Kann man Bücher, die vor einem Vierteljahrhundert erstmals erschienen, eigentlich noch einmal besprechen? Sollte man sogar. Immer wieder. Erst recht, wenn es Bücher sind, die so unverblümt ein ganzes Zeitalter sezieren. Erstmals erschienen ist Loests Buch 1981, dann wieder 1990 - mittendrin im Trubel der Umbrüche. Geschrieben hat er das Buch viel früher. Seit 1972 versuchte Loest, sein Leben in Worte zu fassen. Und er tat es schonungslos.

Fast zehn Jahre lang quälte er sich mit dem Stoff. Immerhin war das kein Roman, auch wenn das Leben des 46-Jährigen da schon einem Roman glich: Er hatte die Hitlerzeit hinter sich, war Hitlerjunge in Mittweida gewesen, hatte sich als Werwolf gemeldet und war am Ende froh, dem Schlamassel ohne Blessuren entkommen zu sein, hatte als Lokaljournalist in Mittweida begonnen und war bis in die Redaktion der LVZ in Leipzig aufgestiegen. Da hatte auch seine Karriere als Schriftsteller begonnen. Und allein das wäre heute dicke Bücher wert, denn er hatte noch alle persönlich kennengelernt, die seinerzeit die Literaturpolitik in der jungen DDR bestimmten – die Tapferen, die Angepassten, die Funktionierenden und die Feigen, die Guten und die Schlimmen.

Er wurde Vorsitzender des Schriftstellerverbands in Leipzig, nicht ahnend, wie schnell die Funktionäre um Ulbricht daran gehen würden, nicht nur im Land, sondern auch in der Literatur ihre Linie durchzudrücken. 1953 rasselte er erstmals mit den herrschenden Hardlinern zusammen – nicht mit seinem Artikel in der LVZ, den die dortige Redaktion verstümmelt hatte, sondern mit einem Beitrag im Börsenblatt, der im ganzen Land Furore machte. Für einen kurzen Augenblick schien möglich, dass auch die DDR sich der Diskussion stellen, sich wirklich demokratisieren würde und die besten Köpfe einbeziehen würde in die Gestaltung des Landes.

Aber Loest merkte bald, dass der Stalinismus tief saß und gerade die Gruppe um Ulbricht keineswegs bereit war, von den angelernten stalinistischen Verhaltensweisen zu lassen. Im Gegenteil: Wer nach dem 17. Juni 1953 den Mut gefunden hatte, jetzt eine offene Diskussion zu fordern, merkte schnell, wie sich die Atmosphäre wieder abkühlte, jede Diskussion auch in der herrschenden Partei abgewürgt wurde und fortan jeder, der derart unangenehm aufgefallen war, unter strengerer Beobachtung stand. Und wo der junge Loest noch glaubte, bis 1956 hätte sich das Ganze entspannt, wäre Gras drüber gewachsen, fachten die Ereignisse in Budapest und der XX. Parteitag der KPdSU mit der Geheimrede von Chrustschow die Diskussionen wieder an. Wieder keimte gerade unter den jungen Kommunisten, zu denen sich Loest als Parteimitglied zählte, die Hoffnung, jetzt würde sich etwas ändern, jetzt würde der alte stalinistische Geist endlich ausgekehrt, jetzt käme auch endlich die immer versprochene innerparteiliche Diskussion in Gang.

Doch es war wie 1953: Die echten Stalinisten in der Partei – und dazu zählten auch die Leipziger Funktionäre Fröhlich und Wagner – dachten gar nicht daran, auch nur einen Teil ihrer Macht aus der Hand zu geben. Und wieder war es die Parteizeitung LVZ, in der die Kampagne gegen Erich Loest losgetreten wurde. Detailliert schildert Loest, wie das damals funktionierte, wie ein paar anonyme Anschuldigungen genügten und ein Prozess in Gang kam, der den kritischen Autor mitten hineinverstrickte in die konstruierte Legende eines geplanten Umsturzes in der DDR. Die Mechanismen kennt man heute nur zu gut, denn in Dutzenden Büchern über Stalin wurde mittlerweile erzählt, wie der Geheimdienst und die Schauprozesse funktionierten, all die Dinge, die Chrustschow in seiner Geheimrede angesprochen hatte. Loest erlebte es dann am eigenen Leib, wie ein solcher Schauprozess mit einem dienstbaren Staatsanwalt (Mach hieß der Bursche) funktionierte, wie Leute, die sich vorher nicht mal gekannt hatten, zu einer Verschwörergruppe erklärt wurden und zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden.

Loest erzählt von der quälenden Zeit in der Untersuchungshaft in Leipzig und Halle, von seiner Verblüffung über die gleichzeitige Durchschaubarkeit und Perfidie des Spiels, das da mit ihm gespielt wurde. Die lange Haftzeit in Bautzen II gab ihm dann endgültig tiefe Einsichten in das Wesen und die Schwäche von Menschen, aber überlebt hat er die Zeit wohl nur, weil seine Frau Annelies zu ihm hielt und weil er sich nicht brechen ließ, sondern seinen Dickschädel behielt, diesen störrischen Kopf, der lieber gegen die scheinheilige Gummimentalität der kleinen und größeren Machthaber anrannte, als sich wegzuducken und so zu werden wie nur allzu viele in diesem Land, die lieber vergaßen, verdrängten, sich kleinmachten.

Man ahnt, wie schwer es Loest gefallen sein muss, diesen Stoff ab 1972 nach und nach zu verarbeiten. Bis 1981 arbeitete er daran. Und man darf durchaus staunen, mit welcher Klarheit er das alles erzählt – einer Klarheit, die die meisten seiner Schriftstellerkollegen auch 1989 noch nicht hatten, die meisten Parteifunktionäre sowieso nicht. Und man denkt immer wieder daran: Was hätte dieses Buch eigentlich bewirken können, hätte 1981 ein DDR-Verlag den Mumm gehabt, es zu veröffentlichen?

Wobei das natürlich viel zu viel der Hoffnung ist, denn nach wie vor gab es die amtliche Genehmigungsbehörde, die wie selbstverständlich dafür sorgte, dass Bücher, die auch nur den Hauch einer Kritik an den bestehenden Verhältnissen äußerten, entweder nie erschienen oder erst mit jahrelanger Verspätung. Und mit dieser nach wie vor funktionierenden Zensur und der Dünnhäutigkeit der Funktionäre war Loest ja 1978 schon wieder zusammengekracht. Da hatte man ihm zu seinem Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ richtig Ärger gemacht. Doch diesmal verhielt er sich anders als 1953 und 1956, als er noch glaubte, um seine Mitgliedschaft in Partei und Schriftstellerverband kämpfen zu müssen, anders auch als 1964, als er nach seiner Haftentlassung gar nicht daran dachte, das Land zu verlassen und den alten Stalinisten das Feld einfach zu überlassen. Diesmal trat er selber aus und ging 1981 in die Bundesrepublik, so wie schon viel früher Gerhard Zwerenz und noch viel früher schon Wolfgang Leonhard, dessen Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ bei der Anklage gegen Loest eine Rolle gespielt hatte, obwohl er es nach eigener Auskunft nie gelesen hatte. Die DDR hat ihre Revolutionskinder nicht nur entlassen, sie hat sie regelrecht zermahlen und in den 1950er Jahren systematisch in den Westen verjagt. Loest lebte ja mitten an einem dieser Hotspots des noch kritischen Denkens – an der Leipziger Universität waren Bloch und Mayer tätig, die freilich Ende der 1950er Jahre genauso zu spüren bekamen, was die alten Stalinisten unter „Abweichlern“ verstanden.

Loests „Durch die Erde ein Riß“ gehört wie selbstverständlich neben Leonhards Buch – und genauso gehört Horst Bieneks „Die Zelle“ hierher. Und es bleibt das Bedauern, dass dieses Buch 1981 im Westen erschien, erst bei Hoffmann & Campe, dann 1990 im Linden-Verlag, der da gerade mit seinem Hauptautor nach Leipzig übersiedelte, die Stadt, die Loest mit großen, erfolgreichen Romanen aus der Ferne beschrieben und gefeiert hatte. Als er wiederkam, waren die Stalinisten entmachtet – und die wissbegierigen Leipziger hatten sich „Völkerschlachtdenkmal“ (1984) und „Zwiebelmuster“ (1985), wo sie konnten, unter der Hand besorgt. „Nikolaikirche“ (1995) und „Reichsgericht“ (2001) waren dann von ganz allein Bestseller. Loest wurde Ehrenbürger. Seine Bücher wanderten ein bisschen und sind nun – als Lizenz – beim Mitteldeutschen Verlag zu Hause, der sie in recht preiswerten Paperbacks herausgibt, so dass jeder, der die älteren Ausgaben verpasst hat, jetzt die Chance hat, sich alles zu besorgen und zu lesen (Die Hardcover-Ausgaben gibt es weiter vom Linden-Verlag.)

Und eben auch dieses sehr persönliche Buch, das eben nicht nur Zeit und Gesellschaft schildert, sondern auch immer Selbstreflexion ist. Allzu viele Autoren gibt es nicht, die so intensiv der Frage nachgegangen sind, wie verführbar man eigentlich ist für Kult und Denkweisen totalitärer Regime – gerade als junger Mensch, wie schwer es tatsächlich ist, sich eigene Denkweisen zu erarbeiten und seinen kritischen Kopf zu bewahren, wenn auf das kritische Denken mit staatlicher Repression reagiert wird.

Ist das nun lange her? Erledigt mit dem Mauerfall 1989? Oder erzählt Loest eigentlich von viel mehr als nur dem Wahnsinn des installierten Stalinismus? Immerhin begleitet man ihn ja durch die tiefsten Krisen, aber auch durch jene Momente, in denen er von Zuversicht überwältigt zu offenen Worten greift, überzeugt davon, dass eine lebendige Gesellschaft nur mit offener Diskussion zu haben ist, mit ehrlicher Fehlerbenennung und gemeinsamem Lösungsuchen. Die Stalinisten von 1957 haben ihm das als Staatsverrat ausgelegt.

Wie wäre dieses Buch eingeschlagen, wenn es 1981 in der DDR hätte erscheinen können? So geriet es nur unter all die „verbotenen“ Bücher, die ins Land geschmuggelt wurden und im Stillen ihre Wirkung taten, ein bisschen Mut verbreiteten und ein wenig von dem widerständigen Geist, der 1989 dem ganzen Maskenzauber ein Ende bereitete. Aber das Gefühl bleibt trotzdem: Zu Ende ist das alles nicht, es wurde nur wieder ins Regal geräumt, das Volk rannte gleich weiter ohne innezuhalten und sich seiner Verbiegungen bewusst werden zu wollen. Die Gefährdungen der Geschichte entstehen nicht, weil kleine Möchtegern-Funktionäre die Gelegenheit zur Machtausübung bekommen, sondern weil die Verletzungen der Vergangenheit einfach vergessen werden, verdrängt, ignoriert.

Hätte 2013 beim Wettbewerb um das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal ein Künstler nur einen tiefen Riss quer durch den Leuschnerplatz gezeichnet, es hätte die Botschaft unübersehbar gemacht (auch wenn der Vers aus einem Stalin-Gedicht von Johannes R. Becher stammt). 1989 war die ostdeutsche Gesellschaft noch genauso zerrissen wie 1953 – doch die alten Diener wurden zu neuen Dienern, die Masken wurden gewechselt und die Widersprüche wurden einfach zugekleistert. Darauf stand zwar nun kein Zuchthaus mehr. Aber was passiert eigentlich mit diesen alten Verwerfungen, wenn sie einfach nur ausgeblendet und weggedrückt werden?

Die Frage ist nicht beantwortet, das Buch also auch auf seltsame Art immer noch hochaktuell.

Erich Loest Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 14,95 Euro.

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