Vom Buchtitel darf man sich nicht täuschen lassen: Es ist kein Anekdotenbuch über Gott und Teufel, Engel und Torwächter. Und die Kategorie ist auch nicht ganz die richtige, auch wenn die Bibel ganz bestimmt voller Kriminalfälle steckt. Aber Bettine Reichelt schickt keinen Kommissar ins Heilige Land, um die Fälle endlich mal aufzuklären.

Immerhin geht es um Betrug, Mord und Totschlag, Diebstahl, unterlassene Hilfeleistung, Kidnapping. Wer allein das Alte Testament durchforstet, kann ganze Serien von Kriminalromanen schreiben. Wenn er authentisch bleibt, natürlich ohne Detektiv. Die Bibel berichtet ja über eine frühe Epoche des Rechtswesens, in der die Stämme und Stadtstaaten noch anders mit der Klärung von Schuld und Unschuld umgehen mussten. Aber genau davon erzählen ja gerade die Bücher des Alten Testaments: Dem zähen Ringen um die Gerechtigkeit. Und die Geschichten zeigen, wie sehr das in dieser frühen Phase noch mit der persönlichen Frage nach Schuld und Sühne verbunden war.

Da Vieles schlicht noch nicht im Gesetz kodifiziert war, waren die Menschen noch viel stärker mit ihrem eigenen Gewissen konfrontiert und die Klärung von Schuld eine tief religiöse Frage. Die berühmtesten Geschichten aus der Bibel erzählen von diesen Gewissenskonflikten, zeigen, wie sehr moralisches Verhalten mit dem Begreifen von Schuld zu tun hat. Und Bettine Reichelt zeigt nun, dass es dabei gar nicht um den zornigen Gott im Dornstrauch geht, auch wenn der im Alten Testament über allem waltet, zürnt, richtet und straft – zumeist völlig unergründlich.

Sie ist Theologin, hat kurzzeitig als Pfarrerin gearbeitet, ist seit 2003 als freie Autorin und Lektorin tätig. Und sie weiß, wie man die biblischen Gleichnisse in die Gegenwart holt. Denn das sind alle diese Geschichten ja: Gleichnisse für die menschliche Suche nach einem gerechten Leben.

Und die endete ja nicht damit, dass die Juden ihre Zehn Gebote bekamen und irgendwann brav nur den einen Gott anbeteten und in den Tempel gingen. Das endete auch nicht mit dem Auftritt von Jesus Christus und seiner Bergpredigt, auch nicht mit Paulus … Es endet eigentlich nie.

Menschen geraten immer wieder in dieselben Gewissenskonflikte wie all die biblischen Gestalten, beladen sich durch Gleichgültigkeit, Gier, Hass und blinden Affekt mit Schuld, manchmal mit einer Schuld, die kein irdisches Gericht sanktionieren kann. Denn das besonders Vertrackte an diesen alten Bibel-Geschichten ist ja, dass es meistens keinen alleinschuldigen Täter gibt, einen Bösewicht, den die Polizei einfach verhaften kann und die Sache ist wieder im Lot. Etliche Geschichten erzählen ja sogar davon, dass ihre Helden gar nicht anders können, als schuldig zu werden an anderen. Und der strengste Richter sitzt nicht im Himmel, der sitzt in ihrem eigenen Kopf, quält sie mit Vorwürfen, lässt sie die Schuld wie eine Last durchs Leben tragen. Und das – davon erzählen auch einige Geschichten – sorgt wieder dafür, dass sich die Schulden vermehren, weil die Berge von Vorwürfen und Selbstzweifeln unfähig machen, wieder frei zu handeln. Das Herz verhärtet, für Liebe und Mitgefühl bleibt kein Platz mehr.

Da braucht man nur offene Augen, um zu sehen, dass sich daran nichts, aber auch gar nichts geändert hat.

Und beispielhaft holt Bettine Reichelt zehn dieser Bibelgeschichten in die Gegenwart. Die Geschichte von David und Goliath zum Beispiel, die sie auf den Schulhof einer Schule von heute verlegt, oder die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, die sie mitten in den heutigen Wirren von Flüchtlingszügen und Menschenhandel geschehen lässt. Die Geschichte von Simson und Delila lässt sie in den Konfliktfeldern von Liebe und Rechtsradikalismus handeln, und der barmherzige Samariter tritt mitten in einer Stadt auf, in der die Vorübereilenden nicht mehr helfen, wenn ein Mensch am Boden liegt. Mit der Geschichte um Kain und Abel nimmt sie den Zynismus heutiger Fernseh-Reality-Shows aufs Korn, mit der Geschichte um Nabots Weinberg die enge Verquickung westlicher Gier nach Rohstoffen mit den Terrorbanden Afrikas.

Wer die Bibel noch nicht gelesen hat, bekommt mit diesen gleichnishaften Modernisierungen ein Gefühl dafür, worum es im Buch der Bücher die ganze Zeit geht, warum die Suche der Juden nach ihrem Gott und den richtigen Gesetzen so lang, so blutig und voller Irrtümer und Umwege war. Dabei merkt man natürlich, wie vertraut uns das alles noch immer ist – nicht nur mit Blick auf die Konflikte in Nahost, wo man manchmal das Gefühl hat, da werden noch immer die Rachefeldzüge des siebenten vorchristlichen Jahrhunderts ausgefochten.

Was aber – man nehme nur die Geschichte um Nabots Weinberg – so nicht stimmt. Denn schuldig machen sich auch alle, die davon profitieren, die ihre Gier nicht bezähmen konnten und die achtlos wegschauen. Was natürlich leichter fällt, wenn man sich mit Informationsüberflutung, fehlender Zeit und „Geschäft, Geschäft!“ herausreden kann. Was Paula in der letzten Geschichte (die sich auf Paulus und die Wahrsagerin bezieht) solange gut gelingt, bis sie die stille Aufforderung von Paul aus dem Konzept bringt. Der Mann ist zwar ein begnadeter Seelenfänger. Aber eigentlich sagt er der erfolgreichen Paula nur, dass sie bei all ihrem Erfolg auch an sich selbst denken und herausbekommen sollte, was ihr selbst wichtig ist im Leben. Denn bis dahin hat sie sich treiben lassen, war das Objekt anderer, die mit ihr Geld verdienen wollten.

Und da stellt die Autorin natürlich die Frage aller Fragen: Was würde eigentlich mit unserer Welt geschehen, wenn wir nicht mehr die Jagd nach Erfolg und Gewinn ins Zentrum stellen, sondern unsere eigenen, menschlichen Bedürfnisse? Und: Welche sind das eigentlich? Was macht das Leben eigentlich wertvoll und lebenswert? Und was gibt uns Vertrauen?

Das Buch ist also eigentlich ein Bändchen neuer gleichnishafter Kurzgeschichten, die die alten biblischen Dilemmata in die Gegenwart holen. Dabei zeigt Reichelt ein tiefes Mitgefühl mit ihren Helden und Heldinnen – außer mit David, der seine Lust auf Bathseba, die Frau seines Angestellten Müller, nicht zügeln kann und seine Macht als Chef missbraucht. Auch er landet am Ende in einem Schulddilemma. Aber auch Bathseba steckt in einem – unauflösbar, auch nicht durch den Tod des Kindes.

Da braucht man also gar keine dicken fetten schwedischen Kriminalromane, um diese intensive Freude am Nachdenken über moralische Bruchstellen zu bekommen, keine schwerlastigen Sühne-Romane. Es geht auch kürzer, ohne Vorwürfe, ohne Depressionen. Denn alle Menschen haben mit diesen inneren Zerwürfnissen zu tun. Sie gehen unterschiedliche Wege, um danach die Last der Trauer, der Zweifel und Selbstvorwürfe loszuwerden. Aber niemand nimmt ihnen diese Auseinandersetzung ab. Auch das steckt als Botschaft in den ganzen biblischen Geschichten: Die Hölle sind nicht die Anderen (auch wenn Sartre das behauptet hat), die Hölle trägt jeder in sich selbst – nämlich dann, wenn er sich seiner Schuld nicht stellt. Und wenn es auch nur Unachtsamkeit war, ein Moment der Gleichgültigkeit, ein „Nein“ an der falschen Stelle. Wirklich Mensch ist man nur, wenn man sich den bohrenden Fragen und Vorwürfen des eigenen Gewissens stellt.

Aber natürlich gibt es auch in der Bibel die Anderen, die wirklich Bösen, die Typen, die sich ihrer Schuld nie stellen und dadurch zu Mördern werden. Da vermisst man dann eher richtig harte Geschichten um Herodes und Salome, um Pontius Pilatus (der sich auch noch „die Hände in Unschuld wäscht“, dieser Feigling!), oder um Judith und Holofernes. Alles Geschichten, die zeigen, dass auch Mächtige sich schuldig machen und die berechtigte Frage steht: Wie dürfen sich friedliche Menschen gegen diese Mächtigen wehren, ohne sich dabei selbst in bösartige Menschen zu verwandeln, die Moral verhandelbar machen?

Da vergisst man glatt, dass die Bibel auch von Leuten wimmelt, die sich damit herausreden, dass sie ja nur den Mächtigen zu Willen sind (wie die verknöcherten Hohepriester im Sanhedrin) oder nur Befehle ausführen (wie die Soldaten des Herodes, die die Kinder umbringen).

So lädt das kleine, sehr gegenwärtige Büchlein geradezu ein, sich mal wieder mit diesem dicken fetten Buch unserer moralischen Urgeschichte zu beschäftigen. Betonung auf „beschäftigen“. Denn die Gegenwart sieht ja leider nach lauter Fluchtbewegungen aus – und damit sind nicht die Leidenden aus Nahost gemeint, die versuchen in sichere Länder zu flüchten, sondern die Feiglinge hierzulande, die vor den Problemen, für die sie moralisch ebenso verantwortlich sind, mit faulen Ausreden und Forderungen zu flüchten versuchen.

Aber genau davon erzählen ja Altes und Neues Testament immerfort: Wer sich aus seiner Verantwortung (und den Fragen seiner Schuld) stiehlt, der wird nie das Himmelreich bekommen. Nie und nimmer. (Ist übrigens auch ein Gleichnis – aber wem erzählen wir das?)

Bettine Reichelt Im Himmel ist die Hölle los, St. Benno Verlag, Leipzig 2016, 12,95 Euro.

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