Alle schauen wie gebannt auf die diversen Klimagipfel – nun auf den in Marrakesch. Als wäre zu erwarten, dass die versammelten Staatsoberhäupter dort einen Ausweg aus der Krise beschließen könnten, in die die komplette Staatengemeinschaft mit Vollgas hineinrast. Möglichst einen Ausweg, der niemanden zu einem Verzicht zwingt. Schon gar nicht uns. Dabei gibt es einen solchen Weg nicht – nicht, wenn wir uns nicht gründlich ändern.

Und damit sind wirklich wir gemeint: die Bewohner der nördlichen Hemisphäre, der westlichen Welt, der scheinbar so vorbildlichen Bundesrepublik, deren Regierende gern so tun, als müssten nun Chinesen und Inder „die Kurve kriegen“. Und nicht wir. Gar auf Wohlstand verzichten? Oder Wachstum?

Obwohl: Rein rechnerisch wissen es alle. Ein endlicher Planet wie die Erde kann kein unendliches Wachstum tragen. Irgendwann sind alle Grenzen erreicht. Die Frage ist nur: Wann?

Aber Nobert Nicoll holt weit aus für sein Buch. Denn wer die „Grenzen des Wachstums“ verstehen will, muss wissen, warum wir wie besessen sind vom Wachstum, dem Stoff, der unsere Gesellschaft zum Rasen bringt – oder in Panik versetzt, wenn es „schwächelt“ oder gar ausbleibt. Eigentlich hätte der promovierte Politikwissenschaftler Nicoll drei Bücher schreiben können. Er hat lieber alles in eins gepackt, damit auch die üblichen Fachexperten merken, dass alles mit allem zusammenhängt.

Weder ist der Klimawandel ein Einzelphänomen (weshalb es als Problem auch nicht auf Klimakonferenzen gelöst werden kann), noch stehen die zunehmende Armut, die Land- und Waldvernichtung für sich, genauso wenig wie die Kriege im Nahost „einfach so“ passieren  oder die Flüchtlingstrecks aus Nordafrika „einfach so“ aufbrechen über das unsichere Mittelmeer. Denn hinter all den Zerstörungen unserer Welt, den geplünderten Landschaften, leer gepumpten Wasserreservoiren, leer gefischten Meeren und in Schulden gestürzten Ländern und Menschen steht kein einzelner „böser Wille“. Die Sache hat System. Sie steckt tief drinnen im Bauplan unserer Wirtschaftsweise, die nun einmal vom Kapital getrieben ist – einem Kapital, das immerfort nach neuen Möglichkeiten zur Vermehrung sucht. Und nur wenn es noch mehr Gewinn riecht, investiert es sich auch, sorgt dafür, dass der Laden am Laufen bleibt und die Wirtschaft wächst.

Nicoll nimmt seine Leser mit in die Geschichte, erzählt von den vielen Jahrtausenden, in denen menschliche Gesellschaften auch ohne permanentes Wachstum überlebten, erzählt von Gesellschaften, die untergingen, weil sie mit ihrem (für die Zeitgenossen sicher grandiosen) Wachstum ihre natürlichen Lebensgrundlagen zerstörten. Das legendäre Zweistromland gehört übrigens dazu. Nicht ohne Grund haben die Legenden vom Paradies Eingang in die Bibel gefunden. Die Geschichte der frühen Staaten an Euphrat und Tigris ist auch eine Geschichte der Zerstörung von Lebensgrundlagen, vom Sterben einst blühender Länder und von immer neuen chaotischen Epochen, in denen Kriege um Landflächen und Ressourcen geführt wurden.

Das nur als Abstecher. Nicoll streift die Geschichte der an ihrem Wachstum zugrunde gegangenen Staaten nur kurz, auch weil diese Länder allesamt noch agrarisch geprägte Staaten waren – bis hin zu Griechenland und Rom, die Wälder und fruchtbare Böden später genauso gedankenlos abholzten bzw. der Erosion preisgaben. Bislang werden Geschichtsbücher immer noch auf handelnde Personen, Kaiser, Fürsten und Kriegsherren zugeschnitten. Die meisten Historiker haben noch nicht einmal begriffen, dass kriegerische Konflikte fast immer nur das Resultat drastischer Veränderungen innerhalb der Gesellschaft waren – von Hungersnöten, Verlust der wirtschaftlichen Grundlagen, dem Erodieren der Fundamente, die einer Gesellschaft zeitweise Wohlstand und Frieden gebracht haben.

Frieden ist kein Ergebnis von Gebeten oder besonders inniger Religionsausübung, sondern erzählt von der wirtschaftlichen Stabilität von Gesellschaften. Er muss tatsächlich erwirtschaftet werden, denn alle friedlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens brauchen eine auskömmliche wirtschaftliche Grundlage.

Wir weichen schon ab von Nicolls Buch. Das Thema hat er auch nur gestreift. Im Abspann, wenn er die Frage stellt „Was tun? Leben statt unendlich wachsen!“, blättert er einige Denkansätze auf, wie wir aus der Falle Wachstum herauskommen. Ganz vorsichtig, weil er weiß, dass das ein richtiges Umdenken verlangt. Nicht nur von den Herren und Damen Staatsoberhäuptern. Sondern von uns allen. Wenn wir nicht selbst anfangen, unser Denken und Handeln zu ändern, werden wir sehenden Auges hineinrauschen in ein ganzes Bündel von Katastrophen. Lauter Peaks, an denen eine Ressource nach der anderen zu Ende geht und durch nichts mehr ersetzt werden kann.

Obwohl auch Nicoll klar ist: Der entscheidende Peak ist der Peak Oil – der Tag, an dem der Öldurst einer völlig vom Erdöl abhängigen Welt nicht mehr gestillt werden kann.

Was ist eigentlich Wachstum? Was ist Kapitalismus?

Und das versteht man sehr genau, wenn man mit Nicoll ganz zu Anfang gleich die Frage stellt: Was ist eigentlich Wachstum? Was ist Kapitalismus? Was hat eigentlich ab 1900 ungefähr dazu geführt, dass der Wohlstand – zumindest in der westlichen Welt – geradezu explodierte und wir heute in einer Welt leben, in der es alles jederzeit in Hülle und Fülle zu kaufen gibt und niemand mehr zufrieden ist, wenn er sich nicht jederzeit mit den neuesten Dingen der Warenwelt eindecken kann?

Nein, es lag nicht am Geld. Auch wenn der sich entfaltende Finanzmarktkapitalismus alle die gewaltigen technischen Investitionen für unsere moderne Industrie erst ermöglicht hat, indem er das Investitionskapital dafür zur Verfügung stellte. Aber alles Wachstum, stellt Nicoll fest, der den Leser auch auf Gebiete mitnimmt wie die Physik, die sonst in Wirtschaftslehren nie vorkommt, beruht auf Energie. Es ist umgewandelte Energie, zur Triebkraft gemachte Energie. Und die Zeit des aufblühenden Kapitalismus ist nichts anderes als die Indienststellung immer neuer, noch kräftigerer Energiequellen. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert haben die Menschen fast ausschließlich mit Holz geheizt. Das setzte jeder Entwicklung Grenzen.

Für die neuen Technologien – Eisenbahnen, Dampfmaschinen usw. – brauchte man schon einen anderen Brennstoff, den man mit der Kohle fand. So nebenbei setzte man da freilich schon die Aufladung der Atmosphäre mit CO2 und den künftigen Anstieg der Lufttemperaturen in Gang. Aber daran verschwendeten die Engländer in ihrer russumwölkten „Schmiede der Welt“ keinen Gedanken. Es brauchte tatsächlich über 100 Jahre, bis selbst die Wissenschaftler begriffen, wie groß der Eingriff der Menschen auf einmal in den Temperaturhaushalt der Erde war.

Aber die neue Gesellschaftsform war energiehungrig und erschloss sich um 1900 flächendeckend eine noch viel energiereichere Quelle: das Erdöl. Nur so als Nebengedanke, der bei Nicoll auch keinen Platz gefunden hat: Sämtliche vernichtenden Kriege des 20. Jahrhunderts sind ohne Erdöl nicht denkbar. Deswegen taucht der „Peak Oil“ seit ein paar Jahren in allen strategischen Papieren der US-Army, der NATO und mittlerweile auch der Bundeswehr auf. Mal unter dem Aspekt der Ressourcensicherung (alle Kriege in Nahost werden eigentlich um den wertvollen Zugriff auf Erdöl geführt), immer stärker aber auch unter dem Aspekt: Wie instabil wird eigentlich eine Welt, wenn die wertvollsten Energiequellen versiegen? Wenn die Staaten der Welt ihren Energiebedarf nicht mehr decken können, wenn all die energieaufwendigen Transportsysteme der Globalisierung keinen Sprit mehr haben und der Handel zusammenbricht?

Denn Globalisierung ist ja nur ein anderes Wort für mehrere Dinge – das eine ist die Einbindung immer neuer Produktions- und Absatzmärkte in die kapitalistische Wachstumsmaschine. Das andere ist aber auch das, was Stephan Lessenich in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ ausführlich geschildert hat: die Externalisierung aller negativen Folgen, die dieses von einem Hunger nach immer neuen billigen Ressourcen besessene System mit sich bringt. Externalisierung heißt schlicht: Um Produkte immer billiger zu machen, werden viele Kosten auf andere abgewälzt, ausgelagert oder schlicht ignoriert. Allen voran Umweltschäden, aber auch die Folgen fürs Klima, die Plünderung von Nahrungsgrundlagen in hunderten Ländern der „Dritten Welt“ – und am Ende auch die gesellschaftlichen Kosten. Denn wirtschaftlich geplünderte Länder neigen ziemlich zwangsläufig zur Instabilität und werden leichter zum Spielfeld gnadenloser Regime oder – was noch viel wahrscheinlicher ist – von Bürgerkriegen und terroristischen Bewegungen.

Der Terrorismus von heute hat seine Wurzeln in der Ausplünderung einer kompletten Welt von Nordafrika bis nach Afghanistan.

Das ist die Stelle, an der man wieder zu den Büchern von Noam Chomsky („Wer beherrscht die Welt?“) und Oliver Stone („Amerikas ungeschriebene Geschichte“) greifen kann. Denn die Geschichte des „Weltpolizisten“ USA begreift man nur, wenn man weiß, dass dahinter eine Doktrin des unbeschränkten Zugangs zu den wertvollsten Rohstoffquellen in aller Welt liegt. Und viele dieser Quellen liegen in dem Ländergürtel vom Hindukusch bis in den Nahen Osten. Nur wer den Zugriff auf – möglichst billige – Rohstoff- und Energiequellen hat, kann daheim die kapitalistische Wachstumsmaschine am Laufen halten. Der westliche Wohlstand hängt wie ein Trinker an der Flasche – einer Flasche vor allem mit billigem Öl.

Und wer auch nur einfach mal aufzählt, was alles aus Erdöl produziert wird, wie viele Produkte unseres Alltags ohne Erdöl gar nicht existieren würden, der dürfte zumindest ein mulmiges Gefühl bekommen und die Nachrichten über geschätzte Ölvorräte, neu gefundene und versiegende Ölfelder und die Schwierigkeiten, neue Felder zu erschließen, genauer lesen.

Norbert Nicoll geht auch noch auf etliche andere Rohstoffe ein, ohne die unser Wohlstand nicht funktioniert, die aber irgendwann im Laufe dieses Jahrhunderts alle zur Neige gehen. Vom Phospor über die Seltenen Erden bis hin zu fruchtbaren Böden und vor allem: Wasser. Denn die Staaten der westlichen Welt „fressen ja auch die Welt“. Sie importieren riesige Mengen von Nahrungsmitteln aus Ländern, die selbst kaum ihren Nahrungsbedarf decken können, die ihre Wälder für diesen Lieferdienst an einen satten Norden opfern oder – was noch viel schneller fatale Folgen zeitigt – ihre kargen Wasserreserven. Sie pumpen die uralten unterirdischen Reservoire leer, um riesige Felder künstlich zu bewässern, Seen trocknen aus, Flüsse werden zu Rinnsalen. Einige Kriege der nächsten Zukunft werden um Wasser geführt.

Und mit den eigenen Ressourcen gehen die westlichen Staaten nicht viel schonender um. Auch hier erodieren die Böden, zerstören riesige Monokulturen das ökologische Gleichgewicht. Vom Umgang der Amerikaner mit ihren Wasserreserven muss man da gar nicht reden.

Auch nicht von den dämlichen journalistischen Schlagzeilen, dass wir dann halt eine zweite Erde bräuchten, wenn diese eine nicht reicht.

Wir haben aber keine.

Wir zerstören gerade in einem unerbittlichen Tempo alle unsere Lebensgrundlagen auf diesem Planeten. Was keine ganz neue Botschaft ist. Manche Leute haben sich ja schon regelrecht daran gewöhnt und benehmen sich so, als gelte es jetzt nur noch einmal so richtig einen draufzumachen.

Begriffen haben sie nichts. Nicht die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ist zwangsläufig. Zwangsläufig ist nur unsere Wirtschaftweise, die kein Innehalten, kein Stagnieren kennt, die immerfort Wachstum produzieren muss, um den Wohlstand zumindest in den westlichen Staaten zu sichern. Was erst eine Art Stillhalteabkommen innerhalb der Demokratie ergibt: Solange die Mehrheit einigermaßen mithalten kann in der Jagd nach persönlichem Wohlstand, solange scheint auch das ziemlich anstrengende System Demokratie zu funktionieren.

Das ist übrigens eine Stelle, an der Nicoll auf eine andere Ressource zu sprechen kommt, die ebenso immer knapper geworden ist: die Ressource Zeit.

Denn ein Wirtschaftssystem, dass sich alles, wirklich alles dienstbar zu machen und in Geld zu verwandeln versucht, das greift auch auf die persönlichen Ressourcen der Menschen zu, macht sie rund um die Uhr zu Teilen einer Maschine, die immer schneller rasen muss, um (auf das Bild kommt Nicoll ganz am Ende des Buches) mit immer mehr Energie und Aufwand nur noch den Status quo zu halten.

Das ist eigentlich schon der Punkt, an dem die Vertrauensbasis beginnt zu erodieren. Wofür auch eine Revolution gesorgt hat, die den meisten Menschen nicht einmal bewusst ist: die sogenannte neoliberale Revolution, die mit Ronald Reagan und Margret Thatcher in den 1980er Jahren die komplette westliche Welt erfasste – samt Demontage der staatlichen Bereiche und Sozialsysteme, der massiven Steuersenkung für die Reichen und Gutverdienenden und der vollkommenen Deregulierung der Finanzmärkte mit allen Folgen, für die die Bürger der westlichen Welt seit 2008 allesamt teuer bezahlen.

Eines ist klar, wenn man Nicolls Ausflug in die Welt der immer knapper werdenden Ressourcen hinter sich hat: Wenn wir uns vom irren Glauben an ein ewiges Wachstum nicht verabschieden und andere Wege zur Sicherung unserer Existenz beschreiten, werden wir Probleme bekommen, wie sie noch keine Generation vor uns hatte. Wobei das Wort Krise wohl zu schwach ist. Schock wäre wohl das bessere Wort. Und es ist nicht unbedingt so, dass noch viele Handlungsoptionen offenbleiben, wenn die wichtigsten Rohstoffe für unser wildes Wachstum nicht mehr zur Verfügung stehen.

Für das Erdöl gibt es bis heute keinen absehbaren Ersatz. Vielleicht wird das der Knackpunkt. Vielleicht wird es eines der anderen Güter sein, die in den nächsten 10, 20 Jahren ihren Peak erreichen.

Und eines ist ebenfalls klar: Wir müssen tatsächlich aus dem Wachstumsdenken, wie es heute überall gepredigt wird, aussteigen. Und zwar richtig, nicht nur ein bisschen: weniger Energieverbrauch, weniger Luxuskonsum, weniger spritgetriebene Mobilität … Man ahnt auch bei Nicolls Anregungen, dass ein Umdenken nicht nur zwingend, sondern machbar ist. Auch wenn er vorsichtig ist mit seinen Anregungen, denn eigentlich ging es ihm darum, systematisch zu zeigen, wie die Wachstums-Ideologie, der wir gegenwärtig nachhecheln, den Planeten und unsere Existenzgrundlagen zerstört. Und zwar in einem atemberaubenden Tempo, das uns nicht wirklich viel Zeit lässt, die Weichen umzulegen.

Da könnte man Pessimist werden – oder zutiefst sarkastisch. Oder man überwindet seinen inneren Schweinehund und beginnt selbst, die Dinge zu ändern. Denn im Persönlichen fängt es an. Wir selbst müssen dem Wachstumsglauben den Boden entziehen.

Das ist auch eine Botschaft, die von den Predigern dieses Wachstums ganz bestimmt nicht gern gehört wird. Denn sie bedeutet auch: eine andere Gesellschaft mit einem anderen Denken über Werte, die wirklich wichtig sind, ist möglich. Nur nicht mit diesem entfesselten Wachstumswahn.

Norbert Nicoll Adieu, Wachstum!, Tectum Verlag, Marburg 2016, 18,95 Euro.

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