Natürlich ist Demokratie nicht schmutzig. Sie ist nur ein hartes Brot für alle, die sie wirklich ernst meinen. Und sie ist permanent in Gefahr, zerstört zu werden. Die Stimmen, die für Deutschland eine starke Demokratie diagnostizieren, werden leiser. Denn die Zeichen sind unübersehbar, dass die Demokratiezerstörer auch hierzulande auf dem Vormarsch sind. Und das hat eine Menge mit Staatsversagen, Machtmissbrauch und Korruption zu tun.

Und mit falschem Wirtschaftsdenken. Insofern ist dieses neue Buch aus der Werkstatt des Investigativjournalisten Jürgen Roth auch ein Vorstoß auf Neuland. Denn bisher hat er sich vor allem auf die Ausbreitung mafiöser Netzwerke und Strukturen in europäischen Staaten konzentriert. Wer aufmerksam mitgelesen hat, hat gesehen, wie die Entstehung solcher grauen Strukturen aufs Engste zusammenhängt mit der Schwächung staatlicher Strukturen (Sparprogrammen bei Justiz, Polizei, Finanzämtern) und der zunehmenden Abhängigkeit etlicher Politiker und Parteien vom Finanzkapital. Mal haben sie sich ihre Wahlkämpfe bezahlen lassen, mal leben sie von gut dotierten Reden in erlauchten Instituten, mal sichern sie sich (das wohl beliebteste deutsche Modell) den Absprung aus der Politik direkt in hochbezahlte (Berater-)Jobs in den großen Konzernen, denen sie als Politiker alle Türen und Paragraphen geöffnet haben.

Wenn heute so gern von Politikverdrossenheit geredet wird – oft genug gekoppelt mit einem wilden Nichtwähler-Bashing – dann hat das vor allem mit einem wachsenden Misstrauen zu tun, das nicht irgendwo aus Verschwörerkreisen kommt. Denn oft genug haben genau die Politiker, die so offenkundig mit den großen Wirtschaftsbossen kungeln, in ihrer Amtszeit alles dafür getan, soziale Standards auszuhöhlen, Arbeitnehmerrechte zu zerstören, Millionen Menschen die sichere Existenzgrundlage und die berechenbare Zukunft zu nehmen.

Da kommt man ziemlich schnell zum fadenscheinigen Konstrukt eines neoliberalen Staates, der die „Schwarze Null“ wie ein Mantra vor sich her trägt, aber immer neue Steuersenkungen für all jene beschließt, die sowieso schon die großen Gewinne einfahren. Die zunehmende Verarmung der westlichen Gesellschaften ist kein Märchen. Sie ist für eine wachsende Bevölkerungsgruppe die tägliche Realität. Und die Frage ist nur: Wie wirkt sich so etwas aus, wenn die politischen und wirtschaftlichen Eliten derart offenkundig die Reichtümer einer Gesellschaft zu ihren Gunsten umverteilen, den Sozialstaat zerstören und Millionen Menschen die Handlungsoptionen für ein selbstbestimmtes Leben nehmen?

Wo fängt da ein Jürgen Roth diesmal an?

Da natürlich, wo die Zerstörung des Staates schon viel weiter gediehen ist als in Deutschland: in Ungarn, der Tschechischen Republik, der Türkei. Alles Beispiele für Staaten, deren politische Eliten ihren Zugriff auf den Staat schon frühzeitig dazu genutzt haben, nicht nur demokratische Institutionen zu schwächen, sondern auch, sich den Zugriff auf die Filetstücke der Wirtschaft zu sichern. Denn Autokraten sind nicht selbstlos. Sie wollen nicht nur Macht und einer ganzen Gesellschaft ihre Regeln aufdrücken. Sie wollen auch immer die Essenz der Macht: Reichtum. Und es ist egal, welches heute von Autokraten beherrschte Land man untersucht, man begegnet immer wieder denselben Mustern: Der regierende Familienclan bereichert sich, wo er kann, wichtige Staatsposten sind mit Leuten besetzt, die dafür sorgen, dass Korruption und Unterschlagung nicht strafrechtlich verfolgt werden. Gerichte sind käuflich, Schlüsselindustrien werden privatisiert und sind auf einmal in den Händen dubioser Oligarchen.

Und Jürgen Roths Analyse trifft wahrscheinlich genau den Kern der Sache: der zur Staatsdoktrin erhobene Nationalismus, dieses ganze aufgeblasene Tamtam um die eigene Kultur, sind nichts anderes als ein Deckmantel für die ungenierte Bereicherung einer kriminellen Kaste, die das Land plündert. Aber damit nicht über das System ihrer Macht diskutiert wird, werden die Ressentiments gegen andere geschürt: Minderheiten, Ausländer, Flüchtlinge, die EU, die Opposition …

Na sowas. Sind das nicht dieselben Muster, die die Nationalisten in den scheinbar noch stabilen westeuropäischen Demokratien bedienen? Ist das ein Zufall oder hat das System? Auch das ein Thema, mit dem sich Roth nicht zum ersten Mal beschäftigt. Zuletzt tat er es in dem Buch „Der tiefe Staat“, in dem es um die Frage ging, warum „der Staat“ gerade im Zusammenhang mit dem „NSU“ und überhaupt rechtsextremen Straftaten nun seit Jahrzehnten immer wieder scheinbar versagt. Gibt es nachweisbare Verbindungen zwischen rechten und rechtsradikalen Netzwerken und staatlichen Behörden?

Und was passiert eigentlich, wenn eine politische und staatliche Elite mit nationalistischem und chauvinistischem Gedankengut liebäugelt? Kann es sein, dass der martialische Rochus auf „die Linken“ genau damit zu tun hat? Mit einem fest verankerten rechten Denkmuster in vielen Amtsstuben? Da drischt man dann lieber mit aller Macht auf die „Linksextremisten“ ein (was man auch in Ungarn, Tschechien, der Türkei so beobachten kann), drückt aber beide Augen zu, wenn Rechtsradikale zündeln und terrorisieren im Land.

Kann es sein, dass beide Denkweisen voneinander profitieren?

Und noch einen Schritt weiter: Ist der Hang zum Chauvinismus vielleicht das logische Ergebnis einer anderen Verwüstung von staatlichen Strukturen, die seit ungefähr 40 Jahren im Gang ist? Einem radikalen Rückbau des Staatsapparates, einer umfassenden Privatisierung staatlicher Dienstleistungen (mit drastisch steigenden Kosten und damit Renditen für die Privatisierer im Gefolge), mit einer Kappung von Arbeitnehmerrechten, Steuersenkungsrunden und einer zunehmenden Deregulierung im Land?

Alles griffig mit dem Begriff Neoliberalismus zu beschreiben. Oder, wie Roth betont: einer Politik einzig und allein für die schwerreichen Eliten der westlichen Länder. Was dann zwangsläufig genau diese Zwiespältigkeit ergibt, die immer mehr Bürger der EU verspüren: Dass die Politiker, die von ihnen gewählt werden wollen, das Gegenteil dessen versprechen, was sie dann im Amt umsetzen. Worte und Taten passen nicht mehr zusammen. Die Rettung von Banken und Bankern ist wichtiger als die Rettung der durch alle sozialen Netze Gefallenen. Und statt die sozial Abservierten wenigstens in ihrer Notlage zu akzeptieren, werden sie auch noch als „Sozialschmarotzer“ verunglimpft. Von Leuten, die staatlich alimentiert und gut versorgt sind.

Glauben diese Politiker tatsächlich, dass das keine Folgen hat? Dass sie damit das Funktionieren der Demokratie nicht schädigen?

Der Schritt ist logisch: Pegida, AfD, FPÖ, Front National, Ukip – sie alle profitieren von diesem Ausverkauf aller Werte. Und sie profitieren vor allem deshalb, weil überall auch erklärtermaßen linke Parteiführer vorneweg marschiert sind, als es um die Aushöhlung der Sozialstaaten ging. Beispielhaft der Putin-Freund Gerhard Schröder in Deutschland, der ein System hinterlassen hat, das die konservativen Amtswalter nach ihm immer weiter verschärft haben. Auch das gehört zu den Ängsten, die mittlerweile den deutschen Mittelstand in Panik versetzen: Wer seinen Job verliert und abstürzt, der verwandelt sich ohne eigenes Zutun in einen Schwerverbrecher, der von trockenen Amtswaltern bestraft werden kann – weit unterm Existenzminimum.

Und dabei sind die Parteien, denen die zutiefst Verunsicherten zulaufen, nicht im mindesten besser oder gar sozialer. Das Gegenteil ist der Fall. Von FPÖ bis AfD hat man es mit zutiefst radikalen neoliberalen Parteien zu tun, die den Abbau von Sozialrechten, das Senken und Abschaffen von Reichensteuern, die Ausdünnung des Staates und die weitere Deregulierung ganz oben auf ihrer Wirtschaftsagenda stehen haben.

Nur: Niemand liest die Wahlprogramme. Und es sei den AfD-Wählern wohl auch egal, was da steht, diagnostiziert Roth. Sie wählen schon aus Protest immer radikalere Parteien, weil das Misstrauen in die etablierten Eliten mittlerweile allumfassend ist.

Diejenigen, die die Demokratie in Europa tatsächlich abschaffen wollen und zumeist von autokratischen Herrschaftssystemen träumen, wie dem Wladimir Putins in Russland, die profitieren von der Aushöhlung der Staaten durch jene Parteien, die sich in den vergangenen 40 Jahren dem Diktat der Finanzmärkte untergeordnet haben und die Interessen der Superreichen über die Interessen ihrer Wähler stellen. Das hat vor allem linke Parteien wie etwa die SPD regelrecht einschmelzen lassen.

Linke Ideen für ein anderes Europa?

Fehlanzeige. Jürgen Roth macht Vorschläge dazu. Die behandeln wir gleich noch extra.

Aber gerade in diesem Buch macht er sichtbar, wie die Infragestellung der EU und der Demokratie im Westen schon eine lange Vorgeschichte hat und immer mit Geld, Gier und Reichtum zu tun hat. Das Neue ist seit ein paar Jahren, dass die neoliberalen Staatsabwracker sich mit einer Bewegung aus dem Osten treffen und teilweise verbünden. Es überrascht nicht, dass hinter vielen der nationalistischen Bewegungen der jüngsten Zeit auf einmal die engen Verflechtungen mit dem putinschen Propagandaapparat sichtbar werden. Nicht nur Victor Orban und seine autokratischen Freunde reisen gern nach Moskau oder St. Petersburg, um sich mit ihrem Freund Putin oder den diversen Strippenziehern in seinem Umfeld zu treffen. Auch Politiker aus Deutschland und Österreich liebäugeln immer mehr mit diesem modernen Autokratismus à la Putin. Über den Schulterschluss bayerischer Provinzkönige wie Horst Seehofer mit Typen wie Orban muss man da gar nicht lange reden. Natürlich lässt Roth auch nicht den schon seit Jahren zu beobachtenden Vormarsch der Rechtsradikalen in der Schweiz außen vor und lenkt den Blick dabei auf die stockkonservativen Milliardäre, die nicht nur den staatlichen Chauvinismus anheizen, sondern auch immer mehr Medien unter ihre Kontrolle bringen und zu Sprachrohren einer erzkonservativen und undemokratischen Geisteshaltung machen.

Es überrascht auch nicht, dass etliche Aktionen der AfD immer wieder von anonymen Spendern aus der Schweiz finanziert werden. Wer genauer hinschaut, sieht, wie diese neuen, nur äußerlich populistischen Parteien im Grunde das Geschäft einiger geldstarker Interessengruppen besorgen, für die die Zerstörung der Demokratie sich in bare Gewinne verwandelt. Dass der Aufbau der AfD gar nicht so zufällig kam, sondern nach dem Muster von FPÖ und SVP sehr zielstrebig betrieben wurde, wird dabei durchaus deutlich.

Die Zerstörung des Sozialstaats geht also direkt einher mit dem Generalangriff auf die demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Und das Schlimme ist: Die politische Elite betreibt das Geschäft der Zerstörung selbst. Logisch, dass eine riesige Leerstelle in der politischen Landschaft sichtbar wird. Und die befindet sich nicht rechtsaußen, wie selbst die dümmsten Schwadroneure aus dem konservativen Lager immer wieder in die Welt posaunen. Die befindet sich genau in der Mitte, da, wo es um demokratische Teilhabe geht, um Freiheit, Verantwortung, soziale Sicherheit und Chancengleichheit. Da brennt die Luft und ist die große Fahnenflucht zu beobachten. Die einen flüchten in Panik, die anderen verkaufen ihr Gewissen, um sich den Floskeln der Neoliberalen anzudienen.

Dass das alles mit den von Jürgen Roth so oft beleuchteten mafiösen und korruptiven Netzwerken zu tun hat, ist zumindest in dieser Zusammenstellung ein neuer Aspekt. Aber kein überraschender. Denn auch die sind erst entstanden, wo Staat und Gesellschaft blinde Flecken geschaffen haben, Schattenreiche der kriminellen Wirtschaft, die sich überall ausbreitet, wo Staaten auf dem Rückzug sind und echte Polizeiarbeit durch bloße Verdammungsreden gegen die organisierte Kriminalität ersetzt wird. In den von Roth anfangs untersuchten Staaten ist die organisierte Kriminalität selbst schon Teil des Staates geworden, bedienen sich die Autokraten, die dem Westen so gern Gardinenpredigten in Sachen Demokratie und Werte halten, selbst der Mafia, um ihre Gegner zu eliminieren und ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.

Dass sie ihre Wahlen mit „sozialistischen“ Ergebnissen gewinnen, hat nichts mit Akzeptanz bei der Bevölkerung zu tun, sondern mit installierter Angst, Einschüchterung, Gleichschaltung der Medien und einem umfassenden System der Denunziation und der Zerstörung von Existenzen, wenn es jemand auch nur wagt, das System zu kritisieren.

Roths Buch ist eine Warnung. Auch für all jene, die heute so öffentlich ihre Bruderschaft mit diesen eisigen Autokraten zelebrieren. Eigentlich auch an die EU und ihre Führungsgremien, die so lange den Primat der „Wirtschaft“ über alle ungelösten Probleme der Staatengemeinschaft gestellt haben. Jetzt ist der Zeitpunkt, die falsche Politik im Interesse einzig und allein der Superreichen zu beenden und Werte auch wieder mit Inhalt und Taten zu füllen. Nicht so, wie es die konservativen Schwadroneure tun, die von „unseren Werten“ reden und dann nichts folgen lassen als nur heiße Luft.

Demokratie macht Arbeit. Und sie ist immer in Gefahr. Und die Rezepte, mit denen Demokratieverächter einen Staat aushöhlen und am Ende übernehmen können, die sind alle vertraut. Die kennt man seit 80 Jahren. Es ist nur verblüffend, wie selbstverständlich sich heute wieder die Völker Europas genauso betrügen lassen wie damals. Und wie sie sich diesen Ausverkauf ihres Landes gefallen lassen und sich ausgerechnet von denen verführen lassen, die diesen Ausverkauf ins Parteiprogramm geschrieben haben.

Jürgen Roth Schmutzige Demokratie, Ecowin Verlag, Salzburg 2016, 24 Euro.

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Es gibt 5 Kommentare

Nein Frank, ich habe nicht gesagt, daß “man” sich nicht Abarbeiten soll.
Ich habe gesagt, daß das Abarbeiten an der AfD den Blick auf die Ursachen verstellt. Die AfD ist lediglich Folge.
Es ist doch wenig hilfreich, über den Schnupfen zu lamentieren, wenn jemand Fenster und Türen aus dem Haus gerissen und die Heizung abgestellt hat.
Da kann ich noch so über den Schnupfen jammern, wenn die Reparatur nicht durchgeführt wird, geht der Schnupfen nicht weg. Er wächst sich höchstens noch zu einer Lungenentzündung aus.
Das habe ich gesagt.

Zu Olaf. Ja, wir sollten lieber neue Wege finden als unsere Lebenszeit mit dem “Abarbeiten” zu verschwenden. Es vernichtet unsere Kraft und das “Neue” kann nicht entstehen. Ist dann nur schön für die, die das “Neue” hassen.

Die Menschen sind, wie sie sind.
Das Einzige, was sich ändert, sind Technik und Technologie.

In den kleinen Kommunen sind diese Zustände schon viel eher sichtbar geworden. In den “großen” Städten verdeckt die Anonymität Einiges. Doch es war in Wahrheit schon immer so. Auch in der DäDäDärä.
Das Entstehen der AfD macht den Zustand nur deutlich. Und das Abarbeiten an der AfD verhindert eine Diskussion über die wahren Ursachen.

Organisierte Kriminalität hatte in Deutschland ab1990 einen Namen: Treuhandanstalt

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