Nachdem nun alle in Regensburg waren und sich dort köstlich mit den Kirchen amüsiert haben, geht es mit diesem neuen Ein-Tag-Stadtrundgang aus dem Lehmstedt Verlag rauf in den Norden, in die alte Hansestadt Lübeck. Diesmal gibt's nur fünf Kirchen und einen Dom auf der Rundwanderung. Dafür soviel Weltliteratur, dass der Leipziger nur staunen kann.

Der Leipziger würde natürlich nicht staunen, wenn es in seiner Stadt auch genau so eine Lobby für die Literatur gäbe wie beispielsweise für die Musik. Aber in den letzten zehn Jahren haben sich alle, die die üblichen Marketingtöpfe aufmachen dürfen, auf den Hosianna-Gesang “Musik! Musik! Musik!” versteift. Da geht am Ende unter, dass Leipzig auch eine spannende Literaturszene zum Vorzeigen hat – auch ein kleines Literaturmuseum in Gohlis.

Das nur am Rande, denn heute geht die Tour in die Stadt mit dem Holsten-Tor los, dem man nicht ansieht, dass es auf schwammigem Grund steht. Aber eine Betonplatte im Untergrund sorgt dafür, dass der hanseatische Bürgerstolz nicht auseinanderdriftet. Drinnen in der Stadt auf der Insel zwischen Trave und Elbe-Lübeck-Kanal gibt es noch mehr hanseatische Backsteinwucht. Mächtig gewaltig, würde Egon sagen, denn die großen Backsteinbauten von Rathaus, Kirchen, Dom und Speichern überragen die eher bescheidenen Bürgerhäuser wie Gebirge. Man glaubt gar nicht, in einer 200.000-Einwohner-Stadt zu sein, so gemütlich und kleinstädtisch geht es zu. Muss ja auch nicht groß sein, wenn es ehrwürdig und beliebt sein kann – wie das Lübecker Marzipan, das im Café Niederegger sein rot-weißes Flaggschiff hat.

Fährt man wegen der leckeren Marzipantorte nach Lübeck? Vielleicht. Die hindert ja nicht daran, das Budenbrookhaus zu besuchen, das Stammhaus der Familie Mann, das Sohnemann Thomas mit seinem Roman weltberühmt gemacht hat. Den Nobelpreis hat er auch dafür bekommen. So wie Günter Grass für seine “Blechtrommel”. Zwar ist Grass kein geborener Lübecker gewesen, aber er hat hier in der Nähe seinen Wohnort gesucht und in der Glockengießerstraße 21 eine Dauerausstellung bekommen. Zwei Nobelpreisträger? Nein, drei. Auch der Willy kommt von hier. Als Herbert Frahm 1913 in Lübeck geboren und bekanntlich streitbar mit Günter Grass verbunden. Viel zu oft vergessen: Willy Brandts Rolle für die deutsche Einheit, die so gern Helmut Kohl in die großen Pantoffeln geschoben wird. Die deutsche Einheit begann in den 1970er Jahren mit Willys Entspannungspolitik.

Man kann direkt aufgeregt werden bei so einem Gang durch das liebevoll erhaltene Lübeck, das nicht nur in der Mengstraße (wo das Buddenbrookhaus steht und zum Besuch einlädt) das Händlerflair des 19. Jahrhunderts bewahrt hat. Und bewahrt hat es das auch, weil schon vor 100 Jahren ein rauflustiger Apothekersohn mit ein paar Artikeln für die Zeitung dafür sorgte, dass die Lübecker anfingen, den Hausbestand als wertvoll zu betrachten. Der Bube hieß Erich Mühsam, rettete damit die Löwen-Apotheke und ging dann nach München, wo er ja bekanntlich in die Mühlen der blutigen Politik geriet.

Augenscheinlich verbinden die Autoren aus Lübeck allesamt den angeborenen Bürgersinn mit einer gewissen Streitlust. Auch der Spätromantiker Emanuel Geibel, der es sich mit seinem Münchner Dienstherren verscherzte, als er ein Gedicht auf den preußischen König schrieb. Was damals – 1868 – ein hochbrisantes Thema war: Die deutsche Einigung war seit über 50 Jahren überfällig. Und neben Hoffmann von Fallersleben war Geibel einer von denen, die das auch im Gedicht thematisierten – was ja bekanntlich von den späteren Nazis und Nationalisten kräftig umgedeutet und missbraucht wurde. Aber das Geibel-Denkmal steht noch in Lübeck. Und auch an den berühmtesten deutschen Drucker erinnern sich die Lübecker noch gern. Auch er ein Verkannter: Johann Ballhorn, Drucker des Lübischen Stadtrechts von 1586, das so von Fehlern strotzte, dass das Wort Verballhornen dauerhaft Eingang fand in den deutschen Sprachschatz. Dabei waren es wohl zwei Lübecker Juristen, die hier beim Textverfassen eifrig einen geschnasselt hatten.

Die Kirchen lässt Michael Schulze auch in Lübeck nicht aus – immerhin muss auch noch der berühmte Komponist Dietrich Buxtehude mit ins Büchlein. Aber wer neugierig ist, nicht nur aufs Literarische, auch aufs Historische, findet ein lüttes TheaterFigurenMuseum, kann sich im Marzipan-Speicher zum Marzipanbäcker ausbilden lassen, kann im Museumshafen Schiffe bestaunen und im Europäischen Hansemuseum den berühmtesten Städtebund Europas kennenlernen. Letzteres ist übrigens niegelnagelneu. Spätestens im Museumsquartier “St. Annen” erfährt man dann, dass die schnuckelige Stadt UNESCO Weltkulturerbe ist, ein Titel, den Leipzig nun wohl niemals bekommen wird, weil sich die deutschen Kultusminister nicht trauen, Leipzig auf die Antragsliste zu setzen.

Am Domkirchhof findet man auch das Museum für Natur und Umwelt, noch so ein Leckerbissen für Leipziger, die von der heimischen Politik mal wieder die Nase voll haben, denn hier kann man “auf drei Etagen spannende Einblicke in die Naturgeschichte Schleswig-Holsteins, sowie in die Lebensräume und die artenreiche Tier- und Pflanzenwelt des Lübecker Raumes” bekommen. Dasselbe könnte man im Leipziger Naturkundemuseum für den mitteldeutschen Raum hinkriegen. Aber Leipzigs Politiker tauchen auch bei diesem Thema immer wieder ab.

Können eifrige L-IZ-Leser wieder fragen: Warum guckt ihr denn nach Lübeck? Sollen doch die Lübecker herkommen! –  Nur lernt man beim Reisen in andere Städte eben auch, wie Dinge sein könnten, wenn die Bürger und ihr mächtiger Magistrat nur wollen. Nicht Alle haben Alles. Aber Manches ist nachahmenswert. Auch in Leipzig ginge es um ein Thema, das hochaktuell ist: “Natur verstehen”. Sollte man deshalb mal zum Schnökern nach Lübeck fahren? Schon wegen der Buddenbrooks lohnt sich die Reise. Und ein vernünftiges Bier soll’s auch geben.

Michael Schulze “Lübeck an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015, 4,95 Euro

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