Es gibt sie immer wieder: Kinder, die ihren Altersgenossen davonziehen, Klassen überspringen, ihren Doktor machen, wenn die anderen noch nicht mal das Abitur haben. Immer wieder machten Wunderkinder in der Vergangenheit von sich reden, wurden bejubelt, bestaunt. Und die Welt rätselte: Waren Sie wirklich so viel genialer als alle Anderen?

Hagen Kunze hat natürlich kein großes wissenschaftliches Werk zu dem Thema geschrieben. Das wird noch auf sich warten lassen, denn es würde eine Reihe sehr unangenehmer Fragen stellen. An unseren heutigen und gestrigen Starrummel, unser (Nicht-)Bildungssystem, die Verschwendung von Talent und die Ruhmsucht von Eltern. Und natürlich nach unseren Werten und der Frage, ob wir Kinder zu schätzen wissen und überhaupt begreifen, welche Möglichkeiten in ihnen stecken. Und vielleicht mal in uns gesteckt haben, bevor wir in einem von Korrektionsdruck und Kontrollwahn besessenen System erwachsen gemacht wurden. Denn die schlichte Wahrheit ist auch: echtes unangepasstes Denken halten auch die modernen Gesellschaften nicht aus. Sie wollen lieber tausend Trumps als zehn Einsteins.

Wobei: Einstein kommt nicht vor in dem Buch, obwohl auch er in seiner Jugend alle Anzeichen aufwies, dass er ein unangepasstes und unpassendes Köpfchen war. Denn das wird wohl für die meisten wirklich begnadeten Kinder die ganz normale Regel sein: Sie scheitern schon in starren Bildungssystemen. Das Genie wird ihnen abgewöhnt oder ausgetrieben. Oder sie bleiben einfach auf der Strecke, weil Bildungsminister lieber sparen und lieber Fließbandproduktion betreiben.

Natürlich betont Kunze, dass er noch viel mehr Kinder in dieses Büchlein hätte aufnehmen können. 15 hat er ausgewählt. Wolfgang Amadeus Mozart schaut den Leser gleich vom Cover an. An Felix Mendelssohn Bartholdy kommt man natürlich auch nicht vorbei. Aber beides sind schon exemplarische Fälle für Kinder, die von ihren Vätern eine frühzeitige und für ihre Zeit überdurchschnittliche Förderung erfahren haben. Was sich übrigens fortpflanzt bis in die Gegenwart: Immer wieder wird sichtbar, dass ein hochengagiertes Elternhaus hinter den kleinen Höhenfliegern steckt. Nicht immer ganz unkritisch betrachtet vom Autor, denn diese Art Förderung kann auch sehr unangenehme Formen annehmen, wenn immer mehr Eltern glauben, ihr Kind sei unbedingt genial und brauche besonders viel Förderung und Wohlwollen von allen Seiten – was dann die moderne Massenplage von Tigereltern und Helikoptereltern ergibt.

Nach wie vor gibt es auch den Glauben, man könne aus jedem beliebigen Kind mit der richtigen Frühförderung ein Genie machen – im Büchlein exemplarisch erzählt anhand des Schicksals von Norbert Wiener und der Schachgroßmeisterin Judit Polgár. Bei Wiener hat es augenscheinlich geklappt – obwohl sein Vater in der Richtungswahl augenscheinlich völlig daneben lag.

Oft genug – und das zeigen zum Beispiel die Schicksale von Laura Bassi und Gottfried Wilhelm Leibniz – brauchen die Kinder einfach den Glücksfall, dass überhaupt jemand merkt, dass sie hochbegabt sind. Was in beiden Fällen deshalb gut ging, weil sie glücklicherweise in  Gelehrtenhaushalten aufwuchsen. Da reichte dem kleinen Leibniz die reich bestückte Bibliothek seines Vaters vollkommen, um sich im Selbststudium zum frühreifen Klassenprimus und jugendlichen Doppeldoktor zu entwickeln. Und daraus folgend zum „letzten Universalgenie“, wie gern behauptet wird.

Ob das auf Leibniz tatsächlich so zutrifft? Man darf zweifeln. Denn tatsächlich gehört er in eine Reihe von – scheinbar – doppelt begabten Denkern der jüngeren europäischen Geistesgeschichte, die die damals schon als starr empfundenen Grenzen zwischen den Wissenschaften überschritten – als ergänzenden Fall hat Hagen Kunze noch Blaise Pascal mit ins Buch aufgenommen, der genauso wie Leibniz für die Fähigkeit steht, streng naturwissenschaftliches Denken mit philosophischer Brillanz zu verbinden. Auch er übrigens mit aller Logik bemüht, Gott in der Welt zu beweisen. Wobei beide Denker auf ihre Weise daran scheiterten. Natürlich auf geniale Weise. Was dann andere Genies natürlich auf den Plan rief – so wie den angriffslustigen Herrn Voltaire (noch so eine Frühbegabung, die aber nicht ins Büchlein gefunden hat).

Mit seinem „Candide“ machte Voltaire eigentlich klar, wo der Denkfehler von Leibniz lag. Man kann zwar mit aller Logik nachweisen, dass – falls es einen Gott gibt – dieser geradezu zwangsweise die am besten konstruierte Welt auswählen muss, um sie wie ein Uhrwerk in Gang zu setzen. Was übrigens die Denkweise aller modernen Ingenieurwissenschaften ist mit ihren immer öfter sichtbaren fatalen Konsequenzen – von der Atombombe (die gewaltigste aller möglichen Bomben) bis zu den Social Media (die sinnfreieste aller möglichen Welten). Womit Leibniz übrigens noch seine starke Verwurzelung in der alten theologischen Logik beweist, die eine Welt nicht denken kann ohne einen (sinn-)stiftenden Gott.

Aber was passiert, das ist ja die Voltairsche Frage, wenn die Welt ohne einen großen Konstrukteur existiert? Wer stiftet dann Sinn und sorgt dafür, dass die Sache nicht kaputtgeht? Dann steht nämlich auf einmal der Mensch da, nackt und ohne Ausrede in seiner vollen Verantwortung. Wir haben die modernen Ingenieurwissenschaften nicht ohne Grund genannt: Die meisten Konstrukteure der Gegenwart verstecken sich nämlich feige hinter Konstrukten wie dem Leibnizschen und sind nicht die Bohne bereit, für ihr Tun Verantwortung zu übernehmen. Von Voltaire kann man sicher sein, dass er seinen „Candide“ heutzutage noch viel schärfer formulieren würde. Bei Leibniz wäre ich mir da nicht so sicher.

Man ahnt also: Wunderkinder sind nicht unbedingt gleich über ihre Zeit erhaben. Auch wenn sie das Köpfchen dazu haben, die Verkrustungen ihrer Gegenwart zu erkennen, richtige Fragen zu stellen, die die Erkenntnisse weitertreiben – so wie Carl Friedrich Gauß, Marie Curie oder Jean Francois Champollion. Was Hagen Kunzes kleiner Ausflug zeigt, ist, dass „Wunderkinder“ kein Wunder sind, sondern nur als solche empfunden wurden, weil sie die Norm ihrer Gegenwart sichtlich sprengten. Heute wissen wir, dass rund 2 bis 4 Prozent aller Menschen zu den Hochbegabten gehören, was gern mit einem IQ über 130 oder 140 in Verbindung gebracht wird.

Aber wie viele Menschen machen eigentlich einen IQ-Test? Und wie viele Kinder fallen schon von vornherein durchs Raster, weil sie in der falschen Familie, im falschen Land, im falschen Schulbezirk geboren wurden? Die Zahlen für Leipzig liegen ja vor. Wenn im besser situierten Schulbezirk bis zu 90 Prozent aller Kinder die Empfehlung fürs Gymnasium bekommen, im sozial ärmeren aber nur 10 Prozent, dann heißt das eben nicht, dass die Hochbegabten alle in reichen Familien aufwachsen. Dann heißt das nur, dass Kinder in gut situierten Familien besser gefördert werden und ihre Talente eher entfalten können. Und es heißt, dass Kinder aus sozial schwächeren Schichten nicht aufgrund ihrer Begabung ausgesiebt werden, sondern einfach, weil sie arm sind.

So verschleudern wir die Talente. Und da haben wir die installierten Verdummungsmechanismen in höheren Schulen und Universitäten noch gar nicht betrachtet.

Wir leben nach wie vor in einer Welt, in der Hochbegabungen sich nicht entfalten können und die Norm der gewöhnlichen Dummheit alles uniformiert – auch das Denken. Schon gar das grenzüberschreitende, wie es Leibniz und Pascal demonstriert haben. Solche Typen findet man heute nicht mehr. Sie scheitern spätestens im 1. Semester, wenn sie nach zwölf Jahren Schulschablone schon wieder lauter Schultestate abgeben müssen.

Mit seiner kleinen Auswahl schildert Kunze sehr kurzweilig und pointiert, wie sehr es eben auch in der Vergangenheit davon abhing, ob ein begabtes Kind in eine aufmerksame und gut ausgestattete Familie geboren wurde. Oder eben in eine arme Umgebung, in der die Chance, „entdeckt“ zu werden, eher gering war. Woran sich bis heute nichts geändert hat.

Hagen Kunze Wunderkinder, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2016, 5 Euro.

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