Wahrscheinlich sind es wirklich erst die Enkel, die die Dramen ihrer Großvätergeneration wirklich aufarbeiten. Die Kinder prallten noch ab an der Mauer des Schweigens ihrer Eltern, die an ihre Jugend in der Nazizeit nicht erinnert werden wollten. Doch den Enkeln bleibt meist nur der graue Karton mit den alten Feldpostbriefen. Was drinsteht, ist auch aus 70 Jahren Entfernung noch erschütternd.

Im Grunde ergänzt dieses Buch einen Titel, den der Sax-Verlag im Sommer veröffentlicht hat: Joachim Krauses „Fremde Eltern“. Denn was seine Eltern ihr Leben lang nie aussprachen, fand Krause dann im Pappkarton auf dem Dachboden. Und war entsetzt, wie weit die geliebten Eltern in der NS-Zeit auch dem Denken und Sprachgebrauch der Nazis verfallen waren.

Eigentlich ein hochaktuelles Buch, weil es sehr exemplarisch zeigt, wie Regime mit allgegenwärtiger Propaganda und simplen Frames das Denken der gesamten Gesellschaft verändern, sogar Menschen zu Mitläufern machen, die eigentlich all die Schandtaten mit kritischen Augen sehen. Aber man gebe den Menschen nur eingängige Erklärungen dafür, und schon werden Verbrechen zu Notwendigkeiten umdeklariert, bekommt ein irrsinniges Denksystem eine scheinbar zwingende Logik und eigentlich friedliche Menschen versuchen, sich auch in der neuen Ideologie als Leistungsträger zu bewähren.

Und kein Apparat ist so geeignet, Menschen derart gleichzuschalten und dienstbar zu machen, wie eine Armee. Sie braucht den eifrigen Befehlsempfänger – und sie dreht ihre Rekruten so lange durch die Mühle, bis sie so funktionieren.

Für Gottfried Schellenberger war der Fund auf Omas Dachboden vor allem deshalb auch brisant, weil sein im Krieg getöteter Onkel Gottfried in der Familienerinnerung geradezu idealisiert wurde. Was nach dem Krieg viele Familien in Deutschland mit den verschollenen Söhnen getan haben. Natürlich war das eine Art Trauma-Bewältigung. Die große Chance, sich wirklich mit den eigenen Verstrickungen ins Reich der Nazis zu beschäftigen, hatten die Menschen in Ost und West nicht. In beiden Teilen Deutschlands wurde ruckzuck zur Tagesordnung übergegangen, für Trauer, Aufarbeitung und die Beschäftigung mit Schuld blieb kein Platz. Für Reue auch nicht. Da bleibt dann nur, sich die im Krieg Getöteten als geliebte Menschen in Erinnerung zu bewahren und die Erinnerungen zu trennen vom Wissen um die Verbrechen, die an allen deutschen Fronten begangen wurden. Das eine durfte nichts mit dem anderen zu tun haben.

Eine Wand der Verleugnung, gegen die ja schon Heinrich Böll anschrieb, der den Krieg in etwas höherem Alter erlebte als Gottfried Storch, der als Jugendlicher alle Erziehungsmaßnahmen des NS-Reiches durchlaufen hatte und noch als Minderjähriger im Reichsarbeitsdienst (RAD) an die Ostfront kam, bevor er gleich dort zur Wehrmacht rekrutiert wurde und als 19-Jähriger mitten hineingeriet in die verlustreichen Rückzugskämpfe der Wehrmacht. Von denen er übrigens sehr detailreich erzählt, was den pazifistischen Enkel regelrecht verblüfft, denn Vieles davon hätte damals eigentlich die Feldpostzensur nicht überstanden. Man merkt, wie Gottfried Schellenberger mit sich ringt. Denn die Briefe zeigen ihm einen Onkel, der nichts mit der familiären Idealisierung zu tun hat. Andererseits aber zeigen sie – auch wenn Schellenberger mit diesem Burschen hadert – einen jungen Mann, dessen größtes Bestreben es ist, allen Erwartungen seiner Umgebung gerecht zu werden. Bis hin zum Landser-Jargon, mit dem der junge Gefreite und Unteroffizier vor allem seine Freunde aus der Schulzeit zu beeindrucken versucht, auch wenn in den Briefen an die Eltern ein ganz anderer, nachdenklicherer und lebenslustiger junger Mann zum Vorschein kommt, der eigentlich die Sehnsucht in sich trägt, ein ganz einfaches Leben in heimatlicher Umgebung führen zu dürfen.

Über Gefühle schreibt er eher nicht. Wo seine Freunde mit ihren Mädcheneroberungen prahlen, hält er seine Verbindung zu Ursel sehr bedeckt. Da kann auch Schellenberger nur raten, was tatsächlich geschah. Nur wenige Briefe bringt er wirklich in voller Länge. Viel Platz nimmt seine Einordnung dessen ein, worüber sein Onkel schrieb. Denn heute weiß man, was in Brody und Lemberg geschehen ist. Wusste es auch der angehende Offizierskandidat, als er dort stationiert war, seine Ausbildung erhielt und möglicherweise auch mit seiner Ausbildungskompanie zum Einsatz kam? Schellenberger kann es nur vermuten. In den Briefen brechen die entsprechenden Andeutungen schnell ab. Der Schreiber wusste sehr genau, dass er mit seinem Leben spielte, wenn er darüber zu viel erzählte.

Immer wieder muss Schellenberger feststellen, dass ihm der Onkel eigentlich fehlt als jemand, den er nun fragen müsste.

Aber er weiß auch, wie selten der Fund dieser Briefe ist. Die meisten Familien, die ihre Söhne in diesem Krieg verloren, haben solche Zeugnisse nicht aufgehoben. Was vor allem Psychologen und Sozialwissenschaftler bedauern sollten. Denn damit fehlt ihnen Arbeitsmaterial, das zeigen kann, wie die LTI und das vom „Endsieg“ besoffene Denken der Nazis in den Sprachgebrauch der Soldaten einsickerte, wie es dort wirkte, ob es nur aufgesetzt oder homogen war mit der tatsächlichen Denkhaltung der Briefeschreiber.

Was im Fall von Gottfried Storch schon sehr komplex ist. Denn gerade die späteren Briefe von der Front zeigen, dass der junge Mann eigentlich voller Frust und Enttäuschung war – und zwar obwohl er sich entschlossen hatte, sich freiwillig zur Offiziersschulung anzumelden, nicht ahnend, dass gerade diese jungen Offiziersanwärter an den gefährlichsten Stellen der Front eingesetzt wurden, wo sie eigentlich keine Überlebenschance hatten. Die Jahrgänge 1923/1924, zu denen auch Gottfried Storch gehörte, wurden in den sinnlosen Schlachten der Jahre 1943, 1944 fast komplett verheizt. Es waren die Jahrgänge, die schon als Jugendliche die komplette Indoktrination durch die Nazis erlebten und genau jenes „Kriegermaterial“ waren, mit dem Adolf Hitler seine „fanatischen“ Kriege führen wollte. Umso überraschender ist es eigentlich, in diesem jungen Mann keinen fanatisierten Nazi zu finden, sondern eher einen ganz normalen strebsamen Jugendlichen, der eigentlich nur sein Bestes geben will, sich beweisen will und nicht wirklich hinterfragt, wer eigentlich für den ganzen Schlamassel verantwortlich ist.

Wobei völlig offen ist: Sah er es wirklich nicht oder waren die Briefe, die jederzeit von der Militärzensur geöffnet werden konnten, schlicht nicht der Platz, wo selbst so ein einsatzbereiter junger Mann derartige Dinge hätte schreiben können? In den Briefen an den Vater wurde er zwar deutlicher, ließ ein wenig mehr aus seinem militärischen Alltag durchblicken, womit er seine Mutter nicht belasten wollte. Aber auch hier findet man – wahrscheinlich folgerichtig – keine Kritik an den Herrschenden.

Vielleicht erwartet Gottfried Schellenberger damit wirklich zu viel und unterschätzt das Wissen des Briefeschreibers um die Gefahren solcher Kritik. Deutlich aber wird, wie sehr der sich nach Hause sehnt und ihn die Undurchschaubarkeit der Operationen in Schnee und Schlamm zusehends frustriert. Eigentlich ist gerade sein letzter Satz im letzten Brief vor seinem Tod richtig stark – denn selbst das letzte bisschen Weihnachtsstimmung wird verdorben, als die müde, ausgelaugte Einheit wieder zurück in die vorderste Stellung befohlen wird. Man kann eigentlich regelrecht zugucken, wie diese jungen Männer im Winter 1943/1944 verheizt wurden, dem hitlerschen Befehl geopfert wurden, jeden Fußbreit eroberten Boden bis zum Letzten zu verteidigen. Wirklich bis zum Letzten. Was dieser zunehmend frustrierte Gottfried Storch wohl spürte, denn der Befehl, zurück in die Erdlöcher zu müssen, kam mitten in diesem letzten Brief: „Schluß für heute, ich bin restlos bedient.“

Unspektakulär nennt es sein Enkel.

Nein. Das ist nicht unspektakulär. Das ist zutiefst tragisch. Wenig später war er tot und die Eltern bekamen ihre Briefe an ihn mit der Anmerkung zurück, die zum Titel des Buches geworden ist: „An Absender zurück, gefallen für Großdeutschland“. Briefe, die dann erst Gottfried Schellenberger öffnete und die das Bild vervollständigten. Denn auch seine Großeltern hatten ja nie wirklich über diese Zeit gesprochen. Die Verklärung des gefallenen Sohnes scheint nicht einmal ein aktiver Akt gewesen zu sein. Allein durch seine Abwesenheit wird der Tote ja idealisiert, kann nicht mehr antworten, nichts mehr klarstellen. Er hat mit seinem Leben bezahlt – aber wofür eigentlich? Seine eigene Willfährigkeit?

Die strikt pazifistische Haltung, die sein Enkel einnimmt, wäre im Nazi-Reich für jeden jungen Mann zum Verhängnis geworden. Gesellschaften üben früh einen Verfügbarkeitsdruck aus. Und zwar alle bisher erlebten Gesellschaften. Wer Glück hat, wächst in einem friedlichen Staatsgebilde auf. Wer Pech hat, wird einvernahmt von einem Staatsapparat, der seine Bürger nur als Verfügungsmasse und Kanonenfutter betrachtet.

Da bleibt dann kein Platz mehr für ein individuelles Schicksal. Die Tragik wird ja schon im Titelbild sichtbar, auf dem Gottfried Storch – bepackt mit seiner kompletten Soldatenausrüstung – zum letzten Urlaub nach Hause nach Seiffen kommt, irgendwie noch der geliebte Sohn und Bruder, und doch auch schon für den uniformierten „Heldentod“ vorgesehen. Wobei noch zu bemerken ist, dass dieser Gottfried in seinen Briefen mehrfach die Hoffnung aussprach, er müsse nicht wieder an die Ostfront, lieber nach Frankreich. Das arbeitet Schellenberger an vielen Stellen sogar sehr akribisch heraus, dass das Eigentliche in den Briefen oft nur versteckt und in Andeutungen gesagt wurde. Was dieses Schicksal besonders ausweglos macht – denn die Befehle geben andere. Und die Entscheidungen über Tod und Leben werden „von denen da oben“ gefällt.

Es gibt Millionen solcher Onkel Gottfrieds in deutschen Familien, die meisten längst vergessen. Nur wenige noch präsent in den Erinnerungen der Alten. Noch weniger haben solche Briefe hinterlassen, die ihr Schicksal sichtbar machen, ihr Hoffen und ihre Verzweiflung. Und was dieses Buch besonders deutlich macht, ist, wie sehr Regime die besten und menschlichsten Eigenschaften ihrer jungen Menschen dazu missbrauchen, ihre Macht aufrechtzuerhalten: ihre Einsatzbereitschaft, ihren Willen, es allen recht zu machen, ihr Bestes zu geben. Immer im Vertrauen darauf, dass ihre Vorgesetzten selbst nur das Richtige wollen. Das mag man naiv nennen.

Aber man muss sich nur umhören, was Politiker und andere Welterklärer heute von jungen Menschen immerfort erwarten, dann ahnt man, dass dieselben Mechanismen immer weiter wirken. Immer gibt’s neue Apostel, die die Gefolgschaft einfordern für ihre zuweilen kruden Ideen und die jede kritische Haltung diffamieren.

Man wird sehr nachdenklich, wenn man dieses Leben hier aufgeblättert sieht, immer wieder kritisch hinterfragt von Gottfried Schellenberger. Hätte sein Onkel von all dem erzählt, wenn er überlebt hätte? Eine Frage, die keiner beantworten kann.

Gottfried Schellenberger An Absender zurück, gefallen für Großdeutschland, Sax Verlag, Markkleeberg 2016, 12 Euro.

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