Noch eine Hanse-Stadt? Noch eine. Auch Lüneburg war dabei, auch wenn Lüneburg nicht am Meer liegt. Sondern eher auf dem Meere. So heißt eine Straße in der niedersächsischen Stadt, die an ein Ereignis aus dem Jahr 1013 erinnert, einen heftigen Erdrutsch, der auch gleichzeitig noch eine Überschwemmung auslöste. Erwähnt wird das bei einem Burschen, den die Leipziger mittlerweile kennen: Thietmar von Merseburg.

Der Erdrutsch hängt mit dem Stoff zusammen, der Lüneburg reich und zur Hansestadt gemacht hat: dem Salz, auf dem die Stadt steht, die einst im Schatten einer Fluchtburg entstand, die dem Ort den Namen gab. Aber auch das haben die Lüneburger mit den Leipzigern gemein: Sie waren mit der ursprünglichen Namensbedeutung nicht zufrieden und schwelgten gerade in der Renaissance in der Erklärung, Lüne müsse ja von Luna kommen, die Mondgöttin müsse also Pate gestanden haben bei der Taufe des Ortes. Deswegen findet man auch die Mondgöttin und diverse Monde auf Lüneburger Straßen, Plätzen, Hausfassaden. Das wirkt putzig und könnte von Jonathan Swift stammen.

Oder von Heinrich Heine, bei dem Lüneburg zum Synonym deutscher Provinz geworden ist und die Lüneburger Heide zur langweiligen Einöde. Das Überspitzen war ja sein Metier. Aber die modernen Lüneburger haben ihm das nicht mehr krumm genommen. Seit 1901 trägt das Haus, in dem seine Eltern 1822 bis 1826 nach ihrem Konkurs unterkamen, den Namen Heinrich-Heine-Haus. Heines Bruder zahlte den Eltern die Miete und Heinrich kam ab und an zu Besuch. Und weil er sich so schrecklich langweilte, entstanden in Lüneburg einige der frechsten Lieder aus seinem bis heute berühmtesten Buch: dem “Buch der Lieder”.

Kann man sich also beim Stadtspaziergang mit Kristina Kogel so seine Gedanken machen: Ist die Stadt nun langweilig oder boten die Mädchen von 1822 so viel Stoff, dass Heine einfach nicht anders konnte, als spöttisch, sarkastisch und zu Tode betrübt zu werden?

Der andere Schriftsteller, den man mit Lüneburg in Verbindung bringt, ist Herrmann Löns, der Heidedichter, der die Lüneburger Heide gerade deshalb so schön fand, weil hier so wenig los war. So verschieden kann der Blick auf Heidekraut sein  – mal abgesehen davon, dass sich Dr. Heinrich Heine niemals freiwillig fürs Totschießen gemeldet hätte, wie das Löns 1914 tat. Was vielleicht ein guter Grund ist, den Heimatdichtern zu misstrauen und die Spottvögel etwas ernster zu nehmen.

Ansonsten ist Lüneburg ja eher ein seltsamer Ort. Indirekt auch wegen des Salzes, das die Stadt einst reich gemacht hat. Den Reichtum kann man im wirklich prächtigen Rathaus bewundern, das man bei einer Führung auch besichtigen kann. Die Herkunft des Reichtums findet man im Deutschen Salzmuseum, wo man auch erfährt, was es mit Sülfmeistern, Bar- und Sodmeistern auf sich hat. Und warum man die Salzproduktion 1980 nach 1.000 Jahren lieber einstellte, bis auf einen kleinen Rest aus dem Solebrunnen, den man für den Kurbetrieb in der nahen “Salztherme Lüneburg” abschöpft.

Denn das, was 1013 geschah und bis nach Merseburg Widerhall fand, das fand in den folgenden Jahrhunderten in verschiedener Form immer wieder statt: Der Boden über den alten Salzvorkommen gab nach. Ein ganz großer Bruch ist im Stadtbild sichtbar, andere Senkungen hatten immer wieder Hausabrisse zur Folge. So büßten die Lüneburger auch zwei Kirchen ein und müssen bei St. Michaelis weiter Obacht geben. Kristina Kogel hat die schiefen Säulen in der mehrfach gesicherten Kirche bewundert. Ist aber hier mal nicht auf den Kirchturm geklettert, weil es in Lüneburg einen viel beliebteren Aussichtspunkt gibt, auf den man steigen kann: Das ist der Wasserturm, der schon sechs Jahre nach seiner Errichtung 1907 zu klein war und den die Stadtväter schon abreißen wollten. Aber da dachten sich ein paar Lüneburger wohl: Nu is gut. Abgerissen wird nur, wenn der Boden nachgibt. Ein Verein erwarb den Turm und so kann man beglückt von oben auf das Städtchen schauen, das dem Fürstentum Lüneburg einst seinen Namen gab. In den kleinen Randglossen zum Text findet man auch die frühe Geschichte, wie das alte Herzogtum Sachsen seinen Namen verlor.

Kaiser Friedrich I. war schuld, Barbarossa genannt – das ist die Schlafmütze im Kyffhäuser, über die sich ja ein gewisser Heinrich Heine lustig gemacht hat im zweitberühmtesten seiner Bücher: “Deutschland. Ein Wintermärchen”. Er verhängte über den Welfenherzog Heinrich der Löwe die Reichsacht und zerschlug sein Herzogtum. Und damit das einst größte und mächtigste Herzogtum Deutschlands. Die ersten deutschen Könige und Kaiser waren allesamt Welfen. Den Sachsen-Titel wurden sie los und mussten sich später mit Braunschweig-Lüneburg zufrieden geben. Dafür durften sie später auf den englischen Königsthron, während sich die Wettiner diebisch freuten, dass sie aus ihren Meißnern lauter Sachsen machen konnten. So gesehen: Auch für Sachsen eine kleine Reise an den Ursprung.

Vielleicht sogar im doppelten Sinn. Denn wer den Begleitband zur Ausstellung “Leipzig. Von Anfang an” gelesen hat, hat dort auch einen Versuch gefunden, die im Mittelalter in Leipzig gesprochene Sprache zu rekonstruieren. Was fast nur aus noch existierenden amtlichen Dokumenten möglich ist. Und die Besonderheiten, die sich dort in den ersten schriftlichen Jahrhunderten finden lassen, deuten darauf hin, dass in Leipzig lange Zeit noch eine Form des norddeutschen Platt gesprochen wurde. Zumindest in den Amtsstuben. Was natürlich noch einmal bestätigt, dass die erste deutsche Besiedlung der frühen Stadt aus dem damaligen Sächsischen kam.

Viele technische Denkmale und Erinnerungen an die große Zeit der Hanse und des Salzhandels begegnen einem auf der Schleife, die die Autorin durch Lüneburg zieht: das historische Kaufhaus, in dem einst Heringe verkauft wurden, der Alte Kran, die Lüner Mühle. Der Stintmarkt heißt tatsächlich so wie der heringsartige Fisch und lädt gleichmal zum Freisitzbesuch ein. Auch das etwas, was Leipziger kennen und goutieren werden: Die gastronomische Dichte in Lüneburg soll noch höher sein als in Leipzig. Was auch daran liegen könnte, dass Lüneburg auch über eine nette kleine Universität verfügt. Universitätsstadt ohne Kneipen funktioniert einfach nicht.

Am einstigen herzoglichen Schloss, in dem heute das Landgericht residiert, erfährt man noch mehr über die Affären der Welfen – in diesem Fall aus dem 17. Jahrhundert, als Sophia Dorothea den falschen Bruder heiraten sollte und lieber mit Graf von Königsmarck durchbrannte. Den geliebten Grafen kostete es das Leben und Sophies Onkel Georg Ludwig bekam dafür 1714 den englischen Königsthron: King George.

Noch was für die Leipziger: Auch Johann Sebastian Bach war da. An der Michaeliskirche lernte er 1700, wie man in einem Knabenchor zu singen hat. Was auf den ersten Blick wie ein kleines, schmuckes Heidestädtchen aussieht, entpuppt sich beim Herumlaufen als eine Tüte voller Geschichten. Hier hat’s den berühmten Räuber Nickel List hinverschlagen, dessen Lüneburger Bubenstreich Friedrich Schiller als Vorlage für “die Räuber” gedient haben soll. Hier hat Johanna Stegen den Preußen den Hintern gerettet, als ihnen im Gefecht mit den Franzosen die Munition ausging. An der Egersdorffstraße kann man die Abbruchkante des Senkungsgebiets bewundern. Aber man muss sich nicht fürchten, vom Erdboden verschlungen zu werden – die Lüneburger haben ein feines Messnetz in Betrieb. Wenn es irgendwo knackt, wissen sie, welches Haus sie als nächstes abreißen müssen.

Aber ein Stückchen weiter – zum Beispiel Am Sande oder am Schrangenplatz – kann man sich wieder erholen von dem Schreck. Da ist wieder Lüneburger Kneipenmeile. Da kann man über Hopfen und Malz nachdenken. Eine Hausbrauerei gibt es noch in Lüneburg. Und beim Weiterlaufen kann man dann alles auf die herzhaften Gläschen schieben, auch wenn einem der Kirchturm von St. Johannis ein bisschen schief vorkommen sollte. Wer flott war beim Rundgang, kann am Ende auch noch das Museum Lüneburg und das Kloster Lüne besuchen.

Kristina Kogel “Lüneburg an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015, 4,95 Euro

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