Man vergisst es ja so leicht, dass immerfort dubiose staatliche Organisationen aller Art an der Weltpolitik herumpfuschen. In wessen Interesse, ist meist kaum auszumachen. Und das Zeitalter der unkontrolliert Politik machenden Geheimdienste ist auch mit dem Kalten Krieg nicht zu Ende gegangen. Wer wüsste das besser als John le Carré?

Seine Bücher lesen sich wie Thriller. Sind auch welche, auch wenn er mit dem berühmten Graham Greene natürlich eins gemeinsam hat: Beide haben tatsächlich für einen britischen Geheimdienst gearbeitet, le Carré sogar für zwei. Sie haben den Laden von innen kennengelernt, auch wenn David Cornwell, der sich als Schriftsteller den Kampfnamen John le Carré zulegte, lieber tief stapelt und seine Zeit im dritten Glied bei MI5 und MI6 lieber gar nicht so hoch bewertet wissen will. Was auch egal ist, denn diese Zeit gab ihm den Stoff und das Wissen, über das Agieren der Geheimdienste so authentisch zu schreiben, dass er selbst noch im hohen Alter – am 19. Oktober feiert er seinen 85. Geburtstag – als Kenner der Materie gilt.

Mancher schreibt ihm noch immer beste Insider-Kenntnisse zum Treiben der britischen Geheimdienste zu. Aber wahrscheinlich muss man gar keine Connections mehr haben in diesen Institutionen, um auch Jahrzehnte nach dem Ausscheiden noch zu ahnen, wie diese Häuser ticken, warum sie sich doof stellen, wenn sie mal gefragt sind, warum sie Pleiten am laufenden Band produzieren und auf die zivilen Rahmensetzungen einer demokratischen Gesellschaft keinen Wert legen. Einige der großen Geheimdienste sind längst Staaten in Staaten geworden, stürzen Regierungen, beliefern kriminelle Banden mit Waffen, entführen Politiker, betreiben Selbstjustiz, spionieren unbescholtene Bürger aus.

Was in Filmen (und einige von le Carrés Büchern wurden ja auch erfolgreich und hochkarätig verfilmt) oder in den Büchern wie ein spannendes Abenteuer abläuft mit zum Teil dubiosen Helden, Doppelagenten sowieso und allerlei zwielichtigen Mitarbeitern in diplomatischen Missionen, das ist die Realität in einer Welt, in der Regierungen mit ihren Geheimdiensten immer auch eine eigene Agenda verfolgen, in der selten klar ist, wer nun die Guten und wer die Bösen sind, wer eigentlich für wen arbeitet und was an all den Informationen, die da verteilt und gesammelt werden, eigentlich stimmt und was nicht.

Das Verblüffende an le Carrés Erfolg ist ja, dass der 1990 nicht einfach abbrach, wo ihm nun das große Thema des Kalten Krieges abhanden kam. Im Gegenteil: Jetzt tauchten neue Länder und Landschaften in seinen Romanen auf – und er machte einfach weiter wie zuvor, reiste in all die Krisengebiete der Welt, in denen er seine Bücher handeln lässt, und sprach mit den Leuten vor Ort, versuchte die Machtstrukturen und Interessensphären zu begreifen. Und wenn man genau hinschaut, hat sich das große Spiel überhaupt nicht geändert. Von westlicher Seite schon gar nicht. Auch wenn den Spionen aus aller Herren Länder heute ganz andere Technik zur Verfügung steht, andere Brennpunkte zum Tummelplatz der Agenten geworden sind und auch die Fronten nicht mehr so eindeutig sind.

Hat le Carré nun seine Autobiographie geschrieben? Nicht so ganz. Dazu hatte er noch keine Lust. Aber sein Bedürfnis, einmal mit unangestrengter Erzähllust aus seinem Leben zu berichten, war wohl doch geweckt. Auch weil er sich mit wachsendem Alter wohl nur zu bewusst war, dass einem Erinnerungen immer öfter ihre Streiche spielen. Das Gehirn ist ja kein programmierter Speicher, sondern geht sehr kreativ mit den Erinnerungen um, lässt manche einfach verschwinden, vermischt andere, so dass selbst die Erlebnisse anderer Leute sich in etwas verwandeln, was man glaubt, selbst erlebt zu haben, schafft sogar ganz eigene Konstrukte vergangener Ereignisse. Was macht man da? Startet man – wie le Carré es für seine Romane immer wieder gemacht hat – regelrechte Rechercheexkursionen in alle Welt? Beauftragt man zwei Detektive, das ganze Material zusammenzutragen? Letzteres hat er tatsächlich versucht. Und er hat dabei erfahren, dass viele Ereignisse, die das eigene, so gern unterschätzte Gehirn noch aufbewahrt hat, in den doch eigentlich überquellenden Archiven der Welt einfach nicht mehr aufzutreiben sind.

Akten gehen verloren, werden aussortiert und gelöscht. Würden sich menschliche Schicksale im Clinch mit Polizei, Politik und Gerichten nicht ab und zu in gedruckten Zeitungen wiederfinden, würden viele Ereignisse, die einmal die Welt bewegten, einfach verschwinden. Die Staaten und ihre Bürokratien sind noch viel vergesslicher als die Menschen. Geheimdienste wahrscheinlich auch, auch wenn sie wie besessen davon sind, Daten über alles zu sammeln, was nicht niet- und nagelfest ist.

Der Überzeugung, dass sie damit Gutes tun, Gefahren erkennen oder gar für irgendetwas Schild und Schwert sind, verkünden sie ja immer breitbrüstig, wenn sie mal wieder beim Klauen, Lügen, Vertuschen und Tricksen erwischt wurden. Fast hätte man erwartet, dass auch die berüchtigte Stasi irgendwie noch einmal Thema wird in le Carrés Erinnerungen. Aber den Haufen hat er wohl auch schon damals nicht für besonders außergewöhnlich gehalten, auch wenn die konkrete Ost-West-Malaise in „Der Mann, der aus der Kälte kam“ besonders eindrucksvoll eingefangen war. Viel elementarer war immer die Konfrontation mit dem KGB. Und die Affäre Kim Philby spiegelt sich logischerweise viel ausführlicher in diesem Buch, in dem der erfolgreiche Autor freilich nicht versucht, Strukturen und Arbeitsweisen der britischen Geheimdienste zu erklären. Da fühlt er sich nach wie vor an sein Schweigegelübde gebunden.

Er erzählt lieber über seine Begegnungen mit Leuten, die damals berühmt waren oder später berühmt wurden, den Leuten, denen er bei seinen Reisen in die Welt begegnete. Am Ende versucht er auch, seine komplexe Beziehung zu seinem Vater zu klären, einem Betrüger und Lebenskünstler, dem das Erfinden von Erfolgsgeschichten und neuen Identitäten wie eine zweite Haut war. Da wird dann auch ein wenig deutlicher, warum le Carré so wurde. Was nicht nur die Fähigkeit zum überzeugenden Erzählen betrifft, sondern auch seine tief sitzende menschliche Distanz. So, wie Kinder aus einer Familie werden, in der der Vater ein Lügenbold ist, der drei, vier verschiedene Leben nebeneinander lebt – und die Mutter eines Tages verschwindet, weil sie das nicht mehr aushält. Eine Welt des Scheins und der Distanz. Das macht einen Menschen zum ewigen Skeptiker, immer misstrauisch. Der ideale Mensch für einen Job beim Geheimdienst.

Eigentlich auch der leicht verführbare Mensch per se. Viele, die ähnliche Kindheiten durchlebten, werden dann zu glühenden Anhängern von allem, was ihnen auch nur den Anschein einer innigen Gemeinschaft gibt. Womit le Carré eigentlich das Grundproblem des 20. und wohl auch des 21. Jahrhunderts streift: Was wird mit all den Menschen, die aus den kaputten Familien und Welten des Kalten und der Heißen Kriege hervorgegangen sind? Wo suchen sie sich eigentlich Ersatz für das fehlende Urvertrauen in Eltern, die selbst keines geben konnten?

In nicht nur einer Geschichte handelt er es am Beispiel der Linken ab, an einem Geheimdienstkollegen, der zur Unterwanderung der englischen Kommunisten ausgeschickt wurde – und zum glühenden Kommunisten wurde. Da fällt das Wort Sekte. Und das regt schon zum Nachdenken an, denn es sind ja schon längst nicht mehr nur religiöse Splittergruppen, die sich auf solche Art hermetisch von einer als gefährlich und feindlich begriffenen Gesellschaft abnabeln. Es sind auch politische Bewegungen, die sich – wie einst die RAF – immer weiter radikalisieren, bis wirklich nur noch Gewalt als legitimes Mittel der Auseinandersetzung gilt. Und gerade diese Geschichte spiegelt eine heute fast verschüttete Sicht auf die deutsche Nachkriegszeit, als man die Verstrickungen ins Nazi-Reich eifrig vertuschte und altgediente Nazi-Beamte wieder Karriere machten. Nicht nur le Carré sieht hier die Ursprünge der 1968er Rebellion, die heute wieder verteufelt wird, dass man sich fragt: Wer hat so ein großes Interesse daran, deutsche Geschichte umzulügen?

Wer le Carré in den Libanon ins Hauptquartier von Yassir Arafat begleitet, ahnt, dass sich darin Dutzende heutiger radikaler Bewegungen spiegeln, dass sich zerstörte Länder und Gesellschaften – auch durch das unheimliche Wirken diverser Geheimdienste – in zerrüttete Sekten und Bewegungen zersplittert haben, die nur noch in Zerstörung einen Weg sehen, meistens in irgendeine Art reinen Glaubens hinein, der für alle, die ihn nicht teilen, tödlich endet.

Und da schillert dann auch eine kleine Szene, eine Begegnung mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die den berühmten Autor von Geheimdienstthrillern zu einem Tischgespräch mit Gästen aus den Niederlanden einlud. Etwas, was John le Carré mehrfach passierte in seinem Leben: Staatsmänner und andere Mächtige schmückten sich mit dem berühmten Mann, priesen seine Bücher – und hatten in der Regel nie eines gelesen. Und die Thatcher brachte es tatsächlich fertig, den Autor zu belehren wie einen Schuljungen, voller Verachtung für so einen Intellektuellen, der auch nur wagte, ihre Sicht auf die Welt infrage zu stellen. Auch der Thatcherismus ist eine moderne Sektenbewegung, keinen Deut besser als die anderen Ismen unserer Zeit. Genauso arrogant, genauso abgeschottet.

Und so schafft le Carré etwas Erstaunliches: Er macht im fast beiläufigen Erzählen deutlich, wie sehr die Welt des 21. Jahrhunderts tatsächlich der chaotischen Wirklichkeit des Kalten Krieges ähnelt. Geändert haben sich nur die Formen des Chaos, die Bilder der Skandale und die Geschichten über die Pleiten der diversen Geheimdienste. Denn nichts anderes sind ja die zerstörten Landschaften in Afghanistan, Irak, Afrika, der Anschlag auf das World Trade Center, die Internetspionage der NSA und ihrer „befreundeten“ europäischen Partner. Geheimdienste sind nicht dazu da, die Demokratie zu schützen. Sie sind das Arbeitsinstrument von Regierungen, die ihre Interessen durchsetzen wollen – in der Regel mit allen (auch verbotenen) Mitteln. Und das Ergebnis ist größtenteils Pfusch, sind destabilisierte Staaten, wachsendes Misstrauen in Regierungen und Politik.

Kein Wunder, dass le Carré immer Futter gefunden hat und mit seinen Agentenromanen immer auch aktuelle Politik schildern konnte. Natürlich immer aus der Sicht seiner in der Regel tief gespaltenen Helden, die von ihrer Mission nicht wirklich wissen, wie viel Unheil sie damit anrichten. Es kommt zu Verbrüderungen, eigentümlichen Kooperationen, Verrat sowieso. Lug und Trug sind das Lebenselixier dieser Welt. Und das Beste daran ist, dass so einer wie John le Carré sich auf die andere Seite geschlagen hat – die der Skeptiker und Distanzierten. Und dass er zum Autor geworden ist, der über diese zerrissene Welt schreibt, weil er die zerrissensten aller Akteure zu den Helden seiner Bücher gemacht hat.

Und er tut das – auch wenn er selbst auf sein Schreiben und sein Leben mit skeptischer Distanz schaut – mit ungebrochener Lust am Erzählen und Schildern. Im Wissen darum, wie sich all das Erlebte im Kopf verändert. Was übrigens nicht nur auf die persönlichen Erlebnisse zutrifft. Auch die großen Ereignisse der Geschichte werden beim Wiedererzählen verändert. Wichtige Details verschwinden, Sieger malen ihre Taten schön, der Feind wird auf platte Dämonen-Bilder reduziert. Große, dumme Über-Erzählungen verschlingen mit der Zeit das komplizierte Geflecht der Interessen, Aktionen und falschen Helden.

„Ich habe versucht, die geheime Welt, die ich einmal kannte, zur Bühne für die größere Welt zu machen, die uns allen vertraut ist“, schreibt er im Vorspann seines Buches. Wobei das mit dem „vertraut“ schon nicht mehr stimmen dürfte, denn längst sind nicht nur Geheimdienste damit beschäftigt, sich die Informationen zurechtzubiegen, die es aus der Welt zu berichten gibt. Längst sind auch ganze Medienwelten zu Märchenwelten geworden. Zumindest ein Schriftsteller wie le Carré weiß, wie man dem Problem zu Leibe rückt: Man sucht „nach der darin enthaltenen Wirklichkeit“. Was für ihn immer aufwendige Recherchen zu jedem Buch bedeutete. Einige davon auch unter Lebensgefahr. Aber anders bekommt man die Wirklichkeit nicht zu fassen.

Selbst wenn man sich ihr immer nur mit großer Skepsis nähern kann. Die „ganze Wahrheit“ bleibt immer eine Schimäre. Das exerziert er exemplarisch an seinem tricksenden und täuschenden Vater durch. Das Kapitel bringt er erst am Ende des Buches, ganz so, als wollte er noch einmal betonen: Traut den Geschichten nicht, die man euch erzählt hat. Und als Pointe setzt er noch die Geschichte um den geheimnisvollen Grünen Safe im Büro des Geheimdienstchefs obendrauf. Was enthält dieser geheimnisvolle Safe eigentlich, das so geheimnisvoll ist, dass es nur der oberste Chef wissen darf?

Da denkt man ziemlich schnell an all die verquasten Antworten von Ministern, Staatssekretären und anderen unersetzlichen Menschen, die einem geduldig erzählen, warum diese und jene Information nicht für die Presse und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Irgendein aufgeblasenes „Regierungshandeln“ wird dann als Blendwand vorgeschoben.

Die Leute, so sieht es aus, leben tatsächlich in so einer Welt der Trickserei und Täuscherei, der Nebelwände und versteckten Geheimnisse, die sich, wenn man sie dann mal geleakt bekommt, als eingebildeter Nebel erweisen. Oder als ein Nichts an Information. Nicht nur all die zu Helden aufgeblasenen Agenten erweisen sich beim genaueren Hinschauen als langweilige und oft genug charakterlose Diener eines großen Nichts. John le Carré hat das ganze von Eitelkeit und Trug geprägte 20. Jahrhundert geschildert, als er dessen vermeintliche Helden zu Akteuren seiner manchmal frustrierend traurigen Geschichten machte.

Aber in den grauen Dienern spiegeln sich die gnadenlosen Träume der Mächtigen, die sich auch im 21. Jahrhundert nicht lösen können von den alten Spielen mit Zündschnur und Bombe. Der Mann ist so aktuell wie zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere. Und so locker, wie er hier erzählt, ist noch längst nicht die Zeit für eine große Autobiographie.

John Le Carré Der Taubentunnel, Ullstein, Berlin 2016, 22 Euro.

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