Inge Brandenburg? Jazz-Freunden wird der Name etwas sagen. Jüngeren Generationen sagt er eher nichts. Und dabei war sie einmal Europas Jazzsängerin Nr. 1. Ein Ausnahmetalent, das 1999 vereinsamt, verarmt, fast vergessen in München starb. Und so nebenbei auch noch ein echtes Leipziger Kind. Marc Boettcher hat das Schicksal der zu Unrecht Vergessenen aus dem Dunkel geholt.

Am Anfang war ein Fund, ein unglaublicher Zufallsfund, den der Münchner Grafiker Thomas Rautenberg 2001 machte, als er über einen Flohmarkt schlenderte und ein Album mit Schwarz-Weiß-Fotos einer beeindruckenden Frau findet. Auf einer Autogrammkarte findet er den Namen Inge Brandenburg. Doch der Name sagt ihm nichts. Doch Rautenberg ist ein Mann, der ahnt, wenn ein Fund wichtig ist. Am Ende landete alles, was er aus dem beräumten Nachlass der Sängerin findet, bei Marc Boettcher, der sich durch einfühlsame Dokumentationen über deutsche Musiker schon einen Namen gemacht hat. Und der einordnen kann, was er da vor sich hat, auch wenn er weiß, dass es ein langer und mühsamer Weg werden wird. Denn die Fördergeldgeber, ohne die ein Filmprojekt nicht auf die Beine kommt, tun sich schwer, zucken die Schultern, kennen Inge Brandenburg nicht.

Am Ende entsteht der Film doch, hat 2011 Premiere: „Sing! Inge, sing!“

Und ebenso mühsam ist die Suche in den Archiven. Denn eigentlich müsste die begnadete Sängerin, die 1958 die große Entdeckung der europäischen Jazz-Musik war, mit hunderten Ton- und Filmaufnahmen in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender zu finden sein. Manches findet Boettcher, anderes, von dem er weiß, dass es einst eingespielt worden war, ist verschwunden, gelöscht, weil ein Sendermitarbeiter es für nicht aufhebenswert befand. Oder weil die Granden des deutschen Fernsehens einen Film wie Dieter Finnerns „Ein Mädchen von heute“ gezielt vernichten ließen. Denn der Film von 1966 schilderte – aus der Sicht eines Mannes, der das Business kannte – die Machenschaften der deutschen Musikmafia.

Und da ist man mittendrin im Leben und Scheitern der Inge Brandenburg, die eines nie konnte: sich anbiedern und kuschen vor den Männern, die über Auftritte, Studioaufnahmen, Schallplatten und die großen Verträge entschieden. Und die dafür sorgen konnten, dass ein begabter Künstler zum Star aufgebaut werden konnte – oder gnadenlos scheiterte. Die aber – das ahnt man so am Rand – auch dafür sorgen konnten, den Musikgeschmack eines ganzen Landes nicht nur zu bedienen, sondern auch zu formen.

Boettcher geht zwar gnädig davon aus, dass der Publikumsgeschmack der Deutschen nach dem verlorenen Krieg zutiefst provinziell und kitschig war, quasi der richtige Resonanzboden für Heile-Welt-Schlager. Aber wie bildet sich eigentlich ein Musikgeschmack, wenn alle Radios nur Allerweltsschlager rauf und runter dudeln? Wenn immer nur dieselben von den Herren der Plattenfirmen, Radiosender und Studios aufgebauten Sternchen zu hören sind und alle Kanäle besetzen?

Nicht nur im Film fällt das Zitat von der begnadeten Sängerin, die zur falschen Zeit am falschen Ort versuchte, Erfolg zu haben. Ihre größten Erfolge feierte Inge Brandenburg in Frankreich, Belgien und Schweden. Die Schweden schwärmten von ihrer rauchigen Stimme, die den Stimmen der großen amerikanischen Sängerinnen das Wasser reichen konnte. Eine Ausnahmeerscheinung.

Aber Ausnahmeerscheinungen haben im deutschen Musikbusiness kaum eine Chance. Daran hat sich nichts geändert. Bis heute nicht. Nur dass moderne Medien den wirklich beeindruckenden Ausnahmen heute wenigstens eine Nische geben, einen Ort, wo sie gefunden werden können, wenn sie aus der Wahrnehmung der oft genug gnadenlosen Kritik verschwunden sind.

Natürlich wird Inge Brandenburgs Schicksal noch verständlicher, wenn man um ihre harte und traurige Kindheit weiß. Der eisige Februar 1929 steht im Grunde schon symptomatisch für ihr ganzes Leben. In Leipzig hat der Winter so gnadenlos zugeschlagen, dass keine Straßenbahnen mehr fahren und Inges Mutter den weiten Weg von der Wurzner Straße zur Frauenklinik zu Fuß laufen muss. In Leipzig sind Inges Eltern gelandet, nachdem sie in Berlin ökonomisch gestrandet sind. Der Vater hatte eine längere Haftstrafe abgesessen. Nicht seine letzte, denn gleichzeitig ist er auch noch überzeugter Kommunist, was ihn später, als die Familie in Dessau endlich eine sichere Zukunft gefunden zu haben glaubt, seine Arbeitsstelle bei den Junckers-Werken kostet. Am Ende sterben sowohl Inges Mutter wie ihr Vater in der Mordmaschine der Nazis. Inge erlebt einen großen Teil ihrer Kindheit im Heim und lernt früh die Lieblosigkeit und Verachtung eines Systems kennen, das Kinder aus den „falschen“ Familien zu „Verbrecherkindern“ macht.

Es deutet Vieles darauf hin, dass sowohl diese Kindheitserfahrungen als auch die Zeit nach dem Krieg, Inges Flucht in den Westen und die ersten harten Jahre der Ankunft tiefe Spuren in ihrer Psyche hinterlassen haben. Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit vermischen sich mit fehlendem Vertrauen und dem Willen, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen.

Wenn man die Karriere von Inge Brandenburg an dem misst, was ihr eigentlich – etwa verglichen mit einer Ella Fitzgerald – hätte möglich sein können, dann ist ihr Leben ein einziges Leben der Tragik, ein Scheitern an starren Verhältnissen, dem Unverständnis der Entscheider und der Ignoranz eines Publikums, das lieber Heimatfilme schaute und kitschige Liebeslieder hörte.

Man kann aber auch die Perspektive ändern, muss man sogar. Denn auch einige ihrer Musikerkollegen schauen – auch wenn sie das Können von Inge Brandenburg zu schätzen wissen – aus der Perspektive des Erfolgreichen auf diese Unangepasste, Widerborstige herunter, auf ihre Unstetigkeit, ihre Suche nach Liebe und Akzeptanz. Es ist schon erstaunlich, dass die 65-Jährige zum ersten Mal mit Verblüffung hört, dass ihre einstigen Kollegen mit Hochachtung von ihrem Können sprechen. Das haben sie augenscheinlich damals, als alles noch möglich war, nicht fertiggebracht. Vielleicht auch, weil diese junge Sängerin mit der einmalig sinnlichen Stimme stets professionell wirkte, sich hineinkniete in ihre Profession und bestens vorbereitet zu allen Proben und Auftritten erschien. Wer lobt schon eindrucksvolle Frauen, die ihre Arbeit derart perfekt beherrschen? Und wer fragt schon nach, ob sie davon auch leben können, ob die Gagen stimmen und genug Auftritte zusammenkommen?

Und dazu kommt etwas, was ihre einfühlsamsten Wegbegleiter am Ende sehr genau analysieren können: Wie sehr sich die Leute, die über Geld, Senderzeit und Aufnahmestudios verfügten, all die Jahre bemüht haben, diese Sängerin gefügig zu machen, in ihre Schlager-Schnulzen-Schablonen zu pressen und eigentlich alles zu zerstören, was den Gesang dieser Frau so unverwechselbar machte: ihren Jazz, ihren Blues, ihren Soul, ihren Swing.

Plattenfirma um Plattenfirma wird für Inge Brandenburg zur herben Enttäuschung, weil immer nur der schnelle Erfolg gefragt ist. Und wenn man schon Jazz auflegt, dann bitte nur mit amerikanischen Künstlern. Einige der besten deutschen Jazz-Musiker sind deshalb in den 1950er Jahren auch ausgewandert und haben in den USA erfolgreiche Karrieren hingelegt.

Das Beeindruckendste an dieser Inge Brandenburg ist eigentlich, dass sie sich nicht aufgegeben hat, dass sie immer wieder neue Wege versuchte, letztlich auch zum Theater ging, um als Schauspielerin zu zeigen, dass sie niemals halbe Sachen machte. Aber wie lange hält man das durch, wenn dem einen Erfolg immer gleich wieder die nächste Durststrecke folgte, Zeiten ohne Engagement, ein Leben in Armut?

Es ist schon erstaunlich, wie frivol einige Zeitzeugen da über die heftigen Szenen reden können, zu denen sich Inge Brandenburg hinreißen ließ – meist unter Alkoholeinfluss und in Phasen der größten Bedrängnis. Dabei versteht man ihre Wut, ihre Ängste und auch ihre Verzweiflung.

Und insgesamt erzählt ihr Schicksal im Grunde die Geschichte, wie sie in „Ein Mädchen von heute“ erzählt worden sein muss, in dem Inge zwar nur eine wütende Szene hatte – aber eine, die alles komprimierte, was ihr prekäres Schicksal als begnadete Sängerin auf den Punkt brachte – auch ihre Verzweiflung.

Eigentlich wundert man sich nicht mehr, warum das Musik-Business in Deutschland größtenteils derart banal, flach und verlogen ist. Es hat sich ja nicht wirklich viel geändert, im Gegenteil, der Trend zur Verflachung ist eher noch stärker geworden.

Umso erstaunlicher ist, dass es trotzdem eine kleine Inge-Brandenburg-Wiederentdeckung gibt, die eine wachsende Schar von Musikfreunden bewegt. Was sich schon 1991 andeutete, als einige ihrer Lieder erstmals auf CD kompiliert wurden, und dann 1994, als sie tatsächlich eine kleine Comeback-Tournee feierte. Denn treue Freunde in der Musikerszene hatte sie noch – auch wenn sie privat sehr vereinsamt war. Umso tragischer dann auch ihr lautloser Tod 1998. Ohne den sensationellen Fund von 2001 hätte auch dieses Buch nicht so reich bebildet werden können.

Natürlich hat Leipzig gar nichts zu diesem Talent und dieser Karriere beigetragen. Aber es ist nun einmal das erste, von Armut geprägte Kapitel in diesem Leben. Da gibt es also eine gebürtige Leipzigerin, die auch die Leipziger für sich erst einmal entdecken können. Und dieses Buch nimmt sie mit auf diese Reise in das so von Erschütterungen, Träumen und Enttäuschungen geprägte Leben des Mädchens, das sich 1945 – trotz aller Gefahren – in die Westzonen durchschlug, um dort die Chance ihres Lebens zu finden und festzuhalten. Mit aller Kraft. Dieser Wille, dranzubleiben, gerade dann, wenn es richtig hart wird, der ist am Ende das Vertrauteste in diesem Schicksal. Da kann man gar nicht anders, als nach dieser Musik zu suchen.

Und das, was man an alten Aufnahmen findet, bestätigt jedes Lob ihrer Kollegen: In dieser Stimme liegt eine unbändige Kraft, diese Sängerin ist immer ganz da und reißt ihre Zuhörer mit, wenn sie eintaucht in den Blues. Oder den Swing. Oder den Jazz. Denn bei den Granden scheiterte sie ja auch, weil sie wirklich die ganze Palette beherrschte. Den Einfältigen ist das immer viel zu viel. Das bekommen sie in ihre Gewinnplanungen nicht hinein. Und wenn der Mensch dann auch noch widerspricht und einen eigenen Kopf hat, reagieren sie genauso, wie sie es in Inges Leben immer wieder getan haben: mit Ignoranz, Geringschätzung, Verachtung und Verweigerung. Männer eben. Typische Männer eben. Man kann es nicht anders sagen.

Am Ende ist man traurig. Aber man hat ja noch ihre Musik, zumindest das, was gerettet wurde. Und das ist mehr, als die meisten Schlagersternchen je zuwege gebracht haben.

Marc Boettcher Sing! Inge, sing!, Parthas Verlag, Berlin 2016, 24 Euro.
DVD Sing! Inge, sing!, Salzgeber, 19,90 Euro.

Der Clip für den Film „Sing! Inge, sing!“

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