Und, was schenken wir unseren Lieben zu Weihnachten? Eigentlich ist es unmöglich, dass einem nichts einfällt. Schon gar in der Buchstadt Leipzig, die 2015 das 1.000. Jahr ihrer Ersterwähnung feierte. Was dann auch in ein Projekt mündete, wie es sich Menschen, die auf Geschichte neugierig sind, wünschen: vier dicke Bände Stadtgeschichte. Der zweite liegt jetzt vor.

Er ist auch deshalb etwas Besonders, weil sein Herausgeber eigentlich Detlef Döring war, Historiker an der Universität Leipzig, „einer der besten Kenner der Leipziger Stadt- und sächsischen Landesgeschichte“, aber das Erscheinen des von ihm betreuten Bandes hat er nicht mehr erlebt. Er ist 2015, gerade 63-jährig verstorben. Eigentlich mitten in der Arbeit. Mehrere Publikationen der jüngsten Zeit erinnern an ihn. Und er hat auch diesen zweiten Band der Stadtgeschichte geprägt. Schon von der Organisation des eigentlich nicht zu bändigenden Stoffes her.

Denn die Zeit zwischen der Einführung der Reformation in Leipzig (1539) und dem Wiener Kongress (1815) war eine Zeit aus vielen Schichten, in denen mehrere Entwicklungen immer parallel, durcheinander, oft genug auch gegeneinander passierten. Es ist die Zeit, in der Leipzig – mit vielen Krisen, Widerständen, Kopfständen und zähen Umwegen – sein mittelalterlich-ständisches Kleid ablegte und zur modernen kapitalistischen Handelsmetropole wurde. Auch zur Großstadt, wenn man das für eine Stadt mit 30.000 Einwohnern so sagen kann. Für das frühe 19. Jahrhundert kann man das auf jeden Fall. Auch der junge Student Goethe hatte das Gefühl, jetzt tatsächlich in einer Weltstadt zu sein, als er 1765 nach Leipzig kam. Da hatte Leipzig gerade den siebenjährigen Krieg und eine entsprechend lange preußische Besatzung hinter sich. Die Preußen hatten die Messestadt vor allem deshalb besetzt, weil sie hier die Millionen herauspressen konnten, mit denen sie ihren Krieg gegen Österreich finanzieren konnten. Am Ende waren die Tributzahlungen des preußischen Königs so unverschämt, dass sie auch die Möglichkeiten der reichen Leipziger Kaufleute überstiegen, und die Stadt musste sich beim Berliner Bankier Johann Ernst Gotzkowski über beide Ohren verschulden.

Ein Mann, der selbst in die Mühlen politischer Diplomatie geriet. Aber das ist eine andere Geschichte.

Eigentlich kann man all das, was zwischen 1539 und 1815 in Leipzig passierte, nicht (mehr) linear erzählen. Deswegen hat Döring dem Buch eine andere Ordnung gegeben – mit mehreren Übersichtskapiteln zur Einführung in den Band (von denen er den Großteil noch selbst schrieb) und vielen Einzelbeiträgen im Folgenden, in denen spezialisierte Autoren sich dann auch speziellen Themen widmeten wie dem Ratsregiment, dem Militär, den Messen, dem Münzwesen, dem Buchhandel usw.

Allein die Vielzahl dieser Themen macht sichtbar, wie komplex dieses sich zur modernen Handelsstadt mausernde Leipzig schon damals war. Und auch heute noch ist. Die vielbeschworene „kompakte europäische Stadt“ wurde im Grunde mit diesem Zeitenwechsel geschaffen. Und sie hat viel mit Luther und der Reformation zu tun. Denn dieser Thesenanschlag 1517 vollzog ja etwas nach, was die Städte des nördlichen Europas schon seit Mitte des 15. Jahrhunderts veränderte. Was nicht nur mit der Einführung des Buchdrucks zu tun hatte, dieser ersten großen Medienrevolution, die den alten – auf Latein geführten – Gelehrtendialog sprengte und erstmals ganz neue, bürgerliche Kreise zu Teilnehmern eines öffentlichen Diskurses machte, der auch in seiner frühen theologischen Phase schon hochpolitisch war.

Das unterschätzen selbst heutige Luther-Interpreten gern, dass die Hälfte der Lutherschen Schriften eigentlich politische Kampfschriften sind. Der radikalisierte Thomas Müntzer (der zwischen 1506 und 1512 an der Leipziger Universität studierte) war kein Zufall, sondern so zwangsläufig, dass auch Luther erschrak. Denn wer die alten Hierarchien mit dem Papst an der Spitze infrage stellte, der stellte die komplette Symbiose der Macht mit der Kirche infrage. Der stellte auch die Frage nach der Legitimation von Fürstenmacht und nach einem moderneren Verständnis von (guter) Regierung.

Gleichzeitig wertete die Reformation Bildung auf, machte humanistisch geprägte Stadtschulen zu einem der wichtigsten Aktionsfelder. Was folgerichtig auch das Leipziger Bildungssystem veränderte – bis hin zur Reform der Universität unter Caspar Borner. Alles geschah im Grunde gleichzeitig. Schon zuvor hatte sich der Buchdruck in Leipzig zu einem respektablen Wirtschaftszweig entwickelt. Es sind Nebensätze, die aufmerken lassen, Nebensätze über zunehmende Bettlerscharen, verarmende Handwerker, das Wachsen der Vorstädte. Armut aber entsteht nicht nur durch Kriege (auch wenn fünf Stück davon allein in diesem Buch auftauchen), Seuchen oder Hungersnöte. Das wird spätestens deutlich, wenn Elke Schlenkrich über die Armen- und Krankenfürsorge der Stadt berichtet, die vor allem ein Armen-Regiment war, ein Versuch des zunehmend professioneller agierenden Rates, die unübersehbar wachsenden sozialen Probleme in der Stadt in den Griff zu bekommen.

Und man ahnt, was heute fast vergessen scheint: Dass das Kriminelle immer nur Folge massiver wirtschaftlicher Umbrüche ist. Weshalb auch das Leipziger Gerichtswesen sich ändern musste, weil die mittelalterliche Abschreckungsphilosophie keinen Sinn mehr machte, als sich alte Zunft- und Standeszwänge auflösten. Und als vor allem ein neues Nützlichkeitsdenken einzog. Selbst die Zuchthäusler im Georgenhaus mussten arbeiten, um dieses Korrektionsunternehmen finanziell tragfähig zu machen. Was nie wirklich gelang. Aber gerade mit diesem durch und durch protestantischen Korrektionsgedanken war dieses Haus für den Beginn des 18. Jahrhunderts eine moderne und typische Einrichtung – genauso wie Stadtbeleuchtung und Kanalisation.

Und Kirche, könnte man hinzufügen. Noch dominiert auch bei den Historikern die Interpretation, man habe es bei all den Konflikten um orthodoxes Luthertum, Philippisten, Calvinisten, Kryptocalvinisten oder Pietisten mit religiösen Interpretationen zu tun. Aber in Rüdiger Ottos Beitrag zu „Kirchliches Leben 1650 – 1815“ wird beiläufig auch deutlich, wie sehr Kirche als Regulativ für eine wohl verwaltete Bürgerschaft funktionierte. Weit über die Zeit Gottscheds und Bachs hinaus. Die Frage, die John Eliot Gardiner in seiner Bachbiografie gestellt hat, ist tatsächlich präsent: Wie sehr war die aufkommende tiefe Frömmigkeit auch ein Aufbegehren gegen ein leer und starr gewordenes protestantisches Kirchenregime?

Womit man gerade zur Zeit der beiden Genannten zwei explosive neue geistige Strömungen hat, die beide darauf drängten, den als zu eng empfundenen gesellschaftlichen Horizont zu sprengen. In zwei völlig unterschiedliche Richtungen. Was ja gerade für Bachs Wirken an der Thomasschule zu einem lang andauernden Konflikt werden sollte. Selbst kluge Menschen neigen zu Scheuklappendenken, können das Eine (hochkarätige humanistische Bildung) nicht zugleich mit dem Anderen (einer wohlbestallten Kirchenmusik) denken. Die moderne Stadt aber ist der nun seit 500 Jahren anhaltende Versuch, das scheinbar Unvereinbare als vereinbar zu denken und zu institutionalisieren.

Was übrigens nicht nur die Musik betrifft, sondern auch die Literatur, über deren Reichtum Detlef Döring selbst schreibt. Das 18. Jahrhundert mit seinem Gottsched, Gellert, Klopstock, Lessing und Goethe ist nun einmal eines seiner Spezialgebiete gewesen. Und als Mitherausgeber der großen Gottsched-Briefausgabe wusste er, was dieser so gern gescholtene Professor Gottsched von Leipzig aus eigentlich alles ausgelöst hat und wie sehr Leipzig über Jahrzehnte im Mittelpunkt der Diskussionen der deutschen Gelehrtenrepublik stand. Auch mit Leuten, die heute kaum noch einer kennt, wie den empörten Studenten Christian Reuter, der aus Empörung einen der satirischsten deutschen Klassiker schrieb, den „Schelmuffsky“.

Ja, sorry. Seinen 400. Geburtstag haben wir 2015 in der L-IZ auch nicht gefeiert. Aber da waren wir nicht die Einzigen. Selbst dieser dicke Stadtgeschichtsband macht deutlich, wie unbelesen das heutige Leipzig ist und wie ignorant der eigenen Literaturgeschichte gegenüber. Und wie vergesslich.

Wer Leipzig auf Bach reduziert, begreift es nicht. Nicht einmal das Leipzig der Bach-Zeit, das in diesem Band ja eine zentrale Rolle spielt. Auch als eine Epoche des Übergangs samt barocker Kultur und Architektur. Man stolpert auch darüber kurz. Aber genau in der Zeit bauten die Leipziger ihre Stadt tatsächlich zum ersten Mal gründlich um, machten aus der alten Fachwerkhausstadt eine von „Handelspalästen“ geprägte barocke Metropole, wie sie dann Goethe mit offenem Mund bestaunte. Wie muss da erst Frankfurt um diese Zeit ausgesehen haben?

Und das begann alles mit diesem dann von König August jahrzehntelang auf dem Königsstein eingesperrten Bürgermeister Romanus (dessen Tochter die beste Dichterin der Stadt war), auch wenn manches Moderne eher gegen den grimmigen Widerstand des Leipziger Rates Fuß fasste – so wie die Leipziger Kaffeehauskultur, die auch deshalb in Verruf war, weil man in den Kaffeehäusern rebellische Diskussionen vermutete. Bach musizierte vor einem zumindest geistig sehr regen Publikum in einem solchen Kaffeehaus, dem Zimmermannschen. Reiche Bürger legten sich opulente Galerien und Bibliotheken zu, die sie auch fürs Publikum öffneten. Da wird ein Zipfel jenes rebellischen und unruhigen Leipzig sichtbar, das jüngst erst wieder Rainer Eckert und Ulrich Brieler beschrieben.

Denn: Sowas kommt von Sowas.

Man verändert nicht einfach nur ein Detail in der Stadtgesellschaft, ohne dass im Rest nichts passiert. Das weltoffene Leipzig setzt ein geistig offenes Leipzig voraus. Und vor allem eines, das auch bereit war zu Experimenten, Wagnissen, Novitäten. Denn alles, was diese Stadt am Ende des 18. Jahrhunderts auszeichnete, war von den Bürgern in die Welt gesetzt worden: Schauspielhaus und Bürgerschule, Gewandhaus und Georgenhaus, Esplanade und Handelsbörse. Auch die erste Polizei. Ganz zu schweigen von den neu entstehenden Manufakturen, den imponierenden Bürgergärten und jenem Moment, in dem die Leipziger Verleger einfach mal beschließen konnten, der Frankfurter Buchmesse den Hahn zuzudrehen. Da war Leipzig der Buchplatz Nr. 1 in Deutschland.

Manches Thema der Stadtgeschichte erweist sich nach wie vor als kaum bestellter Acker, gerade wenn es um das ganz normale Alltagsleben geht. Man staunt, aber die Würdigung ist überfällig: Jürgen Kuczynski wird erwähnt, der als Historiker in der DDR ein Zeichen setzte, als er die mehrbändige „Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ vorlegte. Eine Herausforderung für Historiker bis heute, denn die meisten schreiben lieber lauter Königs- und Kriegsherrengeschichte, tun so, als hätten nur „große Männer“ Geschichte gemacht. Und nehmen nicht mal wahr, dass die wirklich grundlegende Geschichte eine soziale ist, eine aus Armut und Reichtum, dem täglich Brot und den Bedingungen, unter denen es hergestellt wird.

Und ganz in dem Sinn schreibt Doris Mundis ein kleines Blitzlicht ins „Alltagsleben“ der Leipziger. Und noch viel ernster nimmt Markus Cottin diesen Anspruch, wenn er das Leben in den Dörfern im Leipziger Umland beschreibt und dafür alte Rats- und Gerichtsakten zur Basis nimmt, wissend, wie viel echtes Leben und Wirtschaften in den alten Akten bewahrt ist. Man muss es nur zu lesen verstehen. Deswegen hat er sogar eins der lebendigsten Kapitel zu diesem zweiten Teil der Stadtgeschichte beigetragen, das vor allem anschaulich erzählt, wie Leipzig über Jahrhunderte versorgt wurde, wie streng reglementiert das Leben in den Dörfern war und vor allem, woher eigentlich die ganze Zeit die so lebenswichtige Zuwanderung für die Stadt kam. Mit allen sozialen Folgen. Womit sich der Kreis schließt und man nach 1.000 Seiten das Bild einer Stadt vor Augen hat, die mit immer höherem Tempo immer neue Phasen der Modernisierung durchlief. Bis 1813 eigentlich. Denn die Völkerschlacht ist tatsächlich eher der Endpunkt dieses Buches. Was danach kam, ist eigentlich schon ein neues Kapitel, das damit begann, dass Sachsen am Kartentisch in Wien ruckzuck halbiert wurde.

Die Folgen werden in Band 3 der Stadtgeschichte stehen. Aber auf den müssen wir noch ein bisschen warten.

Detlef Döring (Herausgeber) Geschichte der Stadt Leipzig. Von der Reformation bis zum Wiener Kongress, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2016, 1039 Seiten, Leineneinband mit Schutzumschlag, 49,00 Euro.

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