Kann man ein Geschichtsbuch für eine ganze Region schreiben? Eine, die heute als „Mitteldeutschland“ durch die Nachrichten taumelt, aber aus drei eigenbrötlerischen Kleinbundesländern besteht? Die niemals, niemals zusammenkommen werden, wie der Historiker Steffen Raßloff vermutet? Eigentlich ist er sich sogar sicher, erzählt aber trotzdem die ganze Geschichte. Er versucht es zumindest.

Denn das Problem der Historiker ist natürlich auch diese festgemauerte Kleinteiligkeit. Das beginnt sogar schon in weiter Vorgeschichte, in Eiszeit und Steinzeit. Es gibt in allen drei Bundesländern aufregende, zum Teil auch weltweit einmalige Funde, von den Eiszeitjägern, die beim heutigen Markkleeberg ihre Steinwerkzeuge bearbeiteten, über die Funde bei Bilzingsleben in Thüringen bis zu den Funden in der Königsaue bei Aschersleben. Die fruchtbare, wild- und flussreiche Gegend war immer wieder beliebter Aufenthaltsort von Menschen. Auch mit dem Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren kamen sie wieder. Schieferplättchen aus der Gegend von Groitzsch erzählen davon. Und vor 7.500 Jahren ging hier die Post ab, entstand das berühmte Sonnenobservatorium beim heutigen Goseck, entstanden Dörfer in erstaunlichen Dimensionen, wie sie auch im Bereich des Tagebaus Zwenkau ausgegraben wurden.

Nicht einmal Flüsse oder Gebirgskämme bildeten wirkliche Grenzen. Über Jahrtausende hin. Selbst das erste Reich der Thüringer, das später in den Sog der Westexpansion des Frankenreiches geriet, ist in seinen Grenzen kaum fassbar. Und trotzdem muss, wer diese frühen Funde besichtigen will, in drei unterschiedliche Landesmuseen fahren, in denen so getan wird, als hätte jedes einzelne Land seine ganz eigene spezielle Vorgeschichte.

Und so hat Raßloff schon in den ersten Kapiteln zu tun, für das Ganze einen zusammenfassenden Erzählstrang zu finden, beginnt sein Rundendrehen, das dann in den späteren Kapiteln immer intensiver wird: Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt … Man wird reineweg schwindelig davon. Das ganze Buch bestätigt Raßloffs These – und widerlegt sie zugleich. Diese Kleinteiligkeit ist nicht nur nicht auszuhalten, sie ist völlig unzeitgemäß. Denn alle drei Bundesländer sind Kunstgebilde. Was natürlich die Verfechter landsmannschaftlicher Gebräuche nie akzeptieren werden. Und in der Geschichtswissenschaft tummeln sie sich zuhauf, basteln seit Jahrhunderten immer neue Legenden und Mythen zusammen.

Erinnert sei nur an das ebenfalls in der Edition Leipzig erschienene Buch „Sächsische Mythen“ (2011). Die meisten „Mythen“ sind ganz und gar nicht von allein entstanden, irgendwo im Abendbrotgeplauder der Leute, sondern bewusst lanciert worden – von amtlich bestellten Chronisten, von Kanzleien und Hofberichterstattern, später von Zeitungsmachern und Produzenten diverser Landesgeschichten und Reiseführer. Die meisten „Mythen“ sind jung und hängen aufs Engste mit der Herausbildung diverser Landesherrschaften zusammen.

Wie die sich herausbildeten, schildert Raßhoff ab dem Kapitel IV im oben geschilderten Rundherum, denn dass es in dieser Region einmal drei verschiedene Identitäten und Machtzentren geben würde, war weder 939 abzusehen, als Markgraf Gero hier für den deutschen König die Eroberungsarbeit machte und die Slawen unter Kontrolle brachte, noch im 11. Jahrhundert, als die Markgrafen tatsächlich noch von den deutschen Kaisern eingesetzt wurden und sich die Position erst erkämpfen mussten, dass sie die verwalteten Marken erblich zu Lehen erhielten.

Nicht einmal das alte Kernland der sächsischen Könige im heutigen Sachsen-Anhalt war sicher, ging den einst mächtigen Sachsenherzögen sogar verloren, als sie sich mit den Staufern anlegten. Über Jahrhunderte war nicht mal klar, wer in diesem Raum künftig das Sagen haben würde: die Askanier, die in Aschersleben und Ballenstedt ihren Aufstieg begannen und sogar mit der Mark Brandenburg belehnt wurden? Die Hohenzollern, die ihre Nachfolger in der Mark Brandenburg wurden? Oder die Wettiner, die – als sie sich in der Mark Meißen endlich festgesetzt hatten – nicht nur Ansprüche auf Merseburg und Naumburg anmeldeten, sondern auch auf Magdeburg?

Übrigens ein wertvolles Städtchen: Bis ins 15. Jahrhundert hinein gehörte Magdeburg zu den größten Handelsstädten im Deutschen Reich, das Bürgertum war so stark, dass es sogar den eigenen Bischof in seiner Macht beschränken konnte. Da war von einem starken Leipzig noch lange keine Rede.

Anfangs ärgert man sich aus Leipziger Perspektive zwar ein wenig, wie selten die Stadt genannt wird in Raßloffs rasender Reise durch die Zeit. Aber der Mann hat natürlich Recht. Auch die Leipziger haben ihre Stadt mit Mythen aufgeblasen und ihr in der historischen Perspektive einen Platz zugeschrieben, den sie damals nicht hatte. Der Leipziger Aufstieg war lang und kam erst spät – mit Berggeschrey und Messeprivileg. Wenn man weiß, dass die maßgeblichen Handelsstädte der Region bis ins frühe 16. Jahrhundert Magdeburg und Erfurt hießen, dann verschiebt sich die Perspektive. Dann wird auch deutlicher, wie die provinzielle Sicht immer auch bemüht ist, historische Konkurrenten abzuwerten und der eigenen Geschichte eine Einzigartigkeit zuzuschreiben, die sie nie hatte. Genau dazu dienen Legenden – wie die um August den Starken oder den Sängerkrieg auf der Wartburg.

Gerade die Geschichte um die sächsische Kurwürde, das sächsische Herzogtum und die Territorialpolitik der Wettiner zeigt, wie es eigentlich feudale Machtpolitik war, die erst dafür sorgte, dass aus Legenden und Anekdoten so etwas wie eine „sächsische“ Identität entstand. Mit der Thüringer Identität ist es schon schwieriger. Für Raßloff wurzelt sie sogar noch in der ganz alten Vorgeschichte des ersten Thüringerreiches, auch wenn später auch hier die Wettiner herrschten und später für eine Blüte der Kleinstfürstentümer sorgten, von denen das Großherzogtum Weimar dann sogar das größte war.

In Sachsen-Anhalt hat sich so eine Identität nie ausbilden können. Das Gebiet wechselte immer wieder die Herren. Und auch die einigermaßen stabilen Askanier-Herrschaften wie Anhalt-Dessau flüchteten sich, als der Kampf um die Vorherrschaft im Deutschen Reich so richtig entbrannte, lieber unter die gewappneten Flügel des preußischen Adlers.

Und spätestens da ist man in einer Zeit, in der Territorien sich als das entpuppten, was sie sind: nichts anderes als Macht- und Verwaltungseinheiten, zuschneidbar nach Lust und Laune. Schon Friedrich II. von Preußen hielt das prächtige Sachsen eher für einen Leckerbissen, den man bei Gelegenheit verspeisen sollte. So, wie es Preußen 1815 mit 57 Prozent des sächsischen Königreiches gelang. Und das Verblüffende ist eigentlich, dass sich die meisten Bewohner dieser 57 Prozent auch heue nicht die Bohne als Sachsen empfinden. Auch wenn sie manchmal schrecklich sächseln.

Die scheinbare kulturelle Identität erweist sich als austauschbar, passt sich den jeweiligen Landesherren an wie die Religion. Heute muss man es ja extra dazu sagen, dass Luther eigentlich in Sachsen wirkte und zwar die meiste Zeit seines Lebens nur auf dem Gebiet seiner wettinischen Landesherren. Doch fast alle diese Wirkungsstätten gehören heute zu Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und Sachsen tat sich schwer, sich endlich auch in die ganzen Lutherwege und Lutherfeierlichkeiten einzuklinken.

Selbst der erstaunliche Erfolg der Bismarckschen Einigungspolitik, die die Sachsen nach 1866 zu regelrechten Preußenverehrern gemacht hat, zeigt, dass die Mär von einer in Stein gemeißelten Identität nichts anderes ist als das: ein Märchen, ein Hilfskonstrukt, das zumeist dann aus der Mottenkiste geholt wurde, wenn die Zeiten unberechenbar wurden und unheimelig. 1866 hatten die Sachsen noch mit den Österreichern gegen die Preußen gekämpft. Aber nicht, weil die Sachsen sich das so ausgesucht hätten, sondern weil der mächtige sächsische Minister Friedrich Ferdinand von Beust eine stockkonservative Politik auch in Bündnisfragen betrieb.

Es waren nicht die Sachsen, die immer wieder auf der falschen Seite standen, sondern ihre diversen Könige und Minister. Und das 19. Jahrhundert ist gerade in Sachsen immer wieder von einer erzkonservativen Politik geprägt worden, für die es natürlich gerade recht kam, wenn die Untertanen sich die Vergangenheit schönerzählten und den König einfach deshalb liebten, weil er so ein netter Kerl war.

Und das in einer Zeit, in der die kleinen Mini-Fürstentümer in Thüringen schon mal zeigten, wie man auch in Bismarcks Reich schon einmal ein bisschen Parlamentarismus nach englischem Vorbild anbieten konnte. Da erließ der sächsische König lieber ein Wahlrecht, das die Sozialdemokratie für Jahrzehnte komplett ausschloss von der parlamentarischen Beteiligung, selbst dann noch, als die Sozialdemokraten im Reichstag schon zur stärksten Fraktion heranwuchsen.

Das alles kann Raßloff nur antippen – aber man merkt schon deutlich, wie sich bei ihm vom Wechsel aus dem 18. ins 19. Jahrhundert etwas ändert: die Gewichte verschieben sich. Vorher hat er unermüdlich die Namen von Markgrafen, Herzögen, Königen aufzählen können, war Geschichte vor allem (und kapitelweise ausschließlich) feudale Territorialpolitik. Was natürlich den Leitlinien der tradierten Geschichtserzählung folgt: Danach war Ländergeschichte bis ins 19. Jahrhundert hinein immer eine Geschichte der Fürstenhäuser. Davon ist auch die moderne Geschichtsschreibung noch nicht frei. Im Gegenteil: Das Umwälzen der üblichen Erzählungsstränge dauert – auch weil die Fürstengeschichten so stark mit Mythen durchsetzt sind.

Da und dort deutet Raßloff an, dass die Geschichte der Region auch schon vor dem Eisenbahnbau und der Entstehung des mitteldeutschen Industriereviers eigentlich von Wirtschaft getrieben war, von Handel, Bergbau, Land- und Forstwirtschaft. Es taucht in Nebensätzen auf, wenn er das eine oder andere Fürstengeschlecht benennt, das sich einfach in die Pleite gewirtschaftet hat und seine Besitzungen verkaufen musste – zumeist an die Wettiner. Selbst die großen Bündnisse waren in der Regel von wirtschaftlichen Erwägungen getragen, Städtegründungen und Landbau sowieso. Und dass Mitteldeutschland im 19. Jahrhundert zur größten Werkstatt des Deutschen Reiches wurde, hat auch damit zu tun, dass die hier ansässigen Fürsten (auch und gerade die kleinen in Thüringen) sehr wohl wussten, wie man sein kleines Fürstentum anhängt an den Zug, der mit Dampf beschleunigte.

Ganz hinten lässt Raßloff dann die Frage offen, ob in diesem einst blühenden Industrierevier nach 1990 nicht mehr hätte gerettet werden können, wenn man nur schonender mit der Substanz umgegangen wäre.

Die Antwort lautet wohl schlicht: ja.

Nur waren die neuen Politiker viel zu berauscht von den neu zum Leben erweckten Identitäten ihrer kleinen Ländchen, als dass sie Sinn gehabt hätten für vernünftigere und zukunftsfähigere Wege. Vielleicht sahen sie sie wirklich nicht. In der Arbeitsgruppe der letzten Volkskammer scheiterte die Idee eines vereinigten Mitteldeutschland genauso, wie sie auch in der entsprechenden Arbeitsgruppe der Weimarer Republik gescheitert war. Vernunft stand gegen Mythos, eine große Idee gegen kleinliche Besitzstandswahrung.

Steffen Raßloff betont zwar, wie unterschiedlich und eigenständig die historischen Entwicklungen der drei heutigen Bundesländer waren. Aber unterwegs auf seiner Reise durch die Zeit zeigt er sehr wohl, dass die Zeichen oft genug anders standen. Während seine Historikerkollegen die berühmte Leipziger Teilung von 1485 durchaus als entscheidende Zäsur nennen, die die Entwicklung eines wirklich starken Wettinerreiches in Mitteldeutschland beendete und damit auch die deutsche Politik dauerhaft veränderte, will er darin gar nicht so sehr ein einschneidendes Ereignis sehen. Folgenreich genug war es, denn ab da gingen die beiden wettinischen Landesteile völlig unterschiedliche Wege, wurden die Zersplitterungen in Thüringen und Sachsen-Anhalt erst manifest.

Natürlich gibt es keine mitteldeutsche Identität. Der Begriff ist ein Kunstwort, das auch nur bis 1945 irgendeinen Sinn machte, als man mit Ostdeutschland tatsächlich Ostpreußen, Pommern und Schlesien meinte. Aber Raßloffs Buch zeigt, dass es gar nicht um Identitäten geht, wenn Staaten entstehen – um die jeweils Mächtigen und ihre Machtmittel schon. Und vor allem um die wirtschaftlichen Strukturen. Selbst Hauptstädte sind Zufall und eine Frage von Machtverhältnissen.

Nur eines wird immer deutlicher, je weiter sich Raßloff durch die Jahrhunderte arbeitet: Wenn die Karte Identität gezückt wird, wird immer versucht, diverse Fehler  und Probleme zu kaschieren. Als die DDR in ihre selbst gemachte Krise schlitterte, ließ sie 1985 die alte Sachsen-Trilogie von Józef Ignacy Kraszewski als „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ aufwendig fürs Fernsehen verfilmen. Weil die eigene Not nicht mehr zu verbergen war, holte man die kostümierten Mumien der preußischen und sächsischen Geschichte wieder aus der Kiste.

Und diese nostalgische Geschichtsbetrachtung bestimmt auch heute noch den Blick – auch etlicher Historiker – auf die mitteldeutsche Geschichte, die man auch Geschichte zwischen Harz und Erzgebirge, Elbe und Werra nennen könnte. Eine Flickenteppichgeschichte, in der das Gemeinsame meistens verschwindet. Der Leser erfährt zumindest – auch wenn es Raßloff gar nicht so in den Mittelpunkt stellt – wie eng verflochten die Vorgeschichte der drei Bundesländer eigentlich ist. Und wie reich. Selbst im Schnelldurchlauf. Das tut gut, weil damit die spezielle (ober-)sächsische Geschichte zwar immer noch viel Platz einnimmt, dafür aber die Geschichte der beiden Nachbarn sichtbarer wird, die oft genug selbst sächsische Geschichte war, nur dass selbst das meist abgeschnitten wird, wenn die üblichen sächsischen Hohelieder gesungen werden. Für alle, die immer nur eine der drei Geschichten kennen, ist das Buch eine schöne Einführung in ein zuweilen verwirrendes, aber auch ziemlich buntes und lebendiges Stück Landschaftsgeschichte.

Steffen Raßloff Mitteldeutsche Geschichte, Edition Leipzig, Leipzig 2016, 19,95 Euro.

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