Es sind nicht nur Franzosen, die jetzt so langsam richtig wütend werden über die Untätigkeit und Unfähigkeit der europäischen Politiker, die aktuellen Krisen zu lösen und die Politik für den Kontinent wieder menschlich zu machen. Mit Evelyn Roll meldet sich jetzt auch eine deutsche Journalistin und Politologin zu Wort. Denn was sie sieht, ist die Zerstörung einer hart erkämpften Vision durch eine nationalistische Minderheit.

Dabei kann sich Roll, die das Thema zuerst im Februar in einem Beitrag für die „Süddeutsche“ aufgegriffen hat, auf eine europaweite Umfrage berufen, nach der 71 Prozent der Befragten die EU bewahren wollen, möglichst sogar verbessern und stärken. Denn dass sie nicht richtig funktioniert, das ist ja unübersehbar. Nur scheinen derzeit in vielen Ländern der EU genau jene Gruppen auf dem Vormarsch, die – statt Europa zu verbessern – all die Errungenschaften der letzten Jahre wieder zerstören wollen und Europa zurückfahren wollen in einen Flickenteppich der Nationalismen.

Dass selbst in Ländern wie den Niederlanden, Österreich, Tschechien oder Finnland dieser alte Nationalismus wieder um sich greift, kann seine Gründe nur darin haben, dass die Leute, die da grölend für die alte Kleinstaaterei auf die Straße ziehen, nicht mal gelernt haben, was das einst in der europäischen Geschichte hieß. Denn alle die kleinen Staaten waren immer nur Spielball der Großmächte, wurden aufgeteilt und eliminiert (wie es Polen immer wieder passierte), in Einflusssphären vereinnahmt oder gleich von einer großen „Schutzmacht“ besetzt oder im Kriegsfall einfach überrollt. Jahrhundertelang war europäische Geschichte von Kriegen geprägt, die die jeweiligen Großmächte gegeneinander ausfochten. Die Selbstbestimmung der Völker blieb dabei komplett auf der Strecke.

Und das scheinen erzkonservative Hardliner wieder zu wollen und versprechen den Wählern eine Heilserlösung, die der Nationalismus in Europa niemals bieten konnte. Doch ihr gemeinsamer Feind ist überall immer wieder die EU. Und nicht nur das: Seit sie mit ihren scheinbar so simplen Lösungsvorschlägen die Wähler für dumm verkaufen und in Scharen hinter sich vereinigen, scheinen die alten politischen Eliten regelrecht in Angststarre verfallen, greifen die Argumente der Rechtspopulisten auf, rücken in ihren eigenen politischen Versprechungen selbst immer weiter nach rechts, bis ihre Zumutungen sich in nichts mehr von denen der Nationalisten unterscheiden. Und statt eigene Konzepte zu entwickeln, sorgen sie mit einer schlafwandlerischen Politik dafür, dass sie selbst den Auseinanderfall der EU erst möglich machen – so wie David Cameron in Großbritannien, der gerade mit dem Brexit eine Kettenreaktion für die ganze EU heraufbeschwört.

Evelyn Roll benutzt ganz bewusst das Bild von den Schlafwandlern, denn gerade ist es ja 100 Jahre her, dass der Erste Weltkrieg Europa fest im Griff hatte. Hineinmarschiert aber waren die europäischen Großmächte nicht, weil es ein Naturgesetz gewesen wäre, sondern weil alle europäischen Großmächte auf dem militärischen Pfad des Nationalismus waren und  das „Überleben“ ihrer Nation nur noch in militärischen und Macht-Konstellationen begreifen konnten. Ein labiles Bündnissystem führte dann im August 1914 zu einer Kettenreaktion, die praktisch den ganzen Kontinent in einen Krieg zog, bei dem es nichts zu gewinnen gab, aber in jedem einzelnen beteiligten Land die Panik herrschte, ihr Land könnte von dem riesengroß gemalten Gegner von der Landkarte getilgt werden. Nationalismus war schon immer irrational – hat sich aber immer wieder in scheinbar rationalen Schriften selbst zum Allheilmittel stilisiert.

Was Evelyn Roll besonders verblüfft, ist, welche Macht die Minderheit der marschierenden Nationalisten hat, wie sie alte, ehrwürdige Parteien vor sich her treiben und dazu bringen, ihr Vokabular, ihr Denken und ihre falschen Lösungsansätze zu übernehmen. Wo bleibt der Widerstand? Der Protest der echten Europäer? Und die Umfragen zeigen doch, dass eine Mehrheit der 500 Millionen Europäer genau weiß, wie wertvoll die Gemeinschaft ist und wie bitter notwendig. Denn die Weltpolitik wird schon lange nicht mehr von kleinen Nationen gemacht, die Wirtschaftspolitik auch nicht. Dafür hat schon die Globalisierung gesorgt. Das große Spiel wird von großen und mächtigen Wirtschaftseinheiten geführt, von Giganten wie China und den USA. Europa hat in diesem gigantischen Spiel nur eine Chance, wenn es zusammensteht, wenn es seine vollen 500 Millionen Menschen in die Waagschale wirft und sich als eigenständiger Wirtschaftsraum stärkt.

Gescheitert ist die Vision immer wieder nur an nationalistischen Einzelgängen, diversen nationalen Volksabstimmungen etwa über die Europäische Verfassung, die längst hätte beschlossen sein müssen. Geschrieben ist sie schon lange. Doch statt sie den Bürgern selbst in die Hand zu geben und durch das Parlament beschließen zu lassen, hat man sie durch einzelne Landesabstimmungen, in denen eigentlich immer Landespolitik zur eigentlichen Wahl stand, einfach abschießen lasen.

Es gibt genug Gründe für echte Europäer, so langsam richtig wütend zu werden. Über das technokratisch-dämliche Lavieren der alten Parteieliten genauso wie über die dumpfen und dämlichen Abwrack-Vorschläge der Nationalisten, die nicht nur die Vorurteile gegen das europäische Projekt schüren (und alle Freiheiten, die mit der EU gewonnen wurden, wieder zurückdrehen möchten), sondern auch wieder nach Mauern, Zäunen und Grenzen schreien, nach einer Abschottung und der Diskriminierung andersdenkender Menschen.

Und damit beschießen sie auch ein schwer errungenes Projekt. Evelyn Roll verweist zu Recht immer wieder auf Kant. Denn Europa ist ein Projekt der Aufklärung, des Ausgangs der Europäer „aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Denn wer das Regieren und Regelnsetzen immer nur den Eliten überlässt („Wir können ja eh nichts ändern.“), muss sich nicht wundern, wenn die abheben in einem UFO und gar nicht mehr merken, wie wenig ihre Politik mit den Realitäten, Nöten und Bedürfnissen der Bürger zu tun hat. Da wundert sich nicht nur Evelyn Roll, wie still die Europäer sind und wie sehr sie sich jetzt gefallen lassen, dass ausgerechnet die Minderheit, die Europa zerstören will, derzeit die Musik spielen lässt.

Das aber hat auch damit zu tun, dass die Maschinerie der Nationalisten gut geölt ist. Sie nutzt alle Kanäle der modernen Kommunikation, sie beherrscht auch das Geschrei und den volkstümlichen Ton, in dem sie ihre uralte Ware als neues Heilmittel verkauft.

Die streitbaren Europäer gibt es. Im Abspann des Büchleins findet man eine Liste von aktiven Websites. Aber da geht alles sehr gesittet zu, sehr klug. Denn man denkt ja nach über die Probleme, analysiert sie wirklich, macht komplexe Lösungsvorschläge. Denn Europa ist nun einmal kein einfaches Projekt. Nichts ist so falsch wie die schnellen und scheinbar billigen Lösungen, die die Populisten vorschlagen. Jetzt, wo der Brexit immer näher scheint, haben endlich ein paar Leute nachgerechnet, welche wirtschaftlichen Schäden der Brexit anrichten wird – in Großbritannien und in Europa.

Denn Europa ist bis jetzt eine Wirtschaftsunion, die für ihre Mitglieder funktioniert. Mehr recht als schlecht, keine Frage. Aber es fehlt bis heute die politische Union. Denn wenn man diesen Wirtschaftsraum international richtig vertreten will, dann braucht es eine gemeinsame Außenpolitik. Die gibt es nicht – und deshalb tun die Präsidenten von Ländern wie Russland oder den USA alles, um dieses Europa wirtschaftlich und politisch zu schwächen.

Es fehlt genauso an einer gemeinsamen Innenpolitik – gerade in der Flüchtlingspolitik in aller Erbärmlichkeit durchexerziert. Statt gemeinsam und solidarisch nach Lösungen zu suchen, haben Länder wie Ungarn oder Polen ihren ganzen Egoismus in die Waagschale geworfen: „Was scheren uns eure Probleme?“

Man kann das alles durchdeklinieren, kommt dann irgendwann auf das UFO der europäischen Bürokratie, die oft genug selbstherrlich und völlig ignorant zu agieren scheint, über ein völlig unsinniges TTIP verhandelt, aber die Jugendarbeitslosigkeit und die Staatsschuldenkrise nicht in den Griff bekommt. Natürlich ist das so, weil es an europäischen Politikern von Format zu fehlen scheint. Überzeugten Europäern, die wirklich eine Vision haben, wie aus der Staatengemeinschaft ein echtes, gemeinsames Projekt wird.

Aber eine simple Erkenntnis aus Evelyn Rolls kleiner Streitschrift ist: Das kann man den derzeitigen Parteieliten nicht überlassen. Das passiert nur, wenn sich die überzeugten Europäer aus allen Ländern zusammentun, so, wie es die Nationalisten schon lange getan haben. Der Druck kann nur und muss von unten kommen. Denn wenn die Bürger von ihren ratlos gewordenen Politikern kein echtes, gemeinsames und funktionierendes Europa einfordern, dann gibt es auch keins. Dann tanzen die Nationalisten ihren Freudentanz auf einem in wilder Hatz zerstörten Projekt, das Europa eben nicht nur 70 Jahre Frieden gebracht hat, sondern auch wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand.

Es braucht endlich Politiker, die wieder Visionen für ein starkes, gemeinsames Europa entwickeln, in dem sich 28 Identitäten gut aufgehoben fühlen, aber trotzdem bei allen gemeinsamen Fragen zusammenstehen. Und Roll hält es gar nicht für undenkbar, dass es auch Kriterien gibt, nach denen Staaten hochkant aus der EU fliegen, wenn sie aus nationalen Egoismen den gemeinsamen Konsens verlassen. Länder wie Ungarn mit ihrem massiven Abbau von politischen Freiheiten haben in einer aufgeklärten EU genauso wenig etwas zu suchen wie Länder, die auf ihren eigenen Minderheiten herumtrampeln (Beispiel: Türkei) oder gar die Todesstrafe immer noch pflegen (weswegen die USA niemals Mitglied der EU werden könnten).

Es ist ein geharnischtes Plädoyer, das Evelyn Roll hier geschrieben hat – gegen „das Gespenst des Nationalismus“ und für eine bewusste und kritische Haltung der Europäer zu ihrem eigenen Projekt. Kritik gehört dazu, stellt sie fest. Natürlich: So ein Projekt braucht sogar die kluge und immer kritische Vernunft. Und es braucht Leute, die bereit sind, Visionen auch umzusetzen – zum Beispiel auch die Institutionen der EU reformieren, die alles Mögliche sind, nur für die Bürger keine als transparent erfassbaren Instanzen.

Jetzt ist der Zeitpunkt, da die Europäer für ihr Projekt Europa kämpfen müssen, sonst wird es zum Fraß der Nationalisten, die ihr Heil in einer unheilvollen Vergangenheit suchen und über eines niemals nachdenken. Evelyn Roll fasst das in die kleine Frage: „Und dann?“

Das unterscheidet die aufgeklärten Europäer von den populistischen Welterklärern: Sie denken darüber nach, was passiert, wenn man Dinge abschafft oder ignoriert.

Was nicht im Buch steht: Die träge gewordenen politischen Eliten Europas sind oft genauso denkfaul, wagen es nicht einmal mehr, über den Erhalt des Bestehenden hinauszudenken. Und begreifen deshalb oft auch nicht, dass die dramatischen Erscheinungen der Gegenwart oft schlichte Folge unterlassener politischer Weichenstellungen sind.

Das Buch ist also auch ein Plädoyer für eine andere Politik, eine, die wieder klare Ziele benennen kann und sich echte Aufgaben stellt. Weg von diesem frustrierenden Verwalten eines blödsinnigen Zustandes und der Delegierung von Politik an völlig undemokratische Organe wie Schiedsgerichte oder Kommissionen. Europäische Demokratie muss für die Europäer wieder erlebbar sein, eben ein Gemeinschaftsprojekt, an dem alle Bürger mitarbeiten können.

Gegen Rassismus, Nationalismus und Volksverdummung hilft nur Aufklärung.

Evelyn Roll Wir sind Europa!, Ullstein Verlag, Berlin 2016, 7 Euro.

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