Was haben sie sich nun alle den Kopf zerbrochen über diesen Paul Klee und seine Sonderklasse. Im Museum der bildenden Künste zu Leipzig ist sie derzeit zu sehen als Morgengabe zum Jubiläum der Ersterwähnung. Ein Teil zumindest: 135 Arbeiten von knapp 300, die der Künstler Paul Klee als Sonderklasse seines Schaffens klassifiziert hat. Und das Ganze auch noch in einem Mordstrumm von Buch.

Das 600 Seiten dicke Werk vom Format eines Nachtschränkchens ist mehr als nur der Katalog für zwei Ausstellungen – die im Berner Paul Klee Zentrum, wo die dortigen Sonderklasse-Bilder schon mal gezeigt wurden, – und die in Leipzig. Es ist auch ein Forschungsprojekt, das es so bislang noch für keinen Künstler gab. Auch nicht geben konnte. Denn keiner – nicht mal die kongenialen Zeitgenossen Picasso und Max Ernst – hielten es für nötig, ihre Arbeiten derart akribisch für den Kunsthandel zu klassifizieren.

Normalerweise macht das ein Galerist. Aber Klee hatte seinem Galeristen – Hans Goltz – 1925 gekündigt und wollte fortan die Kontrolle über seine Verkäufe und Ausstellungen selbst behalten. Normalerweise geben gerade erfolgreiche und produktive Künstler genau diesen Part nur zu gern ab, weil sie genau wissen, was für eine Arbeit das Versenden und Wiedereinsammeln von Bildern macht, das Abrechnen, das Verhandeln mit Käufern, das Organisieren der Ausstellungen und die Pressearbeit.

Das klingt am Rande mit an in den beiden ausführlichen Beiträgen in diesem Band, die sich mit der Entstehung der “Sonderklasse” beschäftigen und mit der Tatsache, dass – obwohl Klee die Sonderklasse-Bilder als unverkäuflich deklarierte – nach seinem Tod 1940 dennoch der größte Teil der 297 Bilder in Museums- oder Privatbesitz kamen.

Besonders intensiv haben sich mit der Materie Wolfgang Kersten, Osamu Okuda und Marie Kakinuma beschäftigt. Sie haben überhaupt zum ersten Mal in zwei Jahren intensiver Kooperation mit dem Klee-Zentrum und dem Leipziger Museum eine komplette Liste der Sonderklasse-Bilder zusammengestellt, dabei Klees alte Aufzeichnungen, Ausstellungskataloge und Ausstellungslisten durchforstet, haben sich Klees penible Buchführung genauer angesehen und auch die Bilder selbst nach den Kürzeln Scl oder Skl durchforstet. Dabei tauchte manches Bild in dieser Sonderklasse auf, das man vorher dort nicht vermutet hätte. Es wurde aber auch sichtbar, dass Klees Versuch, diese Maßstab bildende Bildauswahl seiner Grafiken festzulegen, sich tatsächlich auf die Jahre 1925 bis 1933 beschränkt, die Zeit, in der er tatsächlich die Hoheit hatte über die Vermarktung seiner Arbeiten. Die Zeit auch, als er als Lehrer am Bauhaus in Dessau und später Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf ein gesichertes Einkommen hatte.

Gerade Okuda und Kakimuda haben einen immensen Fleiß darauf verwandt, die Geschichte der 297 Bilder zu erforschen, ihre Wege in Museen und Kunstmarkt, aber auch ihre mögliche Entstehungsgeschichte. Von einigen dieser Bilder existieren nur Schwarz-Weiß-Fotografien – ihr Verbleib ist ungeklärt, andere wurden gründlich durchleuchtet und machen die Arbeitsweise des Künstlers deutlich. Wieder andere entpuppen sich als Teile größerer Arbeiten, die Klee im Arbeitsprozess einfach zerschnitten hat, weil ihm Komposition und Wirkung nicht gefielen.

In diesem Band nun sind alle 297 Arbeiten analysiert und bebildert – plus noch ein paar Bilder, die Klee sonst noch als unverkäuflich bezeichnet hat.

Aber was ist das alles tatsächlich?

Das Beste vom Besten aus rund 9.600 Arbeiten, die Paul Klee geschaffen hat? Oder so eine Art Maßstab? Ein Katalog der Grundideen, Grundmotive, Innovationen?

So richtig kommen auch die Autoren dem Phänomen nicht nahe. Das trotzdem ein Faszinosum bleibt. Gerade weil man hier – mit kluger Analyse begleitet – so eine Art Essenz der Motiventwicklung von Paul Klee vor sich hat. Und die hat es ja in sich. Es gibt wenige Künstler – auch nicht in der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts – die im Lauf ihres Lebens so viele neue und eindrucksvolle Bildlösungen gefunden haben. Unübersehbar hat Klee jedes einzelne Motiv so lange entwickelt und zur vollen Entfaltung getrieben, bis es gesessen hat. Andere Künstler schaffen 10, 20 Bilder von dieser Sorte im Lauf ihres Lebens. Allein im Konvolut der Sonderklasse aber findet man 100, 150. So ungefähr.

Und dann wird es diffiziel, weil Klee sichtlich auch Arbeiten aufgenommen hat, die er nicht bis zur Perfektion getrieben hat, die unfertig wirken, wie schnell hingeworfen. Auch ältere Arbeiten aus der Zeit vor 1925 darunter. Da können auch die drei emsigen Forscher nur rätseln, warum er sie trotzdem mit aufgenommen hat. Vielleicht – die Vermutung taucht mehrfach auf – weil es oft Arbeiten sind, in denen er Bild- und Stilententwicklungen von Künstlerkollegen aufnahm – von Chagall und Kandinsky bis Lissitzky. Er konnte das. Er hatte nicht nur den Blick für das Novum, sondern beherrschte auch die Techniken so perfekt, dass er das neu Gesehene praktisch sofort in eigene Bildfindungen umsetzen konnte.

Da und dort sind deshalb auch die Werke, auf die Klee sich motivisch bezieht, auch noch klein mit abgebildet.

War die ganze Sonderklasse also so eine Art Destillat der ausprobierten Stile?

Wohl auch das nicht. Dazu tauchen einige Motive in verschiedenen Abwandlungen – etwa seine Reisebilder aus Nordafrika – gleich mehrfach auf, ohne dass er den gefundenen Stilkanon verlässt. Hatte Klee also tatsächlich das große Bedürfnis, nicht nur seinen Wert auf dem Kunstmarkt selbst zu bestimmen, sondern auch die Kunstwissenschaft und die Kritik zu zwingen, sein Werk in seiner Weise zu interpretieren? Und nur so?

Beides, so kommentieren es die Autoren, durchaus ungewöhnlich moderne Ansätze für einen Künstler.

Oder sollte man doch eher sagen: Ein riesiger Misstrauensbeweis des in der Schweiz geborenen Künstlers gegen die Mechanismen des Kunstmarktes (und die Integrität der Galeristen) sowie gegen die Fähigkeit der Kunstkritik, sich sein Werk zu erschließen? Gar der Versuch, der Wissenschaft eine Interpretation aufzuzwingen?

Ganz schwer zu entscheiden, stellen die Autoren der Begleittexte mehrfach fest. Denn manche Bildmotive wechselten auch in Klees Wertung mehrmals die Klasse. Manches nahm er erst spät auf, obwohl es sichtlich nicht wirklich ausgereift war oder gar zu einem wesentlichen Motiv in seiner Arbeit geworden war.

Am Ende war es wohl der zum Scheitern verurteilte Versuch eines begnadeten Künstlers, sein eigener Verwalter zu sein, auch dem Betrachter seine Wertung als Klassifizierung mitzugeben. Und wenn jeder für sich sortiert, was ihn anspricht und anspringt, dann werden wohl auch nicht alle Klee-Liebhaber sich für alle Motive begeistern können. Dazu ist die Bandbreite der Stimmungen und Tonarten viel zu verschieden.

Aber was der Band natürlich zeigt, ist diese Motivbreite, die Klee in einem zuweilen atemberaubenden Tempo hingehauen hat, getrieben von einem unbändigen Hunger nach immer neuen Lösungen, Mischungen, Materialien, hingeneigt zum fast kindlichen Spiel mit Farbe und Motiven. Und dadurch ganz Künstler, der zum Spiel befreite Schaffende. Dazu will und will die buchhalterische Strenge seiner Arbeit mit der Sonderklasse nicht passen. Und das macht möglicherweise den tiefsten Riss durch Klees Leben und Schaffen sichtbar – ein unbändiges Verlangen, über das spielerische Chaos einen Überblick und die Kontrolle zu bewahren. Was ihn noch viel mehr zu einem modernen Künstler macht, der einem schon damals nicht mehr wirklich zu kontrollierenden Kunstmarkt begegnete, zu dem er sich durch seine “Sonderklasse” ins Verhältnis setzte.

Was natürlich da endete, wo die zur Macht geratenen Stiefelträger in Deutschland den Kunstmarkt völlig demolierten, um ihre nationalistische Kitschkunst an dessen Stelle zu platzieren.

Material für Klee-Forscher: ein “Klee-Extrakt”

Der dicke Wälzer ist ein systematisiertes Eintrittsportal in seine Welt, hinter der es – zum Glück – so chaotisch zugeht, wie in Klees Werkstatt. Er hat niemanden zwingen können, seine Klassifikation zum Maßstab zu machen. Viele, die sonst ratlos vor Werken der Moderne stehen, finden sich in seinen nur scheinbar naiven Bildern und Bildgeschichten wieder, die auch deshalb oft so märchenhaft wirken, weil Klee sich auf die konkreten Wirkungen von Licht, Farbe, Struktur und Dynamik konzentriert hat. Damit ist er eben nicht nur dem kindlichen Sehen sehr nahe gekommen, das seine Welt noch weitgehend unreflektiert, ohne “höhere Bedeutung” wahrnimmt, aber noch gebannt ist von der Vielfalt des Seh- und Sichtbaren. Das hat sich Klee zeitlebens bewahrt, auch wenn er sich bei manchem Bild sichtlich zwingen musste, das aus dem gewählten Stoff herauszuarbeiten.

Wer diesen dicken Wälzer erwirbt, bekommt tatsächlich so eine Art elementaren Klee-Extrakt. Schau- und Lesefutter in all den Stunden, in denen das Gemüt mal nicht so erwachsen und abgeklärt sein will, einmal auftauchen (oder abtauchen, je nachdem) aus der knochentrockenen und mit Bedeutung überladenen Welt der Buchhalter.

Die Schaffung der Sonderklasse beweist eigentlich, dass auch Klee zwischen diesen Welten lebte und wenigstens die chaotischere von beiden irgendwie beherrschen wollte – und das war nunmal (und ist es auch noch heute) die der Buchhalter.

Bestellen Sie versandkostenfrei in Lehmanns Buchshop: Museum der bildenden Künste Leipzig/ Zentrum Paul Klee “Paul Klee – Sonderklasse, unverkäuflich“, Wienand Verlag, Köln 2015, 38 Euro

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