Balduin geht wieder auf Zeitreise. In „Balduin und das Geheimnis des weißen Goldes“ hat Uwe Schimunek seinen jugendlichen Helden zum ersten Mal mit Opas Fenster in die Vergangenheit geschickt. Da ging es darum, einen kleinen Fehler in den Geschichtsbüchern zu korrigieren, weil irgendwer verpasst hat, das Porzellan zu erfinden. Wenn Opa schon so ein geniales Zeitfenster hat – warum nicht gleich die nächste Stippvisite machen?

Mitteldeutschland ist ja voller genialer Erfinder, die hier Entscheidendes dazu beigetragen haben, dass das Land wirtschaftlich prosperierte und die Namen dieser Leute bis heute mit Ehrfurcht genannt werden. So ist die Serie von Schimuneks Zeitreisen auch angelegt. Mit jedem Buch kann Balduin einen dieser Berühmten kennenlernen. Und zwar nicht irgendwann in banalen Momenten, sondern an jenen Scheidepunkten, an denen ihre Erfindungen endlich gelangen oder – wie in diesem Buch – den Schritt zur Umsetzung taten. Wie 1883, als Carl Zeiss in Jena zusammen mit den Herren Schott und Abbe und seinem Sohn Roderich den nächsten Schritt wagte vom Hersteller optischer Geräte zum Entwickler neuer Glassorten, die neue technische Möglichkeiten eröffneten.

Nur fehlt diesmal nichts. Im Gegenteil: Opa wuchtet ein schweres und wertvolles Mikroskop aus dem Jahr 1883 auf den Tisch, das eigentlich noch bestens seinen Dienst tut – etwa bei der genauen Untersuchung der mickernden Begonien von Oma. Aber als das Stellrädchen bricht, ist guter Rat teuer.

Oder eben eine neue Reise fällig, von der Oma nichts wissen darf. Eine Reise, die Opa augenscheinlich schon längst vorbereitet hat, was Balduin überhaupt nicht wundert. So schnell kann man sich ans Zeitreisen gewöhnen. Auch wenn beide die wichtige Formel beherzigen: Eigentlich darf man die Vergangenheit nicht verändern. Das könnte fatale Folgen für die Zukunft haben. Man denke nur an Ray Bradburys berühmten Schmetterling.

Ob das wirklich stimmt, wird niemals jemand feststellen, denn Zeitreisen sind nur in unserer Phantasie möglich. Und nur dort sind sie auch aufregend, haben diesen Sensationseffekt, der den Yankee in Mark Twains Geschichte König Artus begegnen lässt oder am Berg Golgatha ein wahres Gedränge auslöst, weil tausende Zeitreisende unbedingt bei Christi Kreuzigung dabei sein wollen.

Schimunek geht es tatsächlich eher um kleine abenteuerliche Geschichten, mit denen junge Leser ein Stück weit die großen Momente ihrer heimischen Erfinder kennenlernen können. Mit Balduin sind sie quasi dicht dabei, sehen in diesem Fall die ehrwürdigen Firmengründer, die aus dem Unternehmen von Carl Zeiss etwas noch größeres machen wollen. Ein bisschen mischt sich diesmal Opa in die Geschichte ein. Und vielleicht war’s schon ein bisschen zu viel, denn irgendwie hat Balduin diesmal das Gefühl, dass sie nicht die einzigen Zeitreisenden sein könnten, die derart neugierig in der Vergangenheit unterwegs sind.

Beiläufig lernt er natürlich etwas über den Beginn der innovativen Glasproduktion, die Carl Zeiss erst weltberühmt gemacht hat. Aber bei den geschäftlichen Verhandlungen lässt ihn Opa dann doch lieber außen vor. In den Illustrationen von Thomas Leibe sieht Opa ja nicht ganz zufällig wie Albert Einstein aus. Auch wenn Oma und Opa in einem winzigen Dorf wohnen, weitab vom Stress der großen Stadt, ist dieser Opa sichtlich etwas Besonderes, ein Mann, der sich nicht nur rührend um den Enkel kümmert und das Zeitfenster so nebenbei konstruiert hat, sondern auch einer, der sich in der Vergangenheit gut auskennt. Was nicht jeder von seinem Opa sagen kann. Bei den meisten Opas hört die Vergangenheit in deren Kindheit auf. Vom Rest wissen sie nichts.

Aber welcher Junge wünscht sich nicht so einen Großvater, der seinen Ruhestand eben nicht als Tattergreis mit beginnender Demenz verbringt, sondern einfach weiterbastelt an seinen Erfindungen und noch immer neugierig bleibt auf die Abenteuer, die das Leben bereithält? Oder eben die Vergangenheit. Und vielleicht ahnt Balduin das Richtige, wenn er das Gefühl hat, dass sein Großvater etwas öfter auf Zeitreise ist, als er dem Enkel erzählt.

Das ist ja auch nur zu verlockend, so ein Fenster zu haben, mit dem man punktgenau den Moment ansteuern kann, an dem man gern dabei sein möchte, wenn irgendeins von den Dingen passiert, die in den Geschichtsbüchern als so aufregend und wichtig erzählt werden. Welcher Junge und welches Mädchen wären nicht zu gern dabei gewesen? Natürlich in dem Wissen, dass das genau der wichtige Moment war. Was ja Zeitgenossen meist nicht mal ahnen. Das kriegen immer erst die später Lebenden mit und ärgern sich, nicht dabei gewesen zu sein.

Die Zeitreisen beginnen im Kopf. Und wer mit Schimunek auf Reisen geht, lernt ein bisschen was über die Dinge, die auch in den üblichen Lehrbüchern eher nur gestreift werden. Es sieht ganz so aus, als könnte das eine ganze Serie von Reisen zu den Erfindern, Bastlern und Tüftlern unserer Geschichte werden. Es sei denn, Balduins Vermutung trifft zu – dann könnte es in den nächsten Büchern ziemlich turbulent zugehen.

Uwe Schimunek Balduin und das goldene Mikroskop, Lychatz Verlag, Leipzig 2016, 9,95 Euro.

In eigener Sache: Für freien Journalismus aus und in Leipzig suchen wir Freikäufer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/11/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar