So ein 1.000-jähriges ist immer ein guter Anlass, noch einmal alles in ein Buch zu packen. Oder drei, wie es Peter Schwarz in "Das tausendjährige Leipzig" macht (wovon mittlerweile zwei dicke Bände vorliegen). Aber passt so eine 1.000 Jahre lange Stadtgeschichte auch in ein einzelnes Buch? Das auch nicht ganz so dick ist und das trotzdem in unterhaltsamer Weise das Wichtigste beinhaltet? Klaro, dachte sich der Stadtentdecker und Schriftsteller Sebastian Ringel.

Man merkt’s auch am Tonfall, dass er gewohnt ist, die Gäste der Stadt aufmunternd und anekdotenbewaffnet durch Klein-Paris zu führen und ihnen dabei auch die schrägen, dunklen, verwirrenden Seiten der Stadtgeschichte nahezubringen. Die trockenen und herrlichen sowieso, Die gehören dazu, sonst versteht man ja Stadtgeschichte nicht. Das Repertoire, das er darbietet, ist einem aus dem Angebot der Leipziger Stadtführer zum größten Teil bekannt. Die sind anerkanntermaßen ein neugieriges Völkchen, das auf jede neue Entdeckung zur Geschichte der Stadt geradezu versessen ist. Wer die Standards der Leipziger Stadtgeschichte kennenlernen will, der vertraut sich so einer Stadtführung an.

Da und dort darf er freilich auch störrisch zwischenfragen. Im Jahr 2015 natürlich erst recht. Denn die vergangenen 20 Jahre waren in Teilen ja auch Korrekturjahre. In vielen Bereichen haben Forscher aus diversen Spezialgebieten die alten Akten zum ersten Mal oder nach 100 Jahren zum ersten Mal wieder geöffnet, Daten korrigiert, Zusammenhänge geklärt, an die Stelle früherer Mutmaßungen neue Thesen gesetzt. Das ist auch für versierte Stadtbilderklärer nicht immer einfach, da jeden Schritt mitzuvollziehen und sich von lieb gewordenen Erzählungen zu trennen.

Doch bei Ringel merkt man schon, wie sehr er hinterher ist und wie er auch emsig bemüht ist, die neueren Forschungsergebnisse in seine Erzählung der Stadtgeschichte mit einzubauen. Und dabei trotzdem noch mit Farbe und Liebe zum Anekdotischen zu erzählen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, auch wenn da und dort nun nach dem Lesen doch wieder ein Fragezeichen steht. Da kann in den nächsten Jahren ganz bestimmt noch nachgearbeitet werden, denn das Buch ist jetzt – für den, der es gern kompakt hat – vorerst so eine Art Standard der geronnenen Geschichte Leipzigs. Manches Kapitel etwas kürzer oder nur angedeutet (etwa die durchaus turbulente Zeit der Weimarer Republik oder das finstere Kapitel NS-Zeit), andere dafür mit Liebe wieder erzählt, weil sie einfach die Seele der Leipziger Stadterinnerung ausmachen: “Marktplatz Europas” heißt so ein Kapitel oder “Schrebergärten und Parkanlagen”. Die Titel sind zuweilen mit Augenzwinkern, manchmal verraten sie auch gar nicht, dass – etwa in Schrebergärten – mehr drin steckt, als man von klassischen Leipzig-Büchern so kennt. Wie gesagt: Ringel versucht, die klassischem Pfade zu verlassen und viele der neuen Geschichten, die in den letzten Jahren auch in Buchform das Licht der Stadt erblickten, mit einzubauen. Und damit auch Linien zu zeichnen. Etwa am Beginn der rasenden Moderne, die in Leipzig ganz offiziell am 7. April 1839 begann – mit der Eröffnung der Ferneisenbahn nach Dresden.

“Die Seele reist zu Pferd” nennt Ringel dieses Kapitel. Und nicht nur König Friedrich August II. musste erst einmal lernen, Entfernungen in Sachsen nicht mehr in Tagen, sondern in Stunden zu denken. Er taucht im Vorspann der Geschichte auf. Jedes Kapitel versucht Ringel so zu erzählen: mit einer plastischen Schilderung um eine historisch verbürgte Person, die einführt ins Thema. Dann schweift er ab, erzählt die Fakten und Hintergründe. Und am Ende lässt er den König heil in Leipzig ankommen. Um dann im nächsten Kapitel gleich mal zum Thema Romantik und Biedermeier (mit dem romantischen Liebespaar Robert und Clara) zu kommen und folgerichtig im folgenden zur Revolution. Oder dem, was in Sachsen eben draus wurde: “Revolutionen und Revolutiönchen”.

Jedes Kapitel ist schön mit Bildern angereichert. Da und dort sind auch Karten zwischengestreut, etwa um sichtbar zu machen, wie das alte Leipzig im 19. Jahrhundert baulich fast komplett umgekrempelt wurde, wie es über seine alten Mauern hinauswuchs oder welche Schäden die Bomben im 2. Weltkrieg anrichteten. Kleine Tabellen ergänzen manches Kapitel. Da sammelt Ringel allerlei Wissenswertes (oder auch eher Spaßiges), was man so nebenbei noch wissen kann über Leipzig – etwa seine berühmten Verlage im Graphischen Viertel (“Literarischer Stapelplatz Europas”) oder die berühmten Studenten, die es im Kapitel “Goethe” natürlich nur in Auswahl geben kann. Ob sich das schönkopfische Käthchen tatsächlich erobern ließ, darf aber wohl bezweifelt werden. Das war ja eben gerade eins der Probleme des jungen Wolfgang. So groß, das er dafür in seinem ersten Bestseller sich einen anderen über den Haufen schießen ließ. In Leipziger Blau-Gelb, wie man weiß und dort nachlesen kann.

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Die ganze Welt im Kleinen
Sebastian Ringel, Edition Leipzig 2015, 24,95 Euro

Natürlich stecken auch die hübschen Legenden mit im Buch, die sich die Leipziger so gern erzählen. Auch die Neuzeit ist ja voll davon. Über den Baulöwen Schneider etwa, von dem man nicht so recht weiß: Hat er den Leipziger Sanierungsboom erst ausgelöst oder hat er nur eine dicke Chance zum Geldverdienen gewittert mit feiner Nase? Oder zur Olympiabewerbung 2004, die das Cello eines musikalischen Oberbürgermeisters für Leipzig entschied. Aber flog Leipzig in der nächsten Runde, die London gewann, nun unerwarteterweise aus dem Rennen (wie einige Medien mit breiter Brust behaupteten) oder glücklicherweise?

Am Ende versucht Ringel noch eine lustige Vision fürs Jahr 2030, wenn Leipzig sein 2.000-jähriges feiert. Dahinter steckt auch wieder eine dieser wilden Stadtführeranekdoten, die die Geführten mit der Behauptung verblüffen, Leipzig habe doch erst 1965 sein 800-jähriges gefeiert, nun schon das 1.000-jährige.

Da holt man tief Luft. Das ist wie bei Onkel Karls Geburtstagen, wenn er die alten Scherze erzählt, als wären sie ganz nagelneu. Das Jahr 2015 wäre vielleicht ein guter Anlass, ein paar von diesen alten Scherzen einfach mal in den Ruhestand zu schicken. Oder sie Otto Werner Förster zu überlassen, der sie auf seinem Blog seit einiger Zeit genüsslich auseinander nimmt.

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