Am Ende ist man froh, dass die Sache zu Ende ist – und das 730 Seiten dicke Buch auch. Aber irgendwie hatte Matthias Hirth wohl tatsächlich Dostojewski vor Augen, seinen eindrucksvollen Wälzer „Schuld und Sühne“, der seit 1994 in der deutschen Übersetzung „Verbrechen und Strafe“ heißt und satte 760 Seiten dick ist. Ein mörderisches Buch, wie man weiß. Mit einem am Ende ja bekanntlich einsichtigen Helden.

Dieser Raskolnikow ist mittlerweile ja sprichwörtlich geworden, sein „Problem“ eigentlich auch. Wie geht man mit einer Welt um, deren Wert man nicht zu teilen scheint? Die unvollkommen ist, geradezu lächerlich? Es ist das Dilemma des modernen Individualismus, der sich nicht mehr in den alten Werten und Moralvorstellungen definieren möchte, sondern sich über diesen ganzen Klumpatsch erhebt? 1866 erschien Dostojewskis Roman. In gewisser Weise ist „Lutra lutra“ also auch so eine Art Versuch, das Jubiläum zu reflektieren und die Lösung des russischen Meisters mal wieder völlig über Bord zu schmeißen. Denn bei Dostojewski gibt es ja bekanntlich noch das erlösende Moment, dass der in seinen wilden Kopfdebatten versunkene Raskolnikow wenigstens mitbekommt, dass der Reichtum der von ihm so verachteten Gesellschaft gerade darin besteht, dass sich das Miteinander der Menschen nicht auf ein intellektuelles Schwarz/Weiß, Gut/Böse beschränkt.

Nur: Hat Fleck, der Held in Hirths fettem Roman, der um den Jahreswechsel 1999/2000 handelt, überhaupt das Zeug zu einem Raskolnikow? Oder zu einem Intellektuellen? Ist das eigentlich die Gesellschaft von heute, der er in den ersten vier Teilen dieses Buches begegnet? Eine nicht ganz unwichtige Frage, die spätestens auftaucht, wenn Fleck kurz vorm Jahreswechsel sinniert: „Die Gesellschaft, in der er lebt, erscheint ihm wie eine Halluzination, ein Potemkinsches Dorf, geschäftige Bewegung auf leerer Oberfläche, eine große Werbeveranstaltung für ein unverkäufliches Produkt.“

Das sind schon Formulierungen, die Raskolnikow nie benutzt hätte, auch wenn er seine, die russische Gesellschaft des zaristischen Russlands als genauso belanglos und oberflächlich empfand und sich irgendwann genötigt sah, eine aufsehenerregende Tat zu tun. Ein Moment, in dem natürlich so manches von der heutigen Gier nach einem Stück von Ruhm, Aufsehen und Aufmerksamkeit steckt. Die heutige Selbstentblößung und mediale Zerstörung aller Tabus haben ja damit zu tun. Dostojewski merkte früher als andere, welch neues Unbehagen sich da im Pelz des alten Unbehagens zusammenbraute. Sein Raskolnikow ist ein moderner Typus mit einer alten Not: Wie wird das Leben wesentlich und richtig?

So weit geht aber dieser Fleck nicht, dem das Erbe seiner Großmutter etwas erlaubt, was nur wenigen Normalsterblichen vergönnt ist: den Job zu kündigen und sich einfach mal richtig Zeit zu nehmen, das Leben zu genießen. Und vielleicht auch mal aus der Betrübnis zu kommen, die die gerade krachend gescheiterte Beziehung hinterlassen hat. Davon leben ja heute jede Menge Selbstzerfleischungsromane, in denen Männer versuchen herauszubekommen, warum ihre Beziehung in die Binsen ging, warum alles, was sie getan (oder unterlassen) haben, nicht genügte und das auf einmal ein riesiges Loch ist.

Fleck versucht es dadurch zu schließen, dass er andere Abenteuer sucht und auch erst mal seine homosexuelle Seite auszuleben beginnt, anfangs zaghaft, bald immer rücksichtloser, heftiger, zielloser. Wären da nicht immer wieder seine seitenlangen Überlegungen über die Freiheit, die Selbstbestimmung, die emotionale Abhängigkeit, Macht, Treue und Erfüllung, man würde diese Dauerschleife der sexuellen Marathons einfach wegblättern. Die sexuellen Ausschweifungen machen tatsächlich so ungefähr zwei Drittel des Buches aus und gehen eigentlich völlig am Thema vorbei. Nicht unbedingt an Flecks Thema. Denn dass er sein „richtiges“ Ich nun ausgerechnet auf dem Weg der sexuellen Erfüllung sucht, hat ja gerade mit der Gesellschaft zu tun, die er als so hohl empfindet, eine Gesellschaft, die den Sex völlig überhöht hat zu Leistungssport, in dem sich der Drang zu Macht und Besitz auf die ganz körperliche Art manifestiert. Und wo der Sexpartner nicht nur zum Sex-Objekt wird, sondern sich selbst zum Objekt macht und konsumieren lässt.

Logisch, dass Fleck in diesem Irrentanz nicht zufriedener wird, sondern immer unzufriedener, weil ihn selbst Beziehungen, die wieder emotionale Nähe bedeuten würden, nicht mehr berühren. Statt den Gleichklang mit sich und seinen hechelnden Wünschen zu finden, ist er in einer riesigen Sex-Fress-Schleife gelandet, in der nur noch zu gelten scheint: „All you can eat“. Ein Werbespruch, der ja nicht ganz zufällig auftaucht, nachdem man sich schon fast 400 Seiten durch die eigentlich nur frustrierenden Wechselbekanntschaften des Burschen gearbeitet hat.

Dabei hat er nicht nur andere Männer verführt (und eiskalt abserviert, wenn sie ihm zu anhänglich wurden), sondern auch den einäugigen Meinhard kennengelernt, eine schillernde Gestalt – selbst ein alter, fast chancenloser Schwuler, aber in seinem intellektuellen Schlagabtausch mit Fleck auch eine Art Mephisto, der ihn regelrecht zu durchschauen scheint und wohl auch wirklich durchschaut, denn als Mann im Abseits hat er Zeit zum Beobachten. Erst spät bekommt Fleck mit, dass er sich von den meisten Bekanntschaften in diesem wilden, rücksichtslosen Jahr ein falsches Bild gemacht hatte.

Auch er hat sein Raskolnikow-Moment, denn die Frage, ob er fähig wäre, etwas richtig Böses zu tun, treibt ihn die ganze Zeit um – auch wenn er nie bereit ist, wirklich selbst darüber nachzudenken, sodass der Moment, in dem die mörderische Lust über ihn kommt, eher ein völlig entglittener ist, einer, den er nicht beherrscht und in dem er tatsächlich im letzten Moment umkehrt.

Oder glaubt, umgekehrt zu sein. Denn auch er erlebt danach eine Zeit der Euphorie, in der er endlich zu fassen scheint, was eigentlich sein Leben ist. Und endlich scheint er auch dem Grund für seine Ratlosigkeit nähergekommen zu sein, auch wenn er noch immer in der großen intellektuellen Pose steckt, die den Grund für alles, was ihm geschieht, „bis zum Beginn der Zeit“ zurückzudenken versucht. Aber zumindest ist da die sachte Erkenntnis: „Vielleicht hatten Hass, Zerstörungslust, Aggression, Egoismus, wie viel Platz sie in der Vorstellung der Menschen auch beanspruchen, keine reale Grundlage. Vielleicht waren sie separatistische Fantasien, mit denen ein armes Ego sich einzureden versuchte, dass es existierte.“

Dass er an dieser Stelle auf Seite 659 noch „armes Ego“ denkt, darf durchaus als Vorwarnung für den Rest der Geschichte gelten.

Dass er hier die große Leere einer vom Egoismus besessenen Gesellschaft anspricht, zeigt zumindest, wie aktuell die Raskolnikow-Frage noch ist. Denn wenn eine Gesellschaft den Triumph des Egoismus über alles stellt, bleibt natürlich nur Leere und Eiseskälte. Da ist kein Platz für die ganzen komplizierten Beziehungen, die das menschliche Leben manchmal so anstrengend, aber gerade deswegen auch so reich machen. Und weil Fleck in seiner Partywelt auf lauter Menschen mit dieser inneren Leere stößt, kommt er aus den Denkschleifen in seinem Kopf nicht heraus. Er begreift zwar, wie der Maskentanz funktioniert und wie sehr es dabei um (gefühlte) Macht und um Unterordnung geht. Aber geht es dann – auf der anderen Seite – tatsächlich nur um eine intakte Familie, Frau, Eigenheim und Kinder, wie Flecks letzter Gegenspieler in dieser Geschichte behauptet? Ist das der Gegenentwurf zu einer völlig egoistischen Welt der konsumierenden Singles?

Oder ist der Gegenspieler auch nur eine Variante der Leere und Ratlosigkeit, des Nicht-bei-sich-Seins? Geht es in zwischenmenschlichen Beziehungen tatsächlich immer nur um Macht, Rache und Rechthaben?

Eine neue Antwort auf die Raskolnikow-Frage gibt es natürlich nicht. Und wer noch immer glaubt, sexueller Erfolg sei auf irgendetwas im menschlichen Leben eine Antwort, der ist nach diesem Buch völlig ernüchtert und versteht auch, warum immer mehr Menschen sich wehren gegen die allgegenwärtige sexuelle Anmache in unserer Welt, wo fast jedes Produkt zum Sex-Stimulator aufgeblasen wird. Und sonst? Sonst gähnt da eine große Leere und nicht nur die intellektuell derart Amok laufenden Flecks haben damit ihre zunehmenden Probleme, auch wenn die Meisten auf diese bunte Hohlheit des Immergleichen eher mit Frustration, Flucht und Depression reagieren. Es steckt durchaus eine viel größere Geschichte in dieser Geschichte von Fleck, den der kluge Meinhard mit einem Otter (Lutra lutra) vergleicht. Aber die verpasst Fleck gründlich, weil er das Böse abstrahiert, als wäre es eine Gabe für Auserwählte – und nicht der Alltag einer auf Drogen gesetzten Zeit.

Matthias Hirth: Lutra lutra, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2016, 25 Euro.

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