Es gibt in Leipzig kein Haus, das jetzt besser dokumentiert ist als dieses - nicht das Neue und nicht das Alte Rathaus, Oper und Gewandhaus schon gar nicht. Dabei klingt die Adresse Bernhard-Göring-Straße 152 ganz unscheinbar. Dort steht das Haus der Demokratie. Und eine Menge Leute in diesem Haus sind froh, dass das immer noch so ist.

Denn mehrfach in den vergangenen 25 Jahren stand es auf der Kippe. Und es gab auch Zeiten, als Stadtangestellte sich alle MĂĽhe gaben, diesen quirligen Haufen von Vereinen und Verbänden samt ihrem Verein wieder rauszubekommen aus der Immobilie, die schon 2001 ihren 100. Geburtstag feierte. Damals erschien schon eine gar nicht so dĂĽnne Chronik zu diesem Haus: “Geschichte(n) eines Hauses”. Auf den ersten Blick eine schöne Chronik zu 100 Jahren am selben Fleck. Auf den zweiten Blick wurde aber schon deutlich, dass es auch eine Ermutigungsschrift war, denn die vorhergehenden elf Jahre waren alles andere als eine gemĂĽtliche Urlaubsreise gewesen. Dabei hatte es im Herbst 1989 ziemlich flott begonnen: Sogar die damalige SED (kurz darauf PDS) war bereit, die seit 1983 von der SED-Stadtleitung genutzte Immobilie an die neuen Verbände, Vereine und Parteien abzugeben, die sich im Herbst 1989 gegrĂĽndet hatten. Die saĂźen zwar ab Dezember alle mit am Runden Tisch der Stadt Leipzig, hatten aber fast alle keine ordentlichen BĂĽroräume. Während die eben noch staatstragende SED und ihre Blockschwesterparteien aus dem Vollen schöpfen konnten, waren ja die Neuen allesamt in Wohnzimmern entstanden, hatten von privater Initiative gelebt und fanden vor allem als freiwilliges Engagement statt. In der groĂźen Hoffnung natĂĽrlich, dass man nicht nur bei der Ablösung der alten Parteienherrschaft eine Rolle spielen wĂĽrde, sondern kĂĽnftig auch aktiv am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitwirken wĂĽrde.

Die Reise in die Geschichte ist heftig – heftig aufregend, auch heftig frustrierend. Denn im März 1990, mit den ersten Volkskammerwahlen, war schon alles wieder vorbei. Den Zeitungsbericht ĂĽber die “gestohlene Revolution” findet man als Faksimile im Buch – neben vielen anderen Faksimiles, die den Herbst 1989 noch einmal lebendig werden lassen. Nicht nur aus der Sicht der BĂĽrgerrechtler, die sich damals in Gruppen wie Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Neues Forum, SDP, Vereinigte Linke oder auch schon GrĂĽne Partei Leipzig zusammenfanden und alle ab dem 2. Januar 1990 im Haus zu finden waren, auch aus Sicht der damaligen SED/PDS. Was durchaus auffällt, denn die meisten Chroniken zum Jahr 1989 beschäftigen sich zwar ausgiebig mit den BĂĽrgerrechtlern, dafĂĽr haben sich nur die wenigsten Chronisten bemĂĽht, auch mal die Sicht der Entmachteten zu zeigen.

Das geschieht in dieser Chronik an einigen Stellen. Und das ist eine der vielen Seiten, mit denen dieses Buch überrascht, das mehr als doppelt so dick geworden ist wie die Chronik von 2001. Das liegt vor allem an der emsigen Arbeit von Petra Seyde, die die mehr als einjährige Recherche betreut hat und die dem Buch auch einen beeindruckend sachlichen Stil aufgeprägt hat. Man merkt sofort, dass sich die Aufregungen der 1990er Jahre, als das Haus auch mal kurz an der Insolvenz vorbeischrammte und händeringend ein vollbeschäftigter und kompetenter Geschäftsführer gesucht wurde, gelegt haben. 2001 bebte das alles noch nach, war auch die turbulente und vor allem improvisierte Anfangszeit noch allgegenwärtig.

Viele Erstmieter mussten irgendwann die Segel streichen, als klar wurde, dass auch ein Haus der demokratischen Akteure betriebswirtschaftliche Mieten nehmen musste. Mancher verkleinerte sich mit der BĂĽrofläche. Andere Mieter errangen nach Jahren des Ringens ihre alten Immobilien zurĂĽck – wie die SDP, die dann wieder zur SPD wurde und ihr altes Stammhaus in der Rosa-Luxemburg-StraĂźe bezog.

Auch Medienprojekte gab es hier, die das Leipzig der Umbruchzeit aufmischten – den Kanal X genauso wie den Forum Verlag, der nach einigen unverwechselbaren und fĂĽr Leipzig dringend notwendigen BĂĽchern verkauft werden musste. Das Medienthema in Leipzig ist ein leidiges. Bis heute.

Aber nicht nur diese vergangenen 25 Jahre hat Petra Seyde mit dutzenden Helferinnen und Helfern neu recherchiert und mit Bildern und HintergrĂĽnden zur Zeit angereichert. Sie hat auch die Zeit davor neu angepackt – mit dem beeindruckenden Ergebnis, dass die Leser des Buches jetzt tatsächlich ein ziemlich kompaktes Bild jeder einzelnen Lebensetappe des alten Hauses bekommen – angefangen mit dem Bau des Städtischen Waisenhauses in der ElisenstraĂźe (wie die Bernhard-Göring-StraĂźe damals hieĂź) von 1901 bis 1903. Und nicht nur Verwaltungsakte werden sichtbar, sondern erstmals auch lebendige Schicksale – von den verantwortlichen Leitern und Pflegerinnen im Haus und auch von einzelnen Kindern, die es bis 1928 in dieses Haus verschlug. Ihre Spuren haben sich in einigen Aktennotizen erhalten. Befragen konnte man sie freilich nicht mehr. Da kennt die Zeit keine Gnade.

Aber fĂĽr alle folgenden Etappen konnte auch auf Erinnerungen von Zeitzeugen zurĂĽckgegriffen werden, die nach 1990 den Weg ins Haus fanden und fĂĽr Interviews bereitstanden. Manchmal indirekt, weil etwa die Nachfahren von Enno Narten, der bis zum Rausschmiss durch die Nazis das zwischenzeitlich eingerichtete Lehrlingsheim leitete, Bilder und Dokumente vorbeibrachten. Eine schillernde Persönlichkeit, irgendwie “zwischen den Welten” und gerade deshalb sehr menschlich in seiner Suche nach dem richtigen Platz und – gerade in der NS-Zeit – einem Platz zum Ăśberleben.

Es bleibt nicht aus, dass in so einer Aufarbeitung auch die Zeithintergründe beleuchtet werden müssen. Das gilt auch für die frühe Kaiserzeit, aus der einige der geschilderten Kinderschicksale beim Lesen erst einmal verstören, weil man solche Strenge und Lieblosigkeit aus heutiger Kindererziehung nicht mehr kennt. Aber so nach und nach erfährt man auch, wie sehr ausgerechnet dieses von strengster Ordnung geprägte Haus für viele der untergebrachten Kinder (die nicht alle Waisen waren) auch die erste Erfahrung eines ordentlichen Lebens mit geregelter Betreuung und ausreichender Ernährung war. (Ganz am Anfang des Buches wird natürlich auch die Vor-Vorgeschichte erzählt, die bis zum St. Georgenzuchthaus am Brühl zurückreicht, wo die Stadt Leipzig über Jahrhunderte nicht nur ihre Geistesgestörten und Obdachlosen unterbrachte, sondern auch die verwaisten Kinder. Es war tatsächlich erst das 19. Jahrhundert, in dem man endlich akzeptierte, dass man Kinder in so einer Umgebung nicht unterbringen kann.)

Nach einer kurzen Nutzung als Lehrlingsheim von 1928 bis 1935 wurde das Haus wieder Kinderheim – bis 1943, als auch dieses Haus bei den schweren Bombenangriffen auf Leipzig getroffen wurde und praktisch fĂĽr 14 Jahre zur Ruine wurde.

Aber auch das Kapitel NS-Zeit fällt deutlich umfangreicher aus als noch 2001, denn hier wird nicht nur der Zugriff der Nationalsozialisten auf jede Art von Erziehung im Land sichtbar, hier wird jetzt auch thematisiert, was 2001 nur vermutet werden konnte: dass auch aus dem Kinderheim in der ElisenstraĂźe Kinder in das “Euthanasieprogramm” der NS-Medizin gerieten. Und hier ist – mit recht – eine Menge Raum gelassen zum Nachdenken ĂĽber die Verantwortung der Ă„rzte, die diese Kinder ĂĽberwiesen bekamen und ĂĽber Leben und Tod entschieden.

Aber auch das Kapitel über die Rekonstruktion des kriegszerstörten Hauses und seine Nutzung durch das Konstruktions- und Ingenieurbüro-Chemie (KIB Chemie) ab 1957 wurde wesentlich umfangreicher, was nicht nur einen Blick in die frühe (und auch da schon ressourcenklamme) DDR-Wirtschaft ermöglicht, sondern auch in die Mühen beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt. Was auch einschließt, dass die Stadt selbst hier nie die Mittel hatte, als Sanierer tätig zu werden. Was dann 1981 / 1983 die SED zum Zuge kommen ließ, die hier eine Menge Geld investierte, um die Leipziger Stadtleitung eindrucksvoll (und gut gesichert) unterzubringen. Was den Genossen aber während der Umbauzeit nicht ersparte zu erfahren, dass auch sie mit einer Materialknappheit in allen Bereichen umgehen mussten.

Vom Herbst 1989 wurden die Genossen ja bekanntlich kalt erwischt. Aber selbst die wenigen Berichte ĂĽber alle ihre Tagungen, BeschlĂĽsse und RĂĽcktritte im Herbst 1989 machen sichtbar, wie sehr die SED schon lange ein Apparat geworden war, in dem persönliche Haltungen, Ansichten und kritische Diskussionen unmöglich waren. Selbst kleinste GefĂĽhlsausbrĂĽche konnten sogar fĂĽr die “fĂĽhrenden Genossen” der Stadtleitung in ein Parteiverfahren mĂĽnden. Und als dann ab Oktober die etwas Mutigeren unter den Funktionären den Dialog suchten, sprachen sie in der Regel alle von ihren “Verfehlungen”, als hätten sie einfach aus freier Entscheidung auf Kritik, Diskussion und Realitätswahrnehmung verzichtet.

Es gibt da ein paar schöne AnknĂĽpfungspunkte, die zum Nachdenken anregen darĂĽber, was in “auf Linie” und auf “Schulterschluss” getrimmten Parteien eigentlich passiert und wie sehr der Druck der Hierarchie dafĂĽr sorgt, dass sich in diesem erstarrten Gebilde am Ende niemand mehr traut, auch nur den Ansatz einer eigenen Meinung zu haben. Irgendwie fehlt diese Analyse noch.

Die Bürger selbst haben ja immer recht schnell erfahren, was es heißt, von der geltenden Meinung abzuweichen. Und die meisten flohen dann lieber oder duckten sich weg. Aber da kam ja bekanntlich das Jahr 1989, das einige Leute so gern als ein Wunder preisen, obwohl selbst so eine simple Geschichte eines Hauses zeigt, wie das gärte und sich ankündigte. Eigentlich auch in den Rechnungen der SED-Stadtleitung. Aber gerade die Tatsache, dass diese Partei nicht selbst rebellierte, zeigt im Grunde, wie entkernt sie in ihrer Seele schon war.

Und so wird aus der scheinbar simplen Geschichte eines Hauses, das die Stadt 1901 in die seinerzeit noch recht abgelegene ElisenstraĂźe baute, auch ein Spiegel der Leipziger und der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Mittlerweile auch im 21., aber der letzte Teil bietet dann nicht mehr die zum Teil aufregenden ErschĂĽtterungen, wie sie noch die 1990er Jahre aufwiesen. Was auch an Rolf Schumann liegt, dem neuen GeschäftsfĂĽhrer, den der Verein 1995 in bedrängter Zeit ins Haus holen konnte. So ist das nunmehr 390 Seiten dicke Buch auch eine stolze Bilanz fĂĽr das, was in den letzten Jahren draus geworden ist – bis hin zu den ersten und sichtbaren Rekonstruktionen von Gebäudedetails aus der frĂĽhen Zeit, die dem Haus auch den strengen Funktionscharakter der Zwischenzeit genommen haben.

Und wer den Weg ins Haus findet, kann das opulente Werk direkt bei der Geschäftsführung im Zimmer 205 auch käuflich erwerben.

Die Chronik kostet fĂĽr die Mieter 7,50 Euro und fĂĽr alle anderen Interessenten 14,99 Euro.

Haus der Demokratie Leipzig e. V. (Hrsg) “Haus der Demokratie Leipzig. Chronik. Geschichte der Immobilie 1901 / 2015”, Leipzig 2015, 14,99 Euro

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