Aus dem Kindergartenalter sind sie raus, die wilden Zwerge, die das Autorentrio Meyer/Lehmann/Schulze für eine ganz besondere Serie im Klett Kinderbuch ersonnen hat. Oder dem Leben abgeguckt. Wer heutzutage Kinderbücher macht, muss ja die Zwerge nur beobachten und erlebt sie da manchmal in nur zu berechtigter Opposition zu dem, was Erwachsene so denken. Das hört auch in den ersten Schuljahren nicht auf.

Eigentlich später auch nicht, nur reagieren Erwachsene dann meist denkbar gestresst und schimpfen über die unerzogene Jugend, ohne auch nur eine Minute lang daran zu denken, dass man vielleicht völlig falsche und dumme Erziehungsziele gesetzt hat.

Und so kommt das Buch wie eine scheinbar ganz einfache lustige Geschichte daher. Die 1c soll zum Sportfest antreten, rennen, springen, werfen. Und natürlich ist Richard gleich Feuer und Flamme. Er ist der Usain Bolt in der Klasse, trainiert schon im Verein und sein Ego platzt beinah vor Stolz – wie bei den großen Sportstars. „Jaaa, ich gewinne!“, schreit er schon bei der Ankündigung des Wettkampfs. Und die Sache beginnt schon einmal zu eskalieren, als Richard und seine Mannschaft im Staffellauf gewinnen, die nicht so großen und nicht ganz so flotten Kinder aber werden Letzte. Da poltern dann die Vorwürfe, Schmähungen und Beleidigungen. Die Sache könnte für die Zwerge regelrecht zur Rauferei werden, wenn sie da nicht am Nachmittag eine witzige Idee hätten.

Und man glaubt es dem Autorengespann gern, dass sie auch diese Geschichtenidee direkt dem Umfeld der Knirpse verdanken. Denn richtig Ärger damit, im Sport nicht die Nr. 1 zu sein, haben ja viele Kinder, nicht nur die Dicken, Kleinen und Langsamen. Und sie werden vom früh einsetzenden Leistungsdruck frustriert. Und nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie im Sport, im Grunde der Inkarnation dessen, was unsere Gesellschaft als Wertvorstellung hat: Siegen kann immer nur einer. Eine ganze Gesellschaft wird frühzeitig darauf gepolt, dass das Leben ein Wettkampf ist und dass nur der gewinnen kann, der sich rücksichtslos gegen alle anderen durchsetzt. Und dabei auch noch eine große Klappe hat – wie Richard.

In diesem Fall nehmen die Zwerge der Sache völlig die Spitze, weil sie heimlich etwas völlig anderes trainieren und am Tag des Sportfestes auch die geltenden Regeln für sich außer Kraft setzen. Dazu braucht man Freunde. Das geht nicht allein. Freunde, die vor allem auch gelernt haben, die Schwächeren, Dickeren und Langsameren unter sich zu akzeptieren, wie sie sind. Eigentlich eine viel wichtigere Lernaufgabe als das schulische Training auf den einsamen Sieg.

Und so mancher längst Erwachsene wird sich da an seine ersten Zeiten in diesem „Höher! Schneller! Weiter!“-System erinnern, in dem der untergegangene Olympiasieger DDR genauso steckte wie der allein siegreiche Westen. Beide haben Belohnungs- und Hierarchiesysteme entwickelt, in denen Durchsetzungskraft, Rücksichtslosigkeit und absoluter Siegeswillen die Grundbedingung für gesellschaftliche Belohnung waren und sind. Ein System, das bekanntermaßen auch zu Charakterlosigkeit, Opportunismus und Ellbogenmentalität führt. Wer sich seine Position erkämpft hat, indem er Andere, Schwächere besiegt hat, der wird wenig bis gar kein Verständnis für all jene aufbringen, die in diesem „Kampf“ unterlegen sind. Im Gegenteil: Dann sind all die Phänomene zu beobachten, die als Sozialdarwinismus und Elitedenken unsere Gesellschaft zermürben, schäbig, hässlich und abstoßend machen.

Zu weit gedacht über diese kleine, am Ende humorvolle und einfach vom Spaß am etwas anderen Sieg getragenen Geschichte? Wahrscheinlich nicht. Die Zwerge gewinnen dabei auf jeden Fall etwas, was sie bei härtestem Training nicht bekommen könnten. Und so beiläufig wird die riesige emotionale Kluft deutlich, die zwischen den beiden Grundphilosophien in unserer Gesellschaft besteht – zwischen dem antrainierten unbedingten Willen zum Sieg auf der einen Seite, der direkt in den Sieger-Egoismus derer führt, die sich am Ende auch alles nehmen, was es einzuheimsen gibt, und dem solidarischen Verhalten auf der anderen Seite, bei dem sich die scheinbar Schwächeren nicht nur gegenseitig helfen, sondern auch akzeptieren, dass ihre Mitstreiter auch dann wichtig und wertvoll sind, wenn sie keine Usain Bolts sind.

Dass das so früh einsetzt und das Training zum Siegersein schon in den unteren Klassen die Kinder verstört, entmutigt und ratlos macht, das hat man später beinah vergessen, wenn man das irgendwie als Lebensregel verinnerlicht hat. Aber nun liest man das, findet es spaßig und merkt erst beim Drübernachdenken, dass die Geschichte eigentlich ans Eingemachte geht.

Was würde eigentlich passieren, wenn wir unsere Kinder nicht mehr auf Kampf und Sieg trainieren würden, sondern eine Schule hätten, in der alle Talente, Fähigkeiten und Persönlichkeiten gleichermaßen gefördert würden? Denn darum geht es am Ende.

Das wäre ein Mentalitätsbruch, keine Frage. Und man ahnt, dass sich die Bildungspolitik hierzulande deutlich ändern müsste. Aber wie macht man das mit Entscheidungsträgern, die alle nur gelernt haben, dass nur Siegertypen gebraucht werden?

Kann es sein, dass deswegen das solidarische Denken in diesem Land so auf den Hund gekommen ist?

Kann sein.

In Kindergeschichten  kann man das noch erzählen mit einem richtig fröhlichen Finale.

Aber wie würde so eine Geschichte für die Ausgewachsenen aussehen? Die nun einmal ein Leben lang gelernt haben, dass Fehler nicht verziehen werden und Schwächen bestraft?

Eine ganz und gar offene Frage.

Worauf man nur immer kommt, wenn man derart scheinbar harmlose Kinderbücher liest …

Meyer, Lehmann, Schulze: Die wilden Schulzwerge. Das Sportfest, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2016, 8,95 Euro.

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