Mit dem „Bilderbogen“ von 2010 startete Pro Leipzig eine intensive Beschäftigung mit der Leipziger Geschichte der Ansichtskarten. In tausenden Motiven hat sich Leipziger Stadtgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert auf den bunten Postsendungen erhalten. Aber nicht nur die große Stadt Leipzig findet sich in hunderten schönen Bildern: Jeder Ortsteil hat das Zeug zum Bilder-Star.

Das hat Pro Leipzig nun schon mit sechs großen Ansichtskarten-Bänden zu Leipziger Ortsteilen gezeigt. Dabei kooperiert Herausgeber Thomas Nabert mit den Sammlern und Kennern ihres Spezialgebietes. Und in der Regel stellt sich dann nicht nur heraus, dass man unter Hunderten eindrucksvoller Motive auswählen kann – man kann und muss auch noch die Geschichten dazu erzählen. Oder erlebt, was Thomas Nabert und Jürgen Winter nun zu den Ortsteilen im Leipziger Südwesten erlebten: Man wird regelrecht zur Recherche gezwungen. Denn all diese Karten stecken voller Informationen.

Es sind Sehenswürdigkeiten darauf abgebildet, die heute oft genug verschwunden sind oder anders genutzt werden und nicht mehr erkennen lassen, welche wichtige Funktion sie einst im Leben des Dorfes spielten. Denn alle die in diesem Band vertretenen Ortsteile waren noch weit ins 20. Jahrhundert hinein eigenständige Gemeinden. Knautkleeberg wurde 1930 eingemeindet und verband die Eingemeindung mit der berechtigten Forderung, nun auch Anschluss ans Leipziger Straßenbahnnetz zu bekommen. Was dann auch – auf Ansichtskarten zu bewundern – geschah. Erst fuhr ein Bus, 1935 wurde die neue Strecke „unter großer Anteilnahme der Bevölkerung“ in Betrieb genommen.

Die Neu-Leipziger wussten damals sehr genau, was so eine Strecke bringt. Und so nebenbei erfährt man auch noch, dass man mit der Linie 4 vom Bahnhof Knauthain bis nach Engelsdorf fahren konnte. Das versuche mal heute einer. Er wird scheitern. Warum der Bahnhof an der Eisenbahnlinie nach Zeitz eigentlich Knauthain heißt, obwohl man ja eben gerade mit der Straßenbahn (heute der Linie 3) nach Knautkleeberg gefahren ist, erfährt man ganz beiläufig in einer Bilderläuterung: Ein Knick im Bürgersteig der Dieskaustraße zeigt an, wo beide Dörfer einst aufeinanderstießen und zusammenwuchsen. Knauthain wurde übrigens 1936 zusammen mit dem Gut Lauer eingemeindet, zu dem es auch eine kleine Bilderstrecke gibt, genauso wie zu Cospuden. Beide Orte sucht man ja heute vergeblich. Beide wurden Opfer des Kohlebergbaus. An das Gut Lauer erinnert der Waldsee Lauer, an den Ort Cospuden der Cospudener See. Zwei große Landkarten im Vorsatz des Buches zeigen, wie das um 1890 da draußen aussah – und wie heute.

Hartmannsdorf wurde 1993 eingemeindet, Rehbach 1999.

Alle diese Orte gehören irgendwie dazu, zu diesem allesverschlingenden Leipzig, haben aber durch ihre Lage auch eine gewisse dörfliche Abgeschiedenheit „hinter den Pappeln“ bewahrt. Diese Pappeln standen einst als Alleebäume an der Straße von Großzschocher-Windorf nach Knautkleeberg. Sie sind fast alle verschwunden. Und damit ging auch ein wenig das Wissen verloren, wie beliebt diese Orte einst für die Leipziger als Ausflugsziele waren. Selbst der Bahnhof Knauthain profitierte mit einer großen Restauration von den Ausflüglern. Ratskeller florierten, Gasthöfe, das Forsthaus in Knautkleeberg, die Gaststätten zur Post und zur Erholung. Viele mit großen Freisitzen, „staubfrei“, wie die Werbeannoncen verkünden. Man spürt, wie die vielen kleinen Informationen auf den Karten die beiden Autoren erst recht neugierig machten.

Denn viele der Karten waren ja auch gleichzeitig Werbekarten für die einst gemütlichen und beliebten Ausflugsziele. Die Leipziger organisierten ihre Wochenendausflüge dorthin und sendeten eben keine SMS an ihre Lieben, wo sie sich gerade befanden, sondern schrieben kurze, neckische Grüße in die freien Felder auf den Karten – und ab damit in den Briefkasten. Auf den Karten finden sich dann die Namen der Gaststätten und der aktuellen Inhaber. Da lohnt sich der Blick in alte Adressbücher. Und auf einmal werden Schicksale sichtbar, lassen sich schon über wenige Jahre Unternehmensgeschichten erzählen, wird abgerissen, neu gebaut und angebaut.

Aber auch Handwerker und Kaufleute gaben eigene Postkarten heraus, Hausbesitzer bestellten Motive bei reisenden Fotografen. Sportvereine und Chöre lichteten ihre Mitglieder ab und kündeten von Siegen, Treffen, Stelldicheins. Es ist ein bisschen gefrotzelt, wenn ein Kapitel heißt „Mein Verein, mein Geschäft, mein Haus“. Aber eigentlich ist es das spannendste Kapitel. Auf einmal schaut man den Menschen in die Augen, die vor 100 Jahren in diesen stolzen Dörfern wohnten, die einen Aufschwung miterlebten, den auch diese Region vorher nicht kannte. Die wachsende Stadt Leipzig strahlte aus bis hierher, brachte den Wohnungsbau in Schwung und den – ja, kann man so sagen – Tourismus.

Den es auch heute noch gibt, auch wenn er aus dem Fokus der Touristiker fast verschwunden ist. Man fährt heute nicht mehr in die Harth zum Wandern oder an die Lauer, auch nicht an den einst grandiosen Elsterstausee, der sich in den 1930er Jahren zum ersten großen Ausflugssee der Leipziger entwickelte – und das auch blieb, bis ihm in jüngster Zeit das Wasser abgedreht wurde. Zur Legende geworden ist auch das berühmte Fortuna-Bad. Und einige stolze Karten erzählen auch davon, dass Knauthain einmal ein Zentrum des Motorradbaus war. Sogar die Freiwillige Feuerwehr von Knauthain fuhr mit „Alge“-Motorrädern.

Fußball wurde in der Flutrinne gespielt und in der Seumestraße 48 wohnte mit Paul Kloß ein so überzeugter Kommunist, dass selbst der heute verschwundene Hof zur „Roten 48“ wurde. Aber wenn der Postkartenblick von 1920 nicht trügt, ist das politische Engagement des Sohnes von Gärtner Friedrich Wilhelm Kloß nur zu erklärlich: Armut hat ein Gesicht. Und vielen der alten Gebäude auf den Postkarten sieht man an, dass das Leben in den Dörfern ganz bestimmt nicht so idyllisch war, wie in alten Romanen gern dargestellt. Der Stolz, der in den meisten Postkartenmotiven sichtbar wird, ist vor allem ein Stolz auf die neue Zeit – auf neue Gebäude, Gaststätten, Brücken, Tankstellen, Sportplätze und Schulen. Aus stillen Dörfern mit großen Dorfteichen entwickelten sich auf einmal kleinstädtische Siedlungen, Villen entstanden und sogar die Einweihung von Kriegerdenkmälern wurde auf einmal zum gesellschaftlichen Ereignis.

Ein ganzes Kapitel Vorort-Geschichte wird auf einmal fassbar. Noch ist der Graf von Hohenthal so etwas wie der Übervater im Ort – aber schon in den 1930er Jahren wird er sein Schloss an die Stadt Leipzig verkaufen, die eine Schule draus machen wird. Was auf den bunten Karten nicht zu lesen steht, findet der Leser in den kleinen Texten daneben, die gar nicht verraten, wie viel Arbeit da noch einmal drinsteckt. Arbeit, die den Autoren sichtlich Freude gemacht hat. Denn manche Geschichte war auch ihnen neu, ergänzt auch Bücher, die zuvor bei Pro Leipzig erschienen. Wieder wird ein Stück Leipziger Stadtteilgeschichte fassbarer und beinah so lebendig, dass man hineinklettern möchte in die Bildmotive und mal selber gucken, wie das Leben so war, als die Frauen würdevolle lange Röcke trugen und die Männer Kaiser-Wilhelm-Bärte. Als man sich im Sonntagsstaat im Konzertgarten traf und sich dabei in Knauthain schon so weit weg von Leipzig fühlte, dass man der lieben Lina daheim schnell ein paar überschwängliche Grüße aus der Sommerfrische schrieb.

Was erst vorstellbar ist, wenn man sich bewusst macht, dass man bis 1930 eigentlich nur mit der Eisenbahn hinkam. Oder auf Schusters Rappen.

Thomas Nabert, Jürgen Winter „Knauthain & Knautkleeberg mit Hartmannsdorf, Rehbach, Knautnaundorf und Cospuden. Der Leipziger Südwesten auf alten Ansichtskarten“, Pro Leipzig, Leipzig 2016.

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