Gerade noch einmal die Kurve bekommen haben Hans-Volkmar Gaitzsch und Bernd Schirm, beide dem Leipziger Pferderennsport und den zugehörigen Vereinen seit Jahren verbunden. Sie wollten zum jüngsten Jubiläum des "Leipziger Reit- und Rennvereins Scheibenholz" eine Jubiläumsschrift verfassen und haben - zum Glück - den Weg zu einem professionellen Verlag und einem Verleger gefunden, der weiß, wie man 150 Jahre in ein Buch packt.

Und zwar so, dass auch Leute, die von Vollblütern, Toto-Wetten, Jockeys und Preisen keine Ahnung haben, Lust aufs Lesen bekommen. Denn 150 Jahre Pferderennen in Leipzig, das ist tatsächlich mehr als Siege, Wetten, Platzierungen. Oder Prominente. In einigen Kapiteln des Buches spürt man noch, was das eigentlich geworden wäre, wenn Verleger Dr. Ralf C. Müller, studierter Historiker, nicht ordnend eingegriffen hätte.

Der Rennsport-Enthusiast hätte zwar ein Buch mit lauter Jahresangaben, Vereinsvorständen, Rennbahnumbauten, Jubiläen, Auf- und Abschwüngen bekommen. Samt “Turf-Fasching in der Rennbahngaststätte” und “Bessere Bedingungen für Aktive”. Jeder kennt solche Überschriften aus Vereinsheimen von Sportclubs jeglicher Art, über die sich der Gast nur wundert – ist das wirklich wichtig? Ist hier wirklich jeden Tag Karneval?Dabei ist es zum Glück nicht geblieben. So kann man 150 Jahre Pferderennsport in Leipzig auch nicht erzählen. Also wurde das Buch in fünf große Kapitel gegliedert, die sich eng an die großen historischen Zäsuren anlehnen – von der Bismarckschen Einigung 1871 über den Ersten Weltkrieg und den Zweiten bis zur Wiedervereinigung. Jedes Mal änderten sich nicht nur die politischen Rahmenbedingungen, sondern auch die wirtschaftlichen. Und wer nicht dran denkt, wenn er die aufgeregten Scharen zu den zumeist doch sonnigen Renntagen auf der Galopprennbahn Scheibenholz sieht, der erfährt es hier: Dass auch der Pferderennsport etwas mit Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft zu tun hat.

In Leipzig unübersehbar. Denn das Jahr 1863 ist in Leipzig kein zufälliges Jahr: Die gute alte Handelsstadt hatte 85.000 Einwohner und platzte aus allen Nähten. Die Vorstädte wuchsen und im Westen der Stadt war ein Bursche am Werk, der nichts anderes zu tun schien, als immer neue Kanäle auszuheben, Brücken und Straßen zu bauen, Gleise zu legen und Überschwemmungsgelände aufzuschütten, bis verkäufliches Bauland draus wurde. Carl Heine hieß dieser Kerl, dessen Denkmal zwar in der Nähe der Plagwitzer Brücke steht, einem seiner Wirkungsgebiete. Aber er könnte auch genauso gut auf dem Dorotheenplatz oder auf dem Markt stehen. Heine war exemplarisch das, was Leipzig in der Mitte des 19. Jahrhunderts erst zur großen, lärmenden Industriestadt machte. Und zu einer reichen Stadt.

Es ist kein Zufall, dass es eine Wiese Carl Heines nahe Lindenau war, auf der 1863 die ersten Pferderennen ausgetragen wurden. Und die Zusammensetzung des Vorstands des ersten Rennclubs war auch kein Zufall. Hier saßen der Bankdirektor Ottomar Spangenberg und der Bankier Wilhelm Seyfferth. Seyfferth wird besonders gewürdigt – er hat ja nicht nur den herrlichen Johannapark von Lenné gestalten lassen und der Stadt Leipzig geschenkt (in Erinnerung an seine früh verstorbene Tochter Johanna Natalie), er tauchte auch schon bei zwei anderen Mega-Themen der Leipziger Wirtschaftsgeschichte mit auf: 1838 gründete er mit den Herren Harkort und Dufour-Féronce die erste private Notenbank Sachsens, die Leipziger Bank. Und mit den beiden Herren engagierte er sich auch für die Leipzig-Dresdner-Eisenbahn-Compagnie. Auch das wird oft vergessen: Die erste Ferneisenbahn Deutschlands zwischen Leipzig und Dresden war ein Privatunternehmen.

Und Leipzig war im 19. Jahrhundert auch nicht zufällig Brennpunkt neuer gesellschaftlicher Entwicklungen. Man denke nur an die Gründung des ADAV, eines der Vorläufer der SPD, 1863 in Leipzig oder die organisierte Frauenbewegung. Auch die sich etablierenden Bürger schufen ihre Netzwerke und begannen, in Lebensstil und Anspruch den Adligen nachzueifern. Auch wenn die Revolutionen von 1830 und 1848 als gescheitert gelten, erzählen sie doch vom gewachsenen Anspruch des neuen (Groß-)Bürgertums, die Geschicke ihrer Stadt und des Landes mitzubestimmen. Seit 1830 spielten sie in Leipzigs Stadtpolitik die dominierende Rolle. In der Kultur sowieso. Der Bau des Bildermuseums 1858 geht genauso auf das Konto dieses wirtschaftlich starken und gebildeten Bürgertums wie die Gründung des Geschichtsvereins 1867 und der Bau der Rennbahn im Scheibenholz. Der erfolgte 1867, nachdem sich der Rennplatz an der Grenze von Lindenau zu Schönau als zu abgelegen erwiesen hatte.Auf der Ratswiese am Scheibenholz war Platz. Das war altes Auengebiet. Man baute einen Damm, um das Gelände vor Hochwasser zu schützen, baute auch erste provisorische Tribünen – und man war unter sich. Anfangs zumindest. Mancher fuhr in seiner Kutsche bis an die Rennstrecke und blieb auch drin sitzen. Man pflegte ganz bewusst einen Sport nach englischem Vorbild – und man pflegte auch das dazu gehörende konservative Weltbild einer konstitutionellen Monarchie. Leipzig war – auch wenn hier ab und zu Herren wie Bebel, Marx oder Liebknecht auftauchten – eine konservative Stadt. Mit teilweise erzkonservativen Tendenzen, die besonders nach 1871 spürbar wurden.

Leipzig war aber zugleich auch eine liberale Stadt. Denn wenn das reiche Bürgertum schon so offensichtlich versucht, dem Adel und seinen Vergnügungen nachzueifern, dann ist das auch ein Ansporn – fürs Kleinbürgertum zuerst: in Sachen Bildung, sportlicher Vereinigung, Vergnügen. Was auch an der Rennbahn im Scheibenholz zu ersten Konflikten führte. Die neugierigen einfachen Leipziger, die am Zaun kostenlos zuschauten, versperrten den herrlichen Kaleschen den Weg. Der Rennclub bat die Stadt, ordnungsbehördlich einzuschreiten.

Lange Zeit galt die Bahn im Scheibenholz durchaus als eine der wichtigsten Rennbahnen in Deutschland. Aus Berlin fuhren sogar Sonderzüge zu den Leipziger Rennen. Das änderte sich freilich nach 1918 deutlich. Nach 1935 versuchten die Leipziger Nationalsozialisten auch den Rennclub gleichzuschalten. Dass dann die Amerikaner hier kurzzeitig kampierten, konnte 2011 bei der Sanierung der Tribüne durch etliche Funde belegt werden. Am Ende scheint die ganze Geschichte der Rennbahn zu zerfasern. Der Trägerverein galt seit 1945 als aufgelöst, staatliche Instanzen hatten das Sagen. Und auch die Geschichte nach 1990 ist eher eine dissonante – das Engagement der Bürger war da, aber das Geld fehlte immer wieder. Unübersehbar fehlt das einst prägende Großbürgertum, das Leipzig bis 1913 seinen Stempel aufdrückte.

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150 Jahre Galopprennen
in Leipzig 1863-2013

Hans-Volkmar Gaitzsch, Bernd Schirm, Eudora-Verlag 2013, 14,90 Euro

Was natürlich nichts daran ändert, dass die Bahn und ihre Rennen für viele Leipziger unverzichtbarer Teil ihres Lebens sind. Auch wenn es immer wieder auch Flauten gab. Aber seit der mit Mitteln des Konjunkturpakets II erfolgten Sanierung der 1907 erbauten Tribüne hat die Bahn auch wieder einen wichtigen Teil ihres alten Flairs zurückgewonnen. Das erhöht auch den Publikumszuspruch. Und natürlich wird es auch viele Leute dazu animieren, die Geschichte dieser Rennbahn einmal nachlesen zu wollen – als Teil der Geschichte Leipzigs. Wie denn sonst? Auch diese Rennbahn ist kein UFO. Sie gehört in ihre Zeit und alle Umbrüche der Geschichte spiegeln sich auch hier. Mit Kaleschen fährt heute niemand mehr vor. Aber die Anhänger des Pferderennsports gibt es noch immer – und einige wirken, wie ihre Vorbilder der Anfangsjahre, wieder als Förderer und Sponsoren. Ohne die funktioniert auch Pferderennsport nicht.

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