Das verblüfft selbst Sebastian Thieme: Wie tief das alte Misstrauen der "Marktgewinner" auch in den heutigen Wirtschaftstheorien verankert ist, quasi ein wissenschaftliches Mäntelchen bekommen hat, an den Hochschulen als "Prinzipal-Agenten-Theorie" durchgespielt. Prinzipal ist der Auftraggeber, Agent der Auftragnehmer. Das Problem des Auftraggebers ist: Er weiß nicht, was der Agent weiß oder denkt oder tut. Er kann also nur bedingt überprüfen, ob die gelieferte Leistung dem Gewünschten entspricht.

Doch diese Theorie findet man heute nicht mehr nur in der Unternehmenswelt – sie vergiftet auch längst schon die Arbeitswelt und, was noch schlimmer ist, den Sozialstaat. Denn wenn die Angst der Unternehmer, die ihren Auftragnehmern aus eigener Erfahrung zutiefst misstrauen, auch noch in die Arbeitswelt schwappt, dann sind überwachte Kassierer, ausspionierte Lebensläufe und so genannte Leistungslöhne die direkte Folge. Bei den Leistungsvergütungen bezahlt man den Angestellten nicht mehr die Arbeitsleistung, die man erwartet, sondern schafft Anreize, noch mehr zu leisten – also wirklich so viel zu arbeiten, wie einer kann. Was – da hat Sebastian Thieme in seiner Analyse natürlich recht – im Umkehrschluss heißt: Der Chef unterstellt einfach, seine Leute nutzen jede Gelegenheit zum Faulenzen und Betrügen.

Was auch heißt: Mit solchen Modellen hält das Misstrauen Einzug in jedes Unternehmen, in jede Verwaltung. Und die Vorurteile werden angefeuert – unter anderem das in den Wirtschaftswissenschaften fest verankerte Vorurteil, der Mensch (wenn er denn kein cleverer Unternehmer ist) sei von Natur aus “arbeitsavers”, würde also jede Gelegenheit nutzen, der Arbeit aus dem Weg zu gehen. Man sieht, wie kurz der Gedankensprung hin zu den “Sozialschmarotzern” oder gar der “römischen Dekadenz” à la Westerwelle ist. Und wie klein der nächste Schritt zur “sozialen Hängematte” und den “arbeitsunwilligen” Hartz-IV-Empfängern.Und das kommt eben leider nicht nur in den Kampfschriften eines Sarrazin vor, sondern auch in den meist wie Weihrauch empfangenen Empfehlungen der “Wirtschaftsweisen” (von denen Thieme eine mal etwas genauer auf die implizite Menschenfeindlichkeit hin untersucht) oder in jenem “Hamburger Appell”, mit dem die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und 243 deutsche Wirtschaftswissenschaftler noch kurz vor der Bundestagswahl 2005 Stimmung machten und “wirtschaftspolitische Reformen” forderten – obwohl “Hartz IV” längst beschlossen war. (Und die Schröder-Regierung dann trotzdem abgewählt wurde.) Wenn in Deutschland von “wirtschaftspolitischen Reformen” gesprochen wird, geht es fast immer darum, die Realität dem Modell eines reinen “Marktes” anzupassen.

Federführend bei diesem “Hamburger Appell” war übrigens neben den Professoren Michael Funke und Thomas Straubhaar auch ein Mann namens Bernd Lucke, eben jener, der mit der AfD den Deutschen die Abschaffung des Euro schmackhaft zu machen versucht.

Das “Prinzipal-Agent-Modell” hat noch ganz andere Folgen. Die von den deutschen Jobcentern verhängten Sanktionen sind eine davon. Übrigens erst verschärft nach den Empfehlungen der “Wirtschaftsweisen” von 2010. Dass der Vorgang gegen das simpelste Grundrecht auf ein Existenzminimum verstößt, ist schon so oft gesagt, dass man eigentlich nur noch grübelt: Warum ändert sich nichts?

Die Antwort ist wohl: Das platte Denken der reinen Wirtschaftslehre ist auch schon tief in Staat und Gesellschaft gesickert.

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An einer Stelle zitiert Thieme auch die Studien von Brähler, Decker und Co. zu menschenfeindlichen Einstellungen in der Gesellschaft. Vor fünf Jahren zeigten sich ja selbst etliche Medien noch verblüfft über das Ausmaß dieser Ressentiments in weiten Teilen der Gesellschaft gegenüber nicht nur Ausländern, Juden oder Andersdenkenden – sondern auch gegenüber den Schwächeren in der Gesellschaft, Obdach- und Arbeitslosen zum Beispiel. Und auch darüber, dass einige Phänomene der Menschenfeindlichkeit sogar zuzunehmen scheinen. Nur wurde das zumeist unter dem Aspekt des Rechtsextremismus diskutiert.

Es nur ein kleiner Verweis auf die Leipziger Forscher. Im Wesentlichen bezieht sich Thieme auf Wilhelm Heitmeyer, der sich sehr ausgiebig mit dem Thema der Verantwortung in den Wissenschaften beschäftigt hat.

Einiges an der Kritik von Sebastian Thieme legt dann natürlich die Vermutung nahe, dass menschenfeindliche Einstellungen das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung sind, in der das Konkurrenz- und Elite-Denken immer mehr an Zuspruch gewinnt und immer mehr gesellschaftliche Bereiche diesem Denken unterworfen werden. Was auch heißt, dass immer mehr Menschen den Ängsten einer permanenten Konkurrenz ausgesetzt sind. Auch in Bereichen, in denen diese Ängste eigentlich nichts zu suchen haben – vom Gesundheitswesen bis hin zu Bildung und Forschung.

Man bekommt so eine Ahnung davon, wieviel Macht das platte Modell-Denken des reinen “Marktes” in westlichen Gesellschaften schon hat. Wie es die Menschen und ihren Charakter verkrümmt – denn wer das Spiel nicht mitspielt, fliegt ja raus, landet vielleicht in “Hartz IV”, ist aber nicht gerettet, denn seit dem Geniestreich von Gerhard Schröder ist auch dort die gewünschte Angst eingebaut worden. Auch wenn die “Wirtschaft” die dort aufgefangenen Arbeitskräfte gar nicht benötigt. Aber seltsamerweise braucht der reine “Markt” sie – als Angstpotenzial für die, die in Arbeit sind.Sebastian Thieme betont immer wieder, dass seine kleine Analyse wirklich nur ein Einstieg sein kann in eine realitätsnahe Wirtschaftswissenschaft, die endlich aus ihrem Gehege der abstrakten Modelle herauskommt und der Gesellschaft diese abstrakten Modelle auch nicht immer als Allheilmittel aufzuschwatzen versucht. Ethische Diskussionen gehören unbedingt auch in die Wirtschaftslehre. Denn die Grundfrage (die deshalb auf ökonomischen Lehrstühlen derzeit auch nicht diskutiert wird) ist ja auch: Wofür leben wir eigentlich? Ist wirklich ein Konkurrenzkampf, bei dem unentwegt immer neue Verlierer produziert werden, unser aller Wunsch? Ein Konkurrenzkampf, in dem dann auch noch das Allerletzte, was wir haben, geldwert verscherbelt wird – mal nur aus der jüngeren Vergangenheit genannt: Selbstbestimmung, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, Sicherheit, Menschenwürde, …?

Diese Liste ließe sich erstaunlich lang fortsetzen. Die schlichte Erkenntnis ist: “Markt” sichert nichts von dem, sondern macht es zur wohlfeilen Ware. Da wird auch meistbietend verscherbelt, was den Verkäufern gar nicht gehört.

Wir stehen wirklich an einer Schwelle, die eine echte Veränderung verlangt.

Aber das platte Wirtschaftsdenken sitzt tief, ist auch in den Redaktionen der meisten wortführenden Medien in der Bundesrepublik tief verwurzelt. Man hat die simplen Lehrsätze alle auswendig gelernt. Und es geht den Redakteuren dieser meist auch noch schulmeisterlich auftretenden Ressorts wie so vielen Deutschen: komplexeres Denken ist ihnen ein Graus. Was durch die Fragmentierung der Medienwelt in den letzten Jahren nicht besser, sondern noch schlimmer geworden ist. Auch nicht durchs “Internet”. Denn die meisten Nutzer konsumieren dort die Häppchen aus den News-Portalen und Communitys, hinter denen – das ist Vielen gar nicht bewusst – nur eine kleine Zahl nachrichtenproduzierender Agenturen steckt. Man kopiert das Immergleiche in immer neuen Häppchen.

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Der Ökonom als Menschenfeind?
Sebastian Thieme, Verlag Barbara Budrich 2013, 12,90 Euro

Das erleichtert simplen Weltbildern die Verbreitung.

Und verhindert in Wahrheit das, was sich Mancher tatsächlich vom ach so freien “Internet” erwartet hat: einen echten, realitätsnahen und offenen gesellschaftlichen Diskurs.

Wenigstens unter Wirtschaftswissenschaftlern könnte der jetzt beginnen. Sein Buch sei eine Einladung, die alten und falschen Modelle endlich einmal ins Museum zu stellen und realistische Theorien für die Gegenwart zu entwickeln, meint Sebastian Thieme. Und recht hat er. Es ist höchste Zeit.

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