In unserer heutigen Zeit der namenlos gewordenen Massenprodukte ist eine Reise in die Design-Welt des frühen 20. Jahrhunderts zuweilen ganz erhellend. Denn damals wurde das moderne Design in die Welt gebracht. Und zwar von Künstlern, die damals alle einen renommierten Namen hatten. Doch diese Welt steckt in alten Firmenarchiven. Sofern diese noch überlebt haben.

Was im deutschen Osten ja eher die Ausnahme ist als die Regel. Was an Archivbestand den großen Krieg und die Verstaatlichung in der DDR überlebt hat, landete in großen Teilen nach 1990 in Containern, als die Treuhandpolitik das Land rasierte und nur wenige Unternehmen eine Chance auf einen Neustart bekamen.

Was zwar auch nicht bedeutete, dass sie sich unter den neuen Marktbedingungen würden behaupten können. Aber im Fall der 1883 in Wurzen gegründeten Teppichfabrik, die aus der 1856 gegründeten Wollstaubfabrik Schütz hervorgegangen war, bedeutete der mutige Neustart nach 1990 zumindest eine kleine Verlängerung bis 1995, bis das Unternehmen schon aufgrund der landesweiten Billigkonkurrenz vom Markt verschwand, das Archiv aber gerettet und in das Kulturhistorische Museum Wurzen integriert wurde.

Dort liegt es noch, unaufgearbeitet bis heute. Nur dann und wann wagen sich junge Forscherinnen und Forscher in die Bestände, in der Regel mit sehr spezieller Neugier. So wie Sandra König, die in den Beständen nach Arbeiten des Architekten und Gestalters Albin Müller suchte, der sich nach dem Ersten Weltkrieg Albinmüller nannte und dessen architektonische Arbeiten heute noch in etlichen Städten zu sehen sind. In Magdeburg zum Beispiel oder in Darmstadt. In Leipzig nicht. Denn als andere deutsche Städte den Mut zu den neuen Formen der Architektur fanden, baute sich im Leipziger Rat eine regelrechte Opposition gegen die insbesondere durch Stadtbaurat Hubert Ritter verkörperte Moderne auf.

Da findet man also nichts. In Wurzen schon. Denn die Teppichfabrik beteiligte sich frühzeitig an all den Modernisierungsprozessen im Wohndesign, die mit dem Jugendstil und der neuen Sachlichkeit das Wohnen völlig veränderten. Man sammelte Preise ein auf internationalen Messen und Ausstellungen. Und man verpflichtete hochkarätige Künstler, um Teppichdesigns für den eigenen Katalog zu entwerfen.

Nur so als Randnotiz: Georg Bötticher, der Vater von Joachim Ringelnatz, war Chefdesigner der Fabrik.

Zweite Randnotiz zum Wollstaub im ersten Unternehmensnamen: Das ist tatsächlich der Staub aus der (industrialisierten) Wollproduktion, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet wurde, um Strukturtapeten für die gutbürgerlichen Wohnzimmer herzustellen. Die Hochzeit dieser Tapeten ging zu Ende, als um 1870 der sogenannte Historismus das Denken und Handeln in der deutschen Innen- und Außenarchitektur bestimmte. Das neue Kaiserreich suchte nicht nur seine Wurzeln, sondern auch seine Darstellung in der Vergangenheit – und erfand noch einen ganzen Berg von Historisierungen obendrauf. Ein Ergebnis dessen waren die mit dunklem Holz vertäfelten Wohnzimmer der Bürger, die mit schweren Holzmöbeln zugestellt waren und das Gefühl vermittelten, in einer altehrwürdigen Burgstube gelandet zu sein.

Das war nichts für die Inhaber der Teppichfabrik. Mit dem Beginn der Teppichfabrik setzten sie auf einen anderen, wirklich modernen Trend. Denn vorher waren Teppiche in bürgerlichen Haushalten nicht bekannt. Sie kamen erst mit der neuen Begeisterung der westeuropäischen Künstler für den Orient in größerer Stückzahl nach Europa und regten hier eine eigene Produktion an, die selten mit der Qualität der orientalischen Teppiche mithalten konnte. Was dann um 1900 die Vertreter einer neuen, von Licht und Farbe dominierten Lebenswelt auf den Plan rief.

Heutige Historiker, die diese Zeit versuchen zu beschreiben, haben aber ein Problem: Es gab noch keine Farbfotografie. Die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen der von namhaften Künstlern gestalteten neuen Arbeits-, Wohn- und Repräsentationsräume wirken (aus heutiger Sicht) doch wieder sehr schattig und schwergewichtig. Was sich natürlich sofort ändert, wenn man die Bilder mal mit den wirklich zugemöbelten Interieurs des Historismus vergleicht, der auch in Leipzig lieber als Gründerzeit verkauft wird, obwohl es eine Klotz- und Protzzeit war. Im Grunde der sichtbare Beweis, dass das neue deutsche Bürgertum sich kulturell in der Vergangenheit beheimatet sah – nicht in einer kreativen und farbenfrohen Zukunft.

Und das Besondere am Archiv der Teppichfabrik in Wurzen ist: Hier haben auch die großen Musterbücher überlebt, in denen sich kleine Farbmuster der einst produzierten Teppiche bewahrt haben. Und damit ändert sich der Blick – auch auf die von Albinmüller gestalteten Zimmer, die in Schwarz-Weiß so grau und schwer aussehen. Und nun entdeckt man auf einmal, dass der Teppich im Bild eigentlich von einem zarten Grün oder einem satten Blau oder Rot ist. Auf einmal merkt man, dass der Jugendstil und die aufkommende neue Sachlichkeit von satten, kräftigen Farben getragen waren. Auf einmal kann man sich vorstellen, mit welcher Freude der Fabrikbesitzer an seine Arbeit ging, wenn er das Büro mit dem leuchtend blauen Teppich betrat, oder wie das Speisezimmer auf einmal frühlingshaft wirkte, weil der Grundton des mit kachelförmigen Mustern versehenen Teppichs ein frisches Grasgrün ist.

Einige der von Albinmüller entworfenen Räume haben sich zwar erhalten – aber vor allem die einst farblich aufeinander abgestimmten Teppiche, Polsterbezüge und Vorhänge sind verschwunden. Sie halten sich ja selten 100 Jahre. Aber indem Sandra König mit Hilfe der Wurzner Teppichmuster die alte Farbigkeit wieder rekonstruiert, kann man sich sehr gut vorstellen, wie modern, licht und lebendig diese Räume damals gewirkt haben müssen. Gerade auf jene Gutbetuchten, die in der überladenen und holzbeschwerten Welt des Historismus aufgewachsen waren.

Sandra König streift natürlich auch die Arbeiten der Künstlerkollegen von Albinmüller, die ebenfalls Muster für die Wurzner Teppichproduktion entwarfen. Auf die Geschichte der Fabrik geht sie nur kurz ein. Wenn sich jemand mit diesem Gebiet der modernen Wohnungsausstattung einmal näher beschäftigt, wird das garantiert genau so ein dickes Buch, wie es Thomas Nabert über die Geschichte der sächsischen Möbelindustrie schrieb. Und es würde ein Buch über Lebensgefühl und kulturelle Entwicklungen werden, über den Einfluss von Jugendstil und Werkbund auf das neue Lebensgefühl um 1900. Das nachher so fremd wirkte, weil das ganze Land sich wieder in alte Mythen und einen mit schwerem Plunder überladenen Nationalismus stürzte.

Selbst so ein kleiner Ausflug in die Designgeschichte zeigt, wie sich politische Strömungen in der Alltagsgestaltung spiegelten und spiegeln. Das hat sich ja nicht geändert. Wir leben ja wieder in Zeiten, da die Freunde des alten Plunders versuchen, allen anderen „unsere Werte“ aufzudrängen. Auch aus Angst vor dieser lichten und farbenfrohen Grenzenlosigkeit, die sich in den damaligen Arbeiten des Werkbunds erstmals in aller Breite zeigte. Und die Schnörkelliebhaber natürlich verstörte.

In Wurzen wurden die Arbeiten Albinmüllers im Kulturhistorischen Museum vom 18. September bis zum 30. Oktober gezeigt. Dieses Begleitbuch bündelt natürlich, was Sandras König alles zusammengetragen hat zum Leben und Wirken des Künstlers und damit auch zur Rolle der Teppichfabrik in einer Zeit, die eigentlich auf dem Weg war, eine moderne zu werden. Und die auch das Zeug dazu hatte. Und die in Teilen natürlich nachwirkt bis heute, auch wenn die Namen der Designer hinter den Objekten und den Marken verschwinden. Die Kehrseite des viel behaupteten Individualismus von heute ist eine sichtbare Entpersönlichkeit menschlicher Arbeit. Und auch eine Entwertung des kreativen Schaffens. Nicht nur im Designbereich – wo ein paar Stars gefeiert werden, deren Arbeiten aber im Alltag keine Rolle spielen. Während der große, konsumierende Rest mit Duplikaten und gesichtlosen Produkten abgespeist wird, die nichts mehr ahnen lassen von den einstigen Ambitionen der Künstler und Unternehmer, die sich im Werkbund engagierten.

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