Besonders üppig ist die sächsische Literaturförderung nicht. Ein paar Festivals, ein paar wenige Zeitschriften und Vereine, das war’s dann eigentlich schon, was die Kulturstiftung des Freistaats unterstützt. Die seit 2007 erscheinende Reihe „Poesiealbum neu“ gehört nicht dazu. Und trotzdem schafft es ein ambitioniertes Heft ums andere ans Licht der noch lesenden Öffentlichkeit.

Natürlich arbeitet die herausgebende Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik anders als etwa die Herausgeber von „Edit“, „Poet“ oder „Ostragehege“. Die Ambitionen sind ganz andere. Denn der Leipziger Dichter Ralph Grüneberger, der bei allem die Feder führt und die Bitten um Förderung schreibt, möchte mit der Reihe in die Gesellschaft hineinwirken. Nicht nur für Literaturexperten, sondern für Leute, die (noch) aufgeschlossen sind für Gedichte und poetische Töne und vor allem das, „was Dichter uns damit sagen wollen“.

Denn das ist eine Menge, wenn auch selten das, was Lehrer glauben, hineininterpretieren zu müssen. Denn gute Gedichte sind Konzentrate, kleine Wortpakete, die das Vielschichtige und Tiefgründige unserer Sprache ausloten.

Und die vor allem etwas zeigen, was oft vergessen wird: Dass unsere Sprache unser Denken und Fühlen ist. Wer sich nicht einfühlen kann in eine Sprache, wird sie niemals erlernen. Der wird vor poetischen Texten stehen wie der Ochs vorm neuen Tor. Selbst wenn er in seinem Pass stehen hat, dass er in deutschen Provinzen groß geworden ist. Mit Ochs und Esel. Oder Pferd und Schaf, wie Siegmar Faust andeutet in seinem Gedicht „Was wollen wir eigentlich?“

Dabei sollte es ja um Sünde und Tugend gehen. So hatte die Lyrikgesellschaft eingeladen, Texte einzusenden. Am Ende kamen über 200 hereingeflattert von bekannten und unbekannten Dichterinnen und Dichtern. Manche nahmen das mit der Sünde treuherzig im alten Sinn und beschrieben Sinnenlust und Sündenfreude, vor allem die sexuelle, diese Fleischeslust, die so schnell in Bilder des großen Fressens abgleitet. Das ist typisch für diese Art, Poesiealben thematisch aufzuheizen. Dann werden bei den Mitmachenden Assoziationen ausgelöst. Manchmal ganz simple. Nicht nur das Gute liegt so nah, auch das Verinnerlichte und Eingeübte. Denn Sünde ist nun einmal ein religiöser Begriff und entsprechend seit Jahrhunderten besetzt. Liebeslust ist Sünde und Völlerei ist Sünde. Und Tugend ist Enthaltsamkeit. Was aber keiner in diesem Sinne wieder aufgreift. Denn wenn Sünde etwas Lustvolles ist, auch etwas Provokatives, dann ist Tugend nicht ihr Gegenteil. Kann es nicht mehr sein.

Es sei denn, man begreift darunter eine neue Art, sich zu enthalten und zu verweigern: dem Kaufrausch, dem Konsum, der Überheblichkeit und der Habgier. Oder der Selbstgerechtigkeit. Denn wer so aufmerksam lebt und seine Beobachtungen sammelt, wie es Dichter auch heute noch tun, der hat so eine Ahnung, dass es nicht um die alte, gnadenlose Sinnesfeindlichkeit der Kirche gehen kann. Wenn die überhaupt noch eine Rolle spielt heute – und nicht nur noch als großer Tagebau für bekannte Bilder dient. Etwa wenn Lutz Rathenow die Assoziationen zum Wort „Kreuz“ in ein Gedicht packt, das sich mit Lobbyarbeit beschäftigt.

Kreuze bekommen für Verführung, Lüge und Erpressung. Denn darum geht es ja: Wie seltsam unsere Welt geworden ist, schein-heilig an vielen Stellen und damit auch fadenscheinig. Das Verborgene schimmert durch. Und wir werden allesamt nicht sagen können, wir hätten es nicht gewusst. Dazu ist es zu offenkundig. Aber Dichter wissen, dass einfache Erklärungen nicht viel taugen. Denn wie geht der Mensch um mit den Dingen, die er nicht wissen und sagen will? Schweigt er? Schaut er weg? Lässt er die Dinge geschehen, weil schon die Angst wieder in ihm sitzt, dass auch derjenige, der die Dinge beim Namen nennt, sich der Gewalt und dem Hass ausliefert?

Das liegt nah. Und nicht nur der Leipziger Dichter Adel Karasholi benennt diese Angst. Die beherrschbar wäre, wäre da nicht das Gefühl, dass niemand mehr zuhören will. „Wir halten die Zungen still / und die Worte suchen / ein Schlupfloch im Schweigen“, schreibt Heidi Bergmann. Das ein geschäftiges Schweigen ist. Denn alles ist käuflich. Und während die einen mit Sorge auf die Kriege, die Fluchten, die zerstörten Länder und den wachsenden Hass schauen, machen die anderen einfach weiter, als würde gar nichts geschehen: „Der Menschen Denken kreist / um Mittel und Wege, Geld zu raffen“, schreibt Hartmut Brie. Und Jan-Eike Hornauer schreibt seinen Frust „einem unfassbar reichen Land ins Grundbuch“. Denn es jammern die Reichen, es regiert das Ego, das so leicht aus der Haut fährt und den „Atem der Bequemlichkeit“ liebt, wie Manfred Klenk schreibt.

Da hat Ralph Grüneberger mit der Themenwahl also etwas angerichtet. Etwas Folgerichtiges. Denn Enthaltsamkeit kann keine Tugend mehr sein, wenn man Menschen ertrinken sieht. Und andere Tugenden – wie die berühmten „deutschen  Tugenden“, über die Ulrich Schröder schreibt – sind keine, auf die man wirklich stolz sein kann. Sie sind eher ein Korsett für diensteifrige KZ-Verwalter. Aber worum geht es eigentlich? Warum feiern so viele Dichterinnen und Dichter so lustvolle Opposition gegen den alten kirchlichen Sündenbegriff? Kann es sein, dass sich hinter unserer schönen neuen und ordentlichen Moral eine neue Lust- und Sinnenfeindlichkeit verbirgt? Eine zelebrierte Angst vor der tatsächlichen Begegnung und Berührung der Menschen? Denn was als sexualisierter Werbebrei aus allen Kanälen sickert, ist ja nur Surrogat, Vortäuschung einer Lust, die eigentlich nur aufgepeppte Besitz-Gier ist.

Was Karin Eberling auf ganz ähnliche Gedanken bringt: „Statt dessen Konsumtugenden / Immer mehr, immer schneller …“ Man spürt die Sorge, das stille, mitschwingende Entsetzen, dass genau deswegen alles in die Binsen gehen wird. Die zitierten „deutschen Tugenden“ entpuppen sich als Triebkräfte der Weltzerstörung – schön ordentlich, systematisch und ohne Rücksicht. Die geschätzten Eigenschaften guter Dienstboten werden überhöht: „Maßlos überschätzt wird der Fleiß …“, findet Stefan Heyer.

Denn wer fleißig Schaden anrichtet, wofür soll der gelobt werden?

Am Ende haben die Herausgeber versucht, so viele Texte wie möglich unterzubringen in diesem Band. Gedichte, die man immer wieder lesen muss, weil sie auch miteinander korrespondieren. Sogar dann, wenn es die Autoren gar nicht beabsichtigt haben. Da kommt man also so unverhofft auf die viel gelobten Untertanentugenden – und dann merkt man: Na hoppla, das ist doch falsch. Das sind leere Tugenden. Also eigentlich keine. Da fehlt etwas. Und das muss man nicht lange suchen. Es klingt oft genug an – der ganze Bogen von Solidarität bis Hilfsbereitschaft, vom Mut, den Mund aufzumachen, bis zum Mut, Nein zu sagen und sich zu wehren. Auf einmal wird das Lebendige sichtbar, das, was uns eigentlich ausmacht, wenn wir aufhören, ständig „Ich!“ zu schreien. Und dabei auch noch dieses falsche Tugendmäntelchen aus der Vergangenheit zu tragen, unter dem die eigentlichen Schweinereien passieren (über die zum Beispiel Kathrin Maier schreibt).

Es ist also ganz und gar nicht so einfach, die Sache mit den Tugenden und den Sünden zu sortieren. Abstrakt geht das schon gar nicht. Denn es geht um das Eigentliche, das, was uns zu Menschen macht. „Wenn ich ein Mensch wäre / hätte ich ein Herz“, fasst es Manfred Moll für sich zusammen. Was den Unmut von Ralph Grüneberger verständlicher macht. Denn solche Diskurse regten bis jetzt alle 22 neuen Poesiealben an – immer mit einer Vielzahl dichterischer Stimmen, die die eigentlichen Themen unserer Zeit umkreisten. Themen, die in den Nachrichten und Schaumschlägereien des Tages kaum noch vorkommen. Die so alt und sentimental wirken in einer Welt, in der Rausch und Gier das Tempo vorgeben.

Innehalten, lesen, noch einmal lesen. Nachsinnen. Dazu fordern diese schmalen Hefte jedes Mal auf. Das bringt keine Rendite, stimmt schon. Es bestärkt auch nicht den Heimatstolz in Sachsen. Nur das Gefühl beim Lesen, dass man noch nicht so allein auf der Welt ist und so völlig daneben, wie es einem eine lärmende Seifenopernwelt suggerieren will.

Poesiealbum neu „Tugenden & Sünden“, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2016, 6 Euro.

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