„Stationen“ nennt sich die kleine Reihe aus dem Morio Verlag in Heidelberg, die nicht ganz grundlos ans Reisen erinnert. Im doppelten Sinn. Denn nicht nur die Leser werden angeregt, auf den Spuren berühmter Personen auf die Reise zu gehen und dabei deutsche Städte mit Fokus auf die eine berühmte Person hin zu betrachten. Auch die Berühmten sind ja einst gereist. Und machten – mal kürzer, mal länger – zum Beispiel auch in Leipzig Station.

Manchmal verschmelzen dann die Geschichte der Stadt und das Leben der Persönlichkeit. Manchmal sind es nur Begegnungen, die im Werk der Reisenden Niederschlag fanden – so wie Mark Twains Aufenthalt in München oder Kleists Aufenthalt am Rhein oder die Hamburg-Aufenthalte Heinrich Heines, den man ja sonst eher mit Düsseldorf, Berlin oder Göttingen in Verbindung bringt. Ein Glück, dass das Reisen manchmal regelrecht zum Berühmtsein gehört. Man denke nur an die vielen Orte Mitteldeutschlands, die sich rühmen können: „Goethe war hier!“ oder „Luther war hier!“

Das Bezaubernde an der Reihe ist: Sie rückt auch wieder Personen ins Blickfeld, die sonst eher vergessen werden. Etwa wenn man an Weimar denkt: Goethe, Schiller, Wieland, Herder … Wer denkt da an die kleine Goethe-Verehrerin Bettine von Arnim? In dieser Reihe ist sie als Weimar-Besucherin bedacht, genauso wie Schopenhauer in Gotha oder Voltaire ebendort. Voltaire? Gehört der nicht nach Potsdam? Und was macht Goethe in Heidelberg?

Die Heidelberger werden es wissen.

Eher verblüfft es, dass Leipzig noch nicht mit derlei Kurz-verweil-Berühmten in der Reihe vertreten ist, dafür nun mit zwei Musikussen, ohne die das heutige Selbstverständnis der Stadt als Musikstadt (etwas anderes scheint es gar nicht mehr zu geben) nicht mehr denkbar ist. In Nr. 12 der Reihe wurde das Wirken von Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig gewürdigt. Und in Nr. 21 würdigt nun der Weimarer Autor Thomas Bickelhaupt die 27 Jahre des Johann Sebastian Bach in Leipzig. Mit Bach hat er sich schon mehrmals beschäftigt – so auch mit einem Reisebuch, in dem er den Spuren Bachs folgte (Stimmt schon: „Bach war hier!“).

Aber wie presst man die 27 Wirkungsjahre als Thomaskantor in Leipzig in so ein Büchlein? Gibt es da überhaupt noch Neues zu erzählen?

Manchmal kommt es auch nur auf das Wie des Erzählens an. Und aus Weimarer Sicht kann man das mit einiger Distanz tun, die die Leipziger Anhängerschaft naturgemäß nicht hat, auch wenn es im Grunde dieselben Anekdoten und Ereignisse sind, die auch den Leipziger Erzählkanon ausmachen. Der kein erstarrter ist. Das vergisst man leicht, wenn ein neuer Forschungsband über den anderen gelegt wird. Das Bach-Bild verändert sich. Und zwar nicht nur in Leipzig. Ein Aspekt, auf den Bickelhaupt im hinteren Teil seines Buches eingeht, wenn er auf die vielen Versuche insbesondere im 20. Jahrhundert eingeht, Bach und Thomanerchor ideologisch zu vereinnahmen.

Es stört sogar. Man glaubt es kaum. Wie müssen sich da die Leute gefühlt haben, die sich diesen wortknödelnden Einvernahmen der jeweils Mächtigen ausgesetzt sahen?

Tatsächlich haben die intensiven Forschungen zum eigentlich briefschreibfaulen Johann Sebastian in den vergangenen 30 Jahren erst wieder ein sehr dichtes, lebendiges Bild von diesem Mann gezeichnet, das mit der ideologischen Überhöhung („deutsches Genie“ und ähnlicher Quatsch) nichts mehr zu tun hat, das den selbstbewussten Mann wieder zeigt als streitbar, stolz, qualitätsbewusst. Ein Typ, wie er eigentlich in die Reihe der anspruchsvollen Thomaskantoren gehört, wie sie Leipzig seit dem 17. Jahrhundert in ununterbrochener Reihe hatte. Als ihn die Leipziger 1723 beriefen, musste der Köthener Hofkapellmeister schlicht davon ausgehen, dass sie weiterhin einen Thomaskantor haben wollten, der in den Leipziger Kirchen die Musik auf höchstem Niveau pflegte.

Und so beiläufig fragt man sich, wie eigentlich Telemann reagiert hätte, wenn die Leipziger Obrigkeit mit ihm so umgesprungen wäre wie mit diesem seiner Fähigkeiten bewussten Bach? Denn Telemann war ja eigentlich der Wunschkandidat Nr. 1 fürs Thomaskantorat gewesen und kam nur deshalb nicht, weil die Hamburger ihm das Salär deutlich erhöhten. Der Leipziger Rat hatte deutlich signalisiert, dass er in diesem Amt einen Musiker erster Wahl haben wollte – und dann ärgerte man diesen Bach mit lauter Kleinlichkeiten und Schulmeisterei.

Und Bickelhaupt erzählt natürlich auch, dass dieser Kantor gute Gründe hatte, um seine Rechte und Einkünfte zu kämpfen, denn er hatte eine große Familie zu ernähren. Und dafür hat er sich auch ein Arbeitspensum auferlegt, bei dem heutige städtische Angestellte wohl in den Streik treten würden.

Bickelhaupt zeigt, wie diese Stadt mit ihrem erwählten Kantor fremdelte – sogar dann noch, als seine musikalische Meisterschaft weit und breit ausstrahlte. Er erzählt aber auch, wie Bachs Wirken nicht in Vergessenheit geriet – auch wenn das eine der von Abschreibern gern erzählten Legenden ist. Seine Nachfolger im Kantorat pflegten sein Werk, für die Ausbildung des Thomanerchores gehörte es zum Standard. (Dabei wurde der Knabenchor damals noch gar nicht so genannt, das kam erst im 19. Jahrhundert.) Es ist eine andere Aneignung, die mit Felix Mendelssohn Bartholdy in Gang kam. Der machte nämlich erst einmal begreifbar, dass Bach eben doch nicht nur ein Komponist für Kirchenmusik war – auch wenn die Gottesfurcht zentrales Leitmotiv seiner Kompositionen war. Mendelssohn war es, der Bach als einen Komponisten wahrnehmbar machte, dessen Musiksprache viel universaler war als nur für den Kirchenraum gültig. Und das sehen seit Mendelssohn auch die Leipziger so. Sie pilgern in die Motetten und Passionen auch dann, wenn sie nicht die Spur religiös sind. Und sie hielten diesem Bach auch in Zeiten der Diktatur die Treue.

Weil Bickelhaupt gezwungen ist, die durchaus heikle Beziehung von Bach und Leipzig konzentriert auf 70 Seiten zu erzählen, ist er auch zur Verdichtung gezwungen. Das macht einige Motive deutlicher, die man sonst in dicken Biografien eher übersieht. Es stimmt schon: Bach war in Vielem auch einer, der den vorgegebenen kirchlichen Rahmen sprengte. Auch das verstörte die eher hausbackene Obrigkeit (von einigen klugen Fürsprechern Bachs abgesehen), die schon die Überflutung der Kirchenräume mit religiösen Opern befürchtete. Der strenge sächsische Protestantismus hatte mit Überschwang oder gar der gewaltigen Inszenierung großer Gefühle immer seine Schwierigkeiten. Das musste erst reifen.

Und es musste auch anderswo erst die Erkenntnis reifen, dass man Dinge auch bewahren muss, retten auch vor der Zerfledderung, was bei Bachs Nachlass nur zum Teil gelungen ist. Deswegen sind ja die Forscher heute so emsig dabei, jede auch noch so vage Spur in den Archiven zu finden, die etwas mehr Licht in Leben und Werk des Thomaskantors bringen könnte. Mittlerweile ist die ganze Bachfamilie zum Untersuchungsgegenstand geworden. Und das Leipziger Bach-Fest hat sich zu einem international wahrgenommenen Wettstreit der Interpretationen entwickelt.

Beethoven war es, der den saloppen Spruch mit dem Meer aufbrachte. Aber wenn man das Ganze so kompakt liest, fällt einem eher ein großer, riesiger Mammutbaum ein, an dem sich nun seither Komponisten, Musiker und Wissenschaftler reiben, dran rütteln, drauf herumklettern und am Ende doch alle still in den Ästen sitzen und zuhören, wie das rauscht.

Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte Bach eine ernstzunehmende Abwerbung bekommen und Leipzig wieder mit zwei Kutschen und vier Lastkarren verlassen. Die Leipziger hätten sich vor Wut in die Taschentücher gebissen. Nachträglich und noch 300 Jahre lang. Und nur die üblichen Rechthaber hätten für sich befunden, dass man Ungehorsam auch von einem Thomaskantor nicht dulden könne. Wo kämen wir da hin?

Na ja. Manchmal direktemang nach Leipzig.

Thomas Bickelhaupt: Johann Sebastian Bach in Leipzig, Morio Verlag, Heidelberg 2016, 7,95 Euro.

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