Die Niederländer sind ein reiselustiges Völkchen. Sie kommen zwar nicht im Hausboot nach Leipzig geschippert. Das wäre ihnen wahrscheinlich selbst dann zu umständlich, wenn es einen Kanal zur Saale gäbe. Aber mal einen Ausflug im Reisebus oder im Zug unternehmen sie schon längst. Die beste Zeit also, auch mal einen Stadtführer in Niederländisch herauszugeben.

Natürlich ist es der vertraute Stadtführer „Leipzig an einem Tag“, den es mittlerweile auch auf Englisch und auf Russisch gibt. Der natürlich etwas weniger vertraut wirkt, wenn man ihn in der Sprache der reisenden Völker liest. Er verwandelt sich jedes Mal – nicht inhaltlich. Die Stationen bleiben dieselben. Ist ja nicht so, dass jedes Völkchen ein anderes Leipzig zu sehen bekommt. Wenn schon alles an einem Tag geschafft werden soll, dann muss es mit dem erprobten Ensemble zwischen Hauptbahnhof (Centraal Station) und Grassimuseen hinkommen, für Reisende mit ein bisschen Zeit hängen ja auch noch die Russische Kerk und das Völkerschlachtdenkmal dran, das Monument für die „grootste massaslag von de 19de eeuw“. Man muss sich nur hineinlesen und fühlt sich wohl. Das ist eine Sprache mit Temperament, eine, die einem die lebensfrohen Leute aus dem Nachbarland gleich vor Augen führt in ihrer großen Lebensfreundlichkeit und ihrer Begeisterungsfähigkeit.

Und mit ihrer liebenswerten Sicht auf die Welt, die sich in ihrer Sprache bewahrt hat, während diese Landläufigkeit aus der deutschen Sprache ja durch vielerlei „Reformen“ und bürokratische Aufmotzungen fast verschwunden ist. Denn wie sonst ist unsere Sprache derart hölzern und technokratisch geworden?

Das geht schon bei „Stadtrundgang“ los. Da haben wir natürlich gleich den Google Ngram-Viewer angeschmissen. In gedruckten Werken taucht das Wort tatsächlich erst um 1930 auf. Natürlich ist es ein scheußliches Wort – wie fast alles, was sich die deutschen Tourismus-Vermarkter seit 100 Jahren ausgedacht haben. Augenscheinlich alles ausgemachte Bürokraten, die von der Begeisterung für technische Wortkonstruktionen angesteckt waren. Unbeirrbar. Da klingt es gleich völlig anders, wenn die Holländer von Stadtswandeling sprechen. Da wird nicht preußisch korrekt rundgegangen, sondern gewandelt. Was für ein Unterschied.

Was wäre aus Leipzig geworden, wenn es eine holländische Stadt hätte sein dürfen? Das ahnt man, wenn man die Sache mit den Barfüßermönchen erklärt bekommt: „De Franciscanen liepen blootsvoets, vandaar de naam ‚blote-voeten-stegie‘“. Und man lernt so nebenbei, dass die Holländer von beurze reden, wo wir Messe sagen, und die Lerche, die berühmte, heißt leeuweriken. Das ist jedes Mal wie ein Zwitschern im Sprachhimmel. Manchmal geht ein regelrechtes Ruckeln durch den Kopf und man merkt erst, wie blass viele unserer Standardvokabeln sind, etwa wenn wir von Ferneisenbahn reden – immerhin entstand ja die erste europäische Fern-Eisen-Bahn hier zwischen Leipzig und Dresden. Aber im Wort ist die Dimension völlig weggeschrumpft. Man kann es sich einfach nicht mehr bildlich vorstellen, was damit gemeint ist. Im Holländischen schon. Da heißt das Ding „treinverbinding voor de lange afstand“.

Das haben wir also davon, wenn wir unsere Worte komprimieren und kompressieren? Am Ende haben wir irgendwelche Fachtermini ohne Saft, Kraft und Farbe. Vom Geschmack ganz zu schweigen und vom Gefühl für den Raum.

Kann es sein, dass das heutige, technisch überwucherte Deutsch eine Sprache ohne Dimension geworden ist?  Bis in die Verben hinein? Etwa das Verb sprengen wie bei der Sprengung der Paulinerkirche? Auf Niederländisch sieht man regelrecht vor sich, was da passiert ist: die „Universiteitskerk wordt opgeblazen“.

Vielleicht sollte man tatsächlich einfach mal einen Rundgang in fremder Sprache buchen durch unsere Stadt? Um sie einmal mit völlig anderen Augen zu sehen? Was ja bitter nottut, wenn man sieht, mit welcher bürokratischen Ernsthaftigkeit ein paar Leute hier ein seltsames Hypezig feiern, das garantiert nicht der Grund dafür ist, dass ausgerechnet die Holländer gern hierher kommen. Die kommen garantiert eher, weil es hier das „bekendste koffiehuis van Leipzig“ gibt, wo Leute wie Robert Schumann und seine Freude regelmäßig „over musiek“ diskutierten und wo man „goede Saksische keuken“ genießen kann. Und das „in het hart van Europa“.

Das vergisst man ja so leicht, wenn ein paar Leute herumrennen und Leipzig mit Berlin verwechseln. Berlin ist nun einmal nicht das Herz Europas. Das pocht hier, wahlweise in der Gasse der barfußlaufenden Mönche oder am Nikolaikirchhof, wo 1989 „de Vreedzame Revolutie“ begann „met de leuzen ‚Wij zijn het volk‘“. Merkt man da was? Da merkt man was. Wir sind es. Und so lang wir das nicht vergessen, werden auch die tapferen Holländer kommen und unsere wundersame Stadt bestaunen mit Worten, die wir seit 700 Jahren glatt schon verloren haben.

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