Der Obertitel trügt ein wenig, auch wenn er den Kern dieses Buches trotzdem trifft: „Das Herkommen des Hauses Sachsen“. Ja, woher kommt es denn? Oder woher kam es mal? Der Historiker Olav Heinemann nimmt die Leser mit diesem Buch mit in eine Zeit, in der deutsche Adelsgeschlechter sich um das richtige Wappen, die richtigen Vorfahren und um Stammbäume prügelten, die richtig tief in die Vergangenheit zurückreichen. Am besten bis Troja.

Es ist das späte 15. und fast das ganze 16. Jahrhundert – Zeit des Buchdrucks, des Humanismus, der Renaissance und (was überhaupt kein Zufall ist) der Reformation. Ein ganzes Zeitalter war im Umbruch und nahm dabei seltsame Formen an. Sogar märchenhafte. Wenn wir heute unsere Vorstellungen über Ritter, Mittelalter, Adelsgeschlechter, Burgen und Königreiche abrufen, dann landen wir in der Vorstellungswelt des 16. Jahrhunderts, bei Malern und Autoren, die damals emsig dabei waren, die Vergangenheit zu (re-)konstruieren.

Und dazu gehörte auch die Entwicklung von Wappen und die Erforschung von Stammbäumen. Was man so Erforschung nennen konnte in einer Zeit, in der auch die modernen wissenschaftlichen Arbeitsweisen erst entwickelt werden mussten. Weshalb gerade mit dem Blick auf die Historiografien des 16. Jahrhunderts die Sichtweise der Aufklärung dominiert, die auch mit Spott und Häme kommentierte, was da die Gelehrten 200 Jahre zuvor für die diversen Adelshäuser zusammengebastelt hatten.

Zum Beispiel all die humanistischen Gelehrten von Adam von Fulda über Georg Spalatin bis hin zu Petrus Albinus an den wettinischen Fürstenhöfen in Wittenberg und Dresden. Eigentlich ein spannendes Kapitel in der sächsischen Geschichte, denn in diese Zeit fiel die Leipziger Teilung von 1485, die Gründung der Wittenberger Universität, der Thesenanschlag von 1517, aber auch der Schmalkaldische Krieg von 1547, der den ernestinischen Wettinern die Kurfürstenwürde kostete und einen Großteil ihrer Stammlande. Von da an begann der Aufstieg der albertinischen Wettiner zum eigentlichen „Haus Sachsen“, befeuert von den Grumbachschen Händeln von 1567, die ihren Sieg über die ernestische Linie endgültig festigten.

Und mit Festigung von Macht, Nachweis von uralten Anrechten und der Überlegenheit über andere Adelsgeschlechter hat natürlich die emsige Arbeit all der Geschlechterforscher und Historiografen zu tun, die damals an fast allen deutschen Adelshöfen beschäftigt wurden – am Kaiserhof der Habsburger sogar eine ganze Armada. Friedrich der Weise, den mit dem Kaiser Maximilian anfangs sogar eine enge Freundschaft verband, hat dort möglicherweise die erste Anregung bekommen, gleiche Forschungen nun auch zur Geschichte und Herkunft der Wettiner zu veranlassen – nicht ganz so opulent, er lud die Aufgabe immer nur auf die Schultern eines einzelnen Gelehrten. Wobei noch nicht recht belegt scheint, welche Rolle Adam von Fulda da am Beginn spielte. Später jedenfalls war es kein Geringerer als der Fürstenerzieher und spätere Sekretär des Kurfürsten, Georg Spalatin, der mit der Aufgabe betraut war, die Genealogie der Wettiner zu erarbeiten.

Wie er dabei vorging, kann Olav Heinemann sehr detailliert herausarbeiten. Vieles wurde ja seinerzeit auch im Druck veröffentlicht. Manche Humanisten erwarben sich ihren Ruhm durch solche Bücher über die phantastische Herkunft der berühmten Adelsgeschlechter. Um ihre wirklich alte und honorige Herkunft nachzuweisen, war den prestigebewussten Fürsten kein Griff in die Geschichte zu tief, keine Herleitung zu kühn. Und als richtig alt verstand man die eigene Geschichte, wenn sie sich von antiken Helden herleiten ließ – von den Römern oder gar von Alexander dem Großen und seinen Truppen.

Und so bestand die Hauptaufgabe der beauftragten Historiografen vor allem darin, die Lücken zu füllen und die Adelsgeschlechter mit berühmten (Wunsch-)Vorfahren in der Vergangenheit zu verknüpfen. Man wusste zwar ganz gut, welches tatsächlich der erste Wettiner war. Aber gerade auf Reichsebene befanden sich die Wettiner im 15. Jahrhundert in direkter Konkurrenz um Einfluss und Vorrang mit anderen Fürstenhäusern, die ebenso darauf bedacht waren, ihre Herkunft weit in die Geschichte zurückzuverlegen. Einige hatten dabei durchaus auch den älteren Stammbaum. Was dann auch schon mal heftige Fehden erzeugen konnte, wenn solche Neulinge wie die Wettiner sich dann etwa mit den Welfen anlegten, die ja nun wirklich auf Könige und Kaiser in ihrem Stammbaum zurückschauen konnten – aber augenscheinlich noch immer darunter litten, dass ihnen  die Herzogswürde im 12. Jahrhundert verloren gegangen war. Genau jene Herzogswürde, die dann über die Askanier Richtung Osten wanderte und am Ende in Dresden landete.

Und auch deshalb ist diese Zeit so spannend, denn eigentlich hatten die Wettiner ja bis 1423 ein Land regiert, das mit Sachsen überhaupt nichts zu tun hatte. Sie waren die Herren der Markgrafschaft Meißen und der Landgrafschaft Thüringen. Erst mit dem Erwerb des sächsischen Herzogtitels und der damit verbundenen Kurwürde stiegen sie in die erste Reihe der deutschen Fürstenhäuser auf (und Geld soll dabei auch geflossen sein – das ist wohl das Typischste an der obersächsischen Geschichte, dass die wichtigsten Dinge immer wieder mit Gold und Silber geklärt wurden).

Sie hatten also neben der Herausforderung, das Alter ihres Fürstenhauses zu beweisen und vielleicht sogar von sagenhaften Urvätern abzuleiten, auch die selbstgestellte Aufgabe, aus ihrem Herrschaftsgebiet ein neues Fürstentum Sachsen zu machen. Und dazu eignete sich natürlich auch eine Legende gut, die die Wettiner eng mit dem ältesten bekannten Sachsenherzog, mit Widukind verband. Und nicht nur das: Die beauftragten Genealogen machten sich schon frühzeitig auf die Suche nach Verbindungsgliedern, die nicht nur die Wettiner mit Widukind (der dann ganz schnell mal zu Wittekind und zum Gründer von Wittenberg wurde) verbanden, sondern auch mit dem berühmten Stamm der Liudolfinger und Ottonen (auf den sich ja die Welfen berufen konnten).

Und dabei blieb es ja nicht. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde die Ahnenreihe immer länger, ging man bis Hengist und Horsa und in die Zeit des Arminius zurück. Der war zwar ein Cherusker – aber die Autoren gaben sich alle Mühe, die Cherusker einfach mal in den großen Stamm der Sachsen einzureihen.

Aus heutiger Sicht sind das alles keine wissenschaftlichen Vorgehensweisen, bestenfalls kompilatorische Konstruktionen. Aber wenn man diese aufwendigen Bauarbeiten an Ahnentafeln und Ahnengalerien so abtut, versteht man ihre Rolle in ihrer Zeit nicht, betont Heinemann. Immerhin ging es auch um etwas, was bis heute wirkt und was man gemeinhin als Identitätsstiftung bezeichnet: Ohne diese systematische Konstruktion eines Hauses Sachsen und eines Stammgebietes Sachsen ist der heutige Sachsenkult nicht verständlich.

Heineman erzählt mit umfassender Faktenkenntnis davon, wie sich diese Legendierung des Hauses Sachsen im Verlauf von rund 100 Jahren ausformte, wie sie aber auch intensiv begleitet wurde von der Konstruktion ganzer Serien neuer Wappen, die nicht nur den alten Vorfahren (die ganz bestimmt noch keine Wappen hatten) solche neuen Wappenschöpfungen zuschrieben, sondern auch immer Herrschaftsansprüche bedeuteten. Was natürlich auch wieder Streit mit anderen Wappenführern bedeuten konnte, wenn sich die Interessen überschnitten. Aber die Vielzahl von Wappen, die ein Fürstengeschlecht führte, bedeutete natürlich auch wieder Ruhm und Rang. Auch die Wettiner führten ein ganzes Rudel von Wappen, allen voran das mit den gekreuzten Kurschwertern (das uns heute noch als „Blaue Schwerter“ in der Porzellanmanufaktur Meißen begegnet), aber auch das der Grafschaft Brehna (das mythisch mit dem fiktiven Herzogtum Engern in Verbindung gebracht wurde) und das berühmte Rautenkranzwappen, das im Ursprung mal das Hauswappen der Askanier war (noch ohne Rautenkranz), die 1129 den sächsischen Herzogtitel verliehen bekommen hatten.

So hat Sachsen eine ganze Menge geerbt, was eigentlich von anderen Leuten stammt – aber eben im 15. und 16. Jahrhundert vor allem dazu diente, die Legitimität der Wettiner als eines der wichtigsten deutschen Fürstengeschlechter zu bestätigen – immer ganz vorsichtig in Bezug auf den Kaiser, weswegen man die Verwandtschaft mit den Ottonen (die ja mal die deutschen Kaiser stellten) lieber nicht so betonte. Und diese Ahnenpflege wurde nicht nur in dicken Historiografien dargelegt und in Wappen sichtbar, sie wurde in den Schlössern zu Wittenberg, Torgau und Dresden auch mit entsprechenden Ahnengalerien sichtbar gemacht. Die existieren zwar nicht mehr – aber es gibt Überlieferungen, die davon berichten, und Kopien, die sichtbar machen, wer da alles dargestellt worden war – darunter auch Herr Widukind, als hätte er zwischen zwei Schlachten gegen Karl den Großen schnell noch Porträt gesessen für Albrecht Dürer, der möglicherweise bei seinem Aufenthalt in Wittenberg auch Bilder für die kurfürstliche Ahnengalerie malte.

Ein wenig erinnert ja auch die Fürstenreihe im Leipziger Alten Rathaus an diese Konstruktionen von Herrschaftslegitimität im 16. Jahrhundert – dort sieht man ja nicht nur Herzog/Kurfürst Moritz in Ritterrüstung stehen, sondern auch seinen Namenspatron Mauritius, der dann wieder auf einen Anspruch der Wettiner auf Magdeburg verweist, dessen Dom ja auch dem Heiligen Mauritius geweiht ist.

Man bekommt also so nebenbei auch einen Einblick in die Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftsansprüche in dieser Zeit. Eine Zeit, in der sich die Wettiner ihrer Titel und Gebiete auch nicht immer sicher sein konnten. Denn anders als zu Widukinds Zeiten herrschten sie ja nicht über ein echtes Stammesgebiet, sondern waren mit ihrer Markgrafschaft nur vom Kaiser belehnt. Auch mit dem Herzogstitel wurden sie nur belehnt, auch wenn das – wie Heinemann betont – eher nur noch ein symbolischer Akt war, weil sich die Herrschaftsverhältnisse in Deutschland zunehmend stabilisiert hatten. Aber genau um diese Stabilität und Beständigkeit und ihre äußere Darstellung ging es natürlich auch bei dieser Konstruktion von altehrwürdigen Stammbäumen.

Und das blieb eben nicht nur bis ins 18. Jahrhundert wirksam, wie Heinemann betont, als man diese ganzen mythischen Stammbäume wissenschaftlich erst mal gründlich auseinander nahm. Das wirkt tatsächlich bis heute nach – bis hin zu diesem sächsischen Königsglanz, der immer wieder ausgekramt wird, um heutige Regierungspolitik zu legitimieren oder zumindest in jenen güldenen Schein zu tünchen, der den heutigen Sachsen das wohlige Gefühl gibt, ein ganz besonderes Völkchen zu sein.

Olav Heinemann Das Herkommen des Hauses Sachsen, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016, 80 Euro.

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