glaube an das Walten höherer Mächte gehört dazu. In Europa im Mittelalter teilweise geradezu ein Massenphänomen – für jede Unbill gab es einen Heiligen, der Kontinent war mit Wallfahrtsorten übersät und der Alltag war oft mit tief gläubigen Ritualen durchsetzt, die teilweise auch noch tief in den alten germanischen Glaubenswelten wurzelten.

Man vergisst oft, wie jung unsere Zivilisation ist. 2.000 Jahre sind ein Nichts, selbst im Zusammenhang mit der mittlerweile archäologisch erkundeten Zivilisationsgeschichte. Und das Christentum als eine der modernen Religionen ist ja nun einmal erst 2.000 Jahre alt. Vielleicht nicht einmal. Denn zum Kanon geriet ja die Paulinische Mission erst drei Jahrhunderte nach seinem Tod.

Wie verfestigt uralte animistische Betrachtungsweisen noch sind, machte selbst das 19. Jahrhundert noch deutlich, fast euphorisch in seinem unbändigen Glauben an Fortschritt, Technik und Wissenschaft. Und durchzogen mit Skandalen um allerlei quasi-wissenschaftlichen Wunderglauben – von Mesmerismus bis zur Beschwörung der Toten bei Séancen. Und das hörte im 20. Jahrhundert nicht wirklich auf, verwandelte sich nur – verzichtete aber fortan nicht mehr auf das Mäntelchen Wissenschaftlichkeit. Was es an übernatürlichen Phänomenen gibt, muss doch letztlich auch zu beweisen sein? – Ganze Berge von Zeitschriften und Büchern befriedigten diesen Hunger der Menschen nach einem höheren Wesen, einem glaubhaften Jenseits.Emsig gingen Leute selbst an gut dotierten Lehrstühlen daran, die Phänomene zu sammeln, mit der sich eine Welt jenseits unserer Welt, eine Welt der Geister, Engel und der göttlichen Vorsehung beweisen ließe. Aber wie beweist man das wirklich? – Gute Frage.

Mit einem dieser Themen hat sich Johannes Michels schon in “Zu Besuch im Himmel” beschäftigt – einem Buch, in dem er Berichte von möglichen Nahtoderfahrungen gesammelt hat. Werfen Menschen einen Blick ins versprochene Jenseits, wenn sie solche Erfahrungen machen?

Beweisen lässt sich das nicht. Auch wenn sich Michels alle Mühe gab, aus den Berichten, die er gesammelt hatte, die Stichhaltigkeit des Geschilderten aus der Textlogik selbst zu erklären. Genauso geht er in diesem Büchlein vor, in dem er lauter Beispiele von Erzählungen über die Eingriffe höherer Mächte in menschliche Schicksale schildert. Und danach erläutert, warum sie mit zwingender Logik Beispiele für das Walten von Schutzengeln sein müssen.

Mehr zum Thema:

Zu Besuch im Himmel: Elf Berichte von Nahtod-Erfahrungen und der vergebliche Versuch, sie zu beweisen
Man möchte ja so gern dran glauben …

Eine faszinierende Reise in die Urreligion der Menschen: Sterbendes Heidentum
Bis Leipziger Verlage mit ihren Büchern …

Lauter gefiederte Gesellen: Engel unterwegs
Manchmal muss man erst nach Paris fahren …

Ganz sicher ein hübsches Buch für Leute, die tief und fest daran glauben. Diese werden sich nur an den ausufernden Erörterungen stören, mit den Michels beweisen will, dass Gott hier aktiv wurde. Wer an diese Dinge glaubt, braucht keine Beweise. Und wer Beweise braucht, wird sich mit soviel angestrengter Beweislogik ganz bestimmt nicht zufrieden geben. Natürlich kann auch der die kleinen Geschichten lesen. Und in allen steckt der Kern dessen, was man auch ohne allen Glauben an höhere Gewalt oft genug erlebt. Man ahnt, dass Dinge passieren. Man ahnt es nicht nur, weil man irgendwo ein Bauchgrummeln hat, sondern weil unsere Umwelt voller Signale ist.

Ein Schneechaos deutet sich an? – Dann gibt es dazu nicht nur Nachrichten im Radio, sondern man sieht es, wie der Himmel sich eintrübt, man spürt den Wetterumschwung, manchmal kann man es sogar riechen. Ein Balkon droht einzustürzen? Ein Stau beginnt sich anzubahnen, aber die anderen Fahrer denken gar nicht daran abzubremsen? – Die innere Stimme verstummt ja nicht, auch wenn der Mensch nicht mehr an Schutzengel glaubt. Das Leben ist voller Situationen, in denen einem dieses Bauchgefühl sagt: Das lässt du jetzt mal lieber.Manche machen es dann gerade. Nur können sie davon meist nicht mehr erzählen, wenn sie dabei draufgegangen sind. Erzählen können in der Regel nur die, die entweder mit viel Glück überlebt haben (dazu gibt es wirklich hübsche Beispiele im Buch) und jene, die auf ihr “Bauchgefühl” gehört haben. Ganz sicher ist das ein Forschungsthema für die Psychologie. Und die hat schon viele Felder erkundet, wie Menschen Signale aus ihrer Umgebung aufnehmen und verarbeiten. Ist ja nicht so, dass wir von unseren Vorfahren so weit entfernt sind, dass wir das Sensorium für die Signale aus unserer Umwelt so komplett eingebüßt haben.

Es ist dann nur die Frage, ob ein Mensch diesem Sensorium vertraut und entsprechend reagiert – die nächste menschliche Dummheit eben mal nicht riskiert. Oder ob er diese Alarmsignale konsequent ignoriert. Was Viele tun. Sie spielen regelrecht mit ihrem Leben, sagt man dann. Sie lassen es darauf ankommen. Die dümmsten Exemplare tauchen dann in den Wettbewerben um den Darwin-Award wieder auf.

Ist natürlich die Frage: Hat man das Ur-Vertrauen zu den eigenen Sinnen und Vorahnungen – oder schreibt man das Ganze dann still waltenden Engeln zu, die über uns wachen? Das ist dann keine wissenschaftliche Frage mehr, sondern eine Glaubensfrage. Manche glauben ganz fest an ihren Schutzengel. Und auch wenn Michels in teilweise akrobatischer Art versucht zu beweisen, wie der allessehende Gott und seine Engel immer wieder eingreifen in menschliches Leben, kommt er im Zentrum über den eigentlichen Kern nicht hinaus: die Vorahnungen, die jeder hat. Denn das menschliche Gehirn ist permanent dabei, die Situation auf mögliche Gefahren hin abzuschätzen. Das hat es im Laufe einer Millionen Jahre anhaltenden Evolution “gelernt”. Wer die Gefahr nicht spürt, hat normalerweise keine Überlebenschancen.

Deswegen sind auch die beiden Geschichten zu den ermordeten amerikanischen Präsidenten Lincoln und Kennedy kein Beweis. So schön sie klingen. Sie wussten beide zeitlebens um die Gefahr in ihrem Amt – und es sind übrigens nicht die einzigen US-Präsidenten, auf die Attentate verübt wurden.

Selbst wenn Johannes Michels noch Hunderte weitere solcher Geschichten sammeln würde – sie würden nicht beweisen können, was er so gern beweisen möchte. Sie zeigen nur ein bisschen, wie sehr sich viele Menschen eine schützende Macht über sich wünschen, die sie vor dem Ärgsten bewahrt. Das ist ein uralter Wunsch.

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Zeichen des Himmels
Johannes Michels, St. Benno Verlag 2013, 14,95 Euro

Es ist aber auch eine Ausflucht. Denn der Mensch hat mit seinem Kopf eigentlich auch die analytische Fähigkeit mitbekommen, Gefahrenpotenziale erfassen und minimieren zu können. Doch während die einen innig zu ihrem Schutzengel beten, setzen die anderen ihren gelben Helm auf, brummen irgendwas wie “Augen zu und durch” und drücken auf den roten Knopf. Mal sehen, was passiert. Was einen dann an einen der begnadetsten Skeptiker des 20. Jahrhunderts denken lässt, der sogar eine der schönsten Satiren über die wissenschaftlich herbeigeführte Nahtoderfahrung geschrieben hat: Kurt Vonnegut und sein “God Bless You, Dr. Kevorkian”.

Was er von der Lernfähigkeit der Menschen geschrieben hat, könnte freilich auch zutreffen – mit allem drum und dran. Aber er hielt ja die Erfindung der Religion auch für einen Versuch der Menschen, ihre Einsamkeit zu überwinden. Wenn sonst schon keiner da ist, der einen davor bewahrt, nun wirklich eine gewaltige Dummheit zu machen, gibt es da wenigstens einen großen Beschützer da oben. Man muss nur dran glauben. Analyse stört da nur.

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