Es geht gar nicht um Weihnachten zu Weihnachten. Und das entdeckt man erstaunlicherweise beim Lesen von Weihnachtsgeschichten. In diesem Fall "von Frau zu Frau" gemeint, aber das ist ein Flüchtigkeitsfehler des Verlages, auch wenn die 17 Geschichten in diesem Buch alle von Frauen geschrieben wurden. Was gut ist. Was schön ist. Was es heraushebt aus dem Üblichen.

Und was natürlich deutlich macht, wie männerfixiert für gewöhnlich auch die Wahrnehmung von Literatur ist. Natürlich schreiben Frauen genauso gute Sachen wie die Männer. Haben sie schon immer getan. Aber der Fehler im Titel ist: Frauen haben nie nur für Frauen geschrieben. Und auch die hier aus verschiedenen Sammlungen zusammengetragenen Texte wenden sich nicht nur an Frauen, sondern an Leser aller Art. Nicht einmal gläubig müssen sie sein. Oder gar katholisch. Aber das ist nur ein Nebengedanke, denn wenn man den aufdröselt, kommt man sehr bald zu der Erkenntnis, dass es auch bei Religion nicht um Riten und Kulte geht, sondern um etwas, was Menschen in ihrem Alltag nicht mehr finden. Oder glauben, es nicht mehr zu finden.

Oja, wir leben in hartherzigen Zeiten, in denen das Wichtigste elf Monate im Jahr, drei Wochen und zwei Tage lang völlig unter die Räder gerät, aufgefressen wird von Dingen, die alle scheinbar wichtiger sind. Oder teurer. Oder prestigeträchtiger. Wir sind von der Rolle, aus dem Häuschen, neben der Spur, von falschen Zielen besessen, von Ängsten getrieben, von Hektik gebeutelt, von Stress regelrecht blind gemacht.

Übrig geblieben ist nur noch ein Tag im Jahr, an dem wir uns daran erinnern wollen, dass da was fehlt. Und dass damit auch unserer Gesellschaft etwas fehlt.

Und da liest man diese 17 Geschichten, erwartet tatsächlich lauter Engel, Heilige Könige, andächtige Momente an der Krippe oder dergleichen. Es gibt auch ein paar Geschichten, die tatsächlich versuchen, die gute alte Zeit zu beschwören, als wir unsere Häuser noch mit Holz beheizten, mit Kerzen beleuchteten und Kinder sich freuten, wenn eine handgeschnitzte Figur unterm Baum lag. Kindheitserinnerungen also aus fernen Tagen.

Aber tatsächlich erzählen fast alle Geschichten von so einem Hoppla, so einem Stolpern, das ihren Heldinnen und Helden passiert. So wie bei Kathrin Schmidt, die in “Heilige Abendlichtzeiten” eigentlich eine typische ostdeutsche Plattenbaugeschichte erzählt – nein, nicht wie im Fernsehen, sondern wie im richtigen Leben: eine Geschichte über die Einsamkeit einer gealterten Frau, die mit ihren paar Kröten irgendwie den Alltag meistert, sich zwar über die lauten, kinderreichen Nachbarn ärgert, aber zumindest Geduld gelernt hat, weil sie weiß, das hinter den wilden Wechseln in den großen Wohnungen nebenan auch wieder Dramen passieren ums blanke Behaupten im Leben, um Überforderung und das Auskommen in einer Welt, die mit kinderreichen Familien eigentlich nichts (mehr) anfangen kann. Bis dann ausgerechnet die Adventszeit zu einer Begegnung führt, die erst verstört und dann diese komische Tür öffnet, die man in der Regel mit allen Kräften verriegelt und verrammelt hält: Nur ja nicht mit Menschen in Kontakt kommen, die laut, unsauber, schlecht angezogen, fremd sind. Den Anderen eben.

Solche Begegnungen dominieren in den Geschichten. Manchmal mit kleinem moralischen Schluckauf, denn die Vorurteile sitzen ja tief. Man hat ja seine Bilder, nicht wahr?

Und es ist so schön einfach, mit Vorurteilen zu leben. Dann ist ja alles ganz klar und man braucht sich mit diesen Leuten gar nicht erst abzugeben. Man kann sie sich vom Leib halten, fort damit, zurück nach Syrien, oder so. Aber da liest man Geschichte um Geschichte und merkt: Es geht gar nicht um die Anderen, sondern um uns selbst. Denn hinter den Vorurteilen lauert ja immer die Berührung mit unseren eigenen Gefühlen. Wir sind hart geworden, echt coole Typen, die sich von keiner Krise und keinem Job umhauen lassen, abgebrüht wie Agent 007 (Brille gibt’s zu kaufen, coole Fresse kann man einüben).

Und das mit der Menschlichkeit, das überlassen wir den Hirten. Die sind ja dafür zuständig, nicht wahr?

Quatsch mit Soße. Auch das steckt in vielen dieser Geschichten. Das Heil kommt nicht von oben, nicht aus himmlischen Sphären und auch nicht aus emsigen Gebeten. Heil werden wir nur, wenn wir menschlich werden und wieder lernen, auf unser ganz ureigenstes Gewissen zu hören. Manchmal braucht es dazu einen Moment des Erschreckens. Charlotte Hoffmann-Hege erzählt davon in ihrer Geschichte “Der Engel”. Eigentlich geht’s hier um einen Schutzengel, jenes launige Glück, das einem manchmal in Momenten des Übermutes und der Unaufmerksamkeit den Hintern, den Kopf und das Leben rettet. Manchmal empfindet man das als Botschaft.

Aber im Grunde lautet die eigentliche, etwas unsanfte Erinnerung immer: Sei aufmerksam.

Auch in der Liebe. So eine Geschichte erzählt Mannix Flynn in “‘ne tolle Frau”.

Deswegen trügt auch das Wort “Sehnsucht” im Titel ein wenig, auch wenn sich eine Menge Leute nach dieser Nähe sehnen, nach diesem Gefühl, wirklich da zu sein und etwas verstanden zu haben. Das ist schwer zu schaffen. Zumindest, wenn man es wieder als Arbeit empfindet und nicht als Suche wie in Christa Spilling-Nökers Geschichte “Ich habe einen Stern gesehen”. Das ist eine Geschichte vom Verlaufen, Vertrauen und Finden, also von Zuversicht. Man kann was draus lernen, wenn man sich einlässt auf die Stimmung, die wir so gut kennen: sofort in Panik verfallen zu sein, wenn die Dinge sich anders entwickeln, als geplant. Sofort handeln zu müssen, irgendwas tun, zeigen, was für Macher wir sind. Und dann ohne Handy im Wald stehen. Und nirgendwo ein Weg zu sehen vor lauter Schnee.

Das alles kann natürlich an der Art und Weise liegen, wie der Verlag die Geschichten ausgesucht hat, wer nun beim Lesen gerade auf welche Geschichte aufmerksam geworden ist. Aber das ist egal. Da kann jeder zu Hause in seinem eigenen Regal nachschauen, was in früheren Weihnachtsgeschichten-Büchern für gewöhnlich gesammelt wurde. Und es läuft eigentlich immer auf Dasselbe hinaus, egal, ob Engel, Sterne oder Obdachlose drin vorkommen: auf genau jene Dinge, die uns in einer zunehmend von Hektik und Panik besessenen Welt (und das 19. Jahrhundert war darin schon genauso bescheuert wie das 21.) abgeschwatzt werden, als überflüssig gelten, gefühlsduselig und allzumenschlich. Oder um Ebenezer Scrooge zu zitieren: “Mumpitz.”

Aber die schlichte Wahrheit rieselt ja vom Himmel: Wenn wir uns nicht wie Menschen benehmen, werden wir nicht überleben. Das ist einfach so. Dann haben wir uns schon verloren, bevor wir auch nur ans Geschenke verpacken denken. Und es ist genau so: Dieser eine Tag im Jahr ist übrig geblieben, der uns daran erinnert. Da haben wir es ja herrlich weit gebracht.

17 Geschichten In den Herzen wohnt die Sehnsucht, St. Benno Verlag, Leipzig 2015, 8,95 Euro.

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