Der Verlag 8. Mai ist eigentlich der Verlag, der die „Junge Welt“ herausgibt. Aber so nebenbei verlegt er auch Bücher. Auch so eins, das man eher in einem großen Wissenschaftsverlag vermutet. Einem, der sich auch noch eine große Abteilung Zeitgeschichte leistet. Denn dieses Buch gehört neben andere Bücher, deren Autoren sich den Kopf zerbrechen über die wachsenden Probleme unserer Zeit.

Dass Lenin auch da hingehören könnte, vermutet man ja nicht unbedingt. Wer liest noch Lenin? Gar dieses Büchlein, das vor 100 Jahren erstmals erschien – damals noch in zensierter Form, weil die Erstherausgeber die ganze Kritik an Karl Kautsky rausgeschmissen hatten. Karl Kautksy, wer kennt den noch?

In späteren Jahren erschien die Schrift in vollem Umfang, wurde immer wieder neu aufgelegt – im Osten in riesigen Auflagen. Pflichtlektüre für Generationen – die das Werk wohl trotzdem nie gelesen haben. Verstanden wohl erst recht nicht. Man hatte ja gesiegt. Im Osten glühte morgenrot der siegreiche Kommunismus. Bis er sich 1989 als mürbe und komplett desolat erwies. Da war dann wohl doch etwas schiefgelaufen.

Vielleicht sogar ganz früh schon. Über die Persönlichkeit Lenins und seine Sturheit gerade Kampfgefährten gegenüber ist schon eine Menge geschrieben worden. Etliche waren über die scharfe Kautsky-Kritik in der Imperialismus-Schrift regelrecht entsetzt, galt Kautsky seinerzeit doch fast als heiliges Urgestein der deutschen Sozialdemokratie. Immerhin hockte Lenin, als er das Buch 1916 schrieb, im schweizerischen Exil, in Europa tobte der Weltkrieg und die deutsche SPD steckte tief im Dilemma. Noch 1912 hatte sie sich als starke Friedenspartei zelebriert – doch 1914 war sie ohne viel Federlesens auf die Burgfriedenpolitik eingeschwenkt und hatte den Kriegskrediten zugestimmt. Kredite für einen Krieg, den nicht nur Lenin als ersten großen Krieg der imperialistischen Mächte interpretierte.

Heute stolpert man über das Wort Imperialismus. Es wird selbst von linken Gesellschaftskritikern meist gemieden. Es wirkt anrüchig, wie eine Erfindung der kommunistischen Propaganda. Wäre das wirklich so, hätten sich auch Wladislaw Hedeler und Volker Külow nicht daranmachen müssen, Lenins Schrift noch einmal herauszugeben, angereichert um zwei gepfefferte Vorworte von Dietmar Dath und Christoph Türke. Sie selbst haben dem Buch einen umfangreichen Essay beigefügt, in dem sie die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Buches aufarbeiten und auch die Züricher Zeit beschreiben, in der Lenin Berge von Büchern aus Schweizer Bibliotheken durchackerte, gleichzeitig eine neue Internationale zu schmieden versuchte und irgendwie auch noch auf gepackten Koffern saß, weil die ganze Zeit die Rückkehr nach Russland im Raum stand.

Man merkt es eigentlich schon beim Lesen seiner Schrift selbst, dass sich der exilierte russische Revolutionär die Sache mit dem Imperialismus gar nicht ausdenken musste. Sie war zwar längst noch nicht selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaftswissenschaften – und auch Karl Kautsky steht eher für einen phantastischen Versuch, in die geradezu katastrophale Weltgeschichte einen neuen Sinn und eine neue Erlösung in einer Art Hyperimperalismus hineinzudeuten.

Dabei konnte Lenin auf zwei große Arbeiten zurückgreifen, die schon vorher erschienen waren: auf Rudolf Hilferdings Studie zur jüngsten Entwicklung des Kapitalismus und auf das schon 1902 erschienene „Imperialism. A Study“ des englischen Ökonomen John Atkinson Hobson. Denn bürgerlichen Publizisten war damals sehr wohl bewusst, dass die kapitalistische Welt um das Jahr 1900 in eine neue Phase eingetreten war. Was für die Öffentlichkeit sichtbar wurde in einer Folge von Kriegen, in denen es unübersehbar um die Neuverteilung der Welt ging. Die eigentlich verteilt war. Die großen westlichen Mächte hatten sich die Kontinente der Erde fast komplett aufgeteilt, riesige Imperien errichtet, die nicht nur klassische Historiker zum Vergleich zwangen mit den größten Imperien der Weltgeschichte. Der Vergleich des englischen Kolonialreiches mit dem alten Römischen Reich war auch in der politischen Debatte jederzeit präsent.

Gleichzeitig beschäftigten sich auch knochentrockene konservative Ökonomen mit einem Phänomen, das sie zutiefst verstörte: mitten in einem gigantischen Wachstumsprozess der großen westlichen Wirtschaften begann auf einmal der viel gepriesene Wettbewerb zu erodieren. In allen wichtigen Branchen begann ein stiller, aber im Grunde martialischer Ausleseprozess, der zum Zusammenschluss immer größerer Wirtschaftseinheiten führte – zu Trusts, Kartellen und am Ende, wenn nur noch wenige riesige Unternehmen einen ganzen Wirtschaftszweig beherrschten, Monopolen.

Was Lenin dann zu der Feststellung bringt, dass die gern zitierte „freie Marktwirtschaft“ längst schon ein Phänomen der Geschichte war. Denn wenn Profit das Ziel aller kapitalistischen Entwicklung ist, dann muss das Ziel der Unternehmen die Herstellung eines Monopols sein, der Herrschaft über ein komplettes Wirtschaftsgebiet, wo sie dann nicht nur alle Verwertungsketten in der Hand haben, sondern auch die Preise diktieren können. Und dann?

Dann hören sie nicht auf, was nicht erst Lenin feststellt. Denn wenn das Streben nach maximalem Profit das Schmiermittel dieser Gesellschaft ist, dann löst das zwangsläufig neue Konflikte aus, dann beginnen diese riesigen Unternehmen, mit anderen Monopolen in Konflikt zu treten und neue Monopole zu erobern. Und zu diesen Monopolen gehören nun einmal auch die Rohstoffe der Erde. Alle Kriege des 21. Jahrhunderts sind im Grunde Kriege um Rohstoffe, Absatzmärkte, Einflusssphären.

Das ist nicht der erste Punkt, an dem man stolpert: Na so was! Die Phänomene, die Lenin, Hilferding und Hobson beschreiben, ähneln auf verblüffende Weise denen unserer Zeit.

Aber hatte Lenin vom Imperialismus nicht als „sterbendem, faulenden Kapitalismus“ geschrieben?

Hat er. Um starke Worte war er nie verlegen. Und wer genau liest, merkt, dass er eigentlich genauso wie Karl Marx an ein tief verstecktes Wunder glaubte. Dass nämlich dieser faulende Kapitalismus jetzt wirklich das höchste Stadium war und die in den Monopolen vergesellschafteten Produktivkräfte schon die logische Vorstufe zum schleunigen Übergang zum Sozialismus waren.

Was sich natürlich 100 Jahre später ganz anders liest. Hat er da nur geträumt? Und hat er vielleicht selbst unterschätzt, was er da eigentlich beschrieben hat? Denn sein „Imperialismus“-Buch ist ja keine Traumdeutung. Anhand beeindruckender Zahlenreihen schildert er ja den gigantischen Konzentrationsprozess, der da um 1900 in Amerika und den drei großen Wirtschaftsnationen Europas eingesetzt hatte. Die Zahlen lieferten dabei bürgerliche Statistiker quasi frei Haus. Man musste sie nur sammeln und sichtbar machen, was sie zeigten. Und auch damals beherrschten schon wenige riesige Bankenkonglomerate die Wirtschaft des Westens. Die „systemrelevanten“ Riesenbanken, die in der Finanzkrise von 2008 auf einmal zum Thema wurden, gab es damals schon. Genauso, wie es ihre Rolle als eigentliche Beherrscher der Kapitalströme schon gab. Denn längst regierte nicht mehr das frei konkurrierende „Kapital“ aus der Zeit von Karl Marx. An seine Stelle war die dominante Rolle des Finanzkapitals getreten, das keine Rücksicht mehr nehmen muss auf Personal, Gewerkschaften, Standorte, Umwelt, Innovation, Armortisation und was der Beschwerden mühsamen (Klein-)Unternehmertums mehr sind. Es wirft seine Investitionen (das sind die berühmten „Investoren“, die uns heute so gern als Retter aus aller Not präsentiert werden) da hin, wo der nächste große Gewinn zu erwarten ist. Es kauft einfach alles ein, was gewinnversprechend ist.

Und wenn ihm die örtlichen Bedingungen nicht passen, zieht es weiter. Was übrigens so nebenbei ein anderes Schlagwort der Gegenwart zum reinen Unsinn macht: Globalisierung. Globalisiert war die Welt schon im Jahr 1900. Und seitdem erlebt der Zuschauer in den Medien nichts anders, als eine endlose Kette von Kriegen, in denen es immer wieder um die Aneignung, Behauptung und Neuverteilung von Monopolen geht.

Man braucht gar keine Verschwörungstheorien, um eine Ahnung davon zu bekommen, warum heutige westliche Regierungen so ratlos agieren und „der Wirtschaft“ in allen Bereichen den Primat einräumen. Das tun sie nicht mal freiwillig. Sie sind dazu gezwungen, denn die Rahmenbedingungen für alles, was auf der Welt geschieht, setzt das große Kapital. Wo es nicht investiert, herrscht bald die große Trübsal, veröden Regionen, kippen ganze Gesellschaften.

Was natürlich Folgen hat, die wirklich die Grenzen des Imperialismus beschreiben. Damit beschäftigt sich ja Norbert Nicoll in seinem Buch „Adieu, Wachstum“ Wenn die Ressourcen der Erde ausgeplündert sind, nutzt auch das beste Monopol nichts mehr.

Wobei auch Lenin schon gemerkt hat, dass dieses – im Grunde gesichtslose – Finanzkapital keine Skrupel kennt. Es versucht nicht nur komplette Wirtschaftszweige zu beherrschen, Rohstoffe und Märkte zu monopolisieren und die Preise zu diktieren. Es hat so hohe Renditen, dass es auch problemlos die Politik kaufen kann, die es haben möchte. Und große Teile jener gelobten Arbeiterschaft noch dazu, die eigentlich nach Marx die neue führende Klasse werden sollte.

Und: Es dringt in alle Lebensbereiche ein, überall da hin, wo neue Produkte, Absatzmärkte, Monopole locken. Heute in einem atemberaubenden Tempo zu erleben im Internet und im gigantischen Geschäft mit digitalen Daten. Und was Lenin schon skizziert und dann mit „sterbender, faulender Kapitalismus“ betitelt, zeigt die Gegenwart ebenfalls: Monopole neigen nicht zur friedlichen Koexistenz. So etwas kennen sie gar nicht. Das Kapital drängt mit panischer Besessenheit darauf, schnellstmöglich wieder mit höchsten Renditen angelegt zu werden. Das friedliche Genießen von Marktmacht kennt es gar nicht. Das Ergebnis ist, dass auch zwischen Monopolen innerhalb der westlichen Wirtschaftsordnung heftige Schlachten ausbrechen. Giganten kaufen Giganten auf, alte Rohstoffmonopole kämpfen mit allen Bandagen gegen neue „smarte“ Monopole. Es herrscht selbst innerhalb der durch die Demokratie gerade mal so befriedeten westlichen Welt ein dauernder Krieg von Monopolen gegeneinander. Der Kuchen ist niemals groß genug.

Und nicht nur Lenin hat den argen Verdacht, dass die Demokratie nur eine vorübergehende Erscheinung sein könnte, als politisches Mäntelchen, das verschleiert, dass die großen Unternehmensimperien auch mit Autokraten bestens leben können, wenn die ihnen die idealen Bedingungen versprechen.

Da sieht dann auf einmal auch ein amerikanischer Präsidentschaftswahlkampf ganz anders aus. Selbst die FAZ zeigte sich ja verblüfft darüber, dass hier augenscheinlich die „smarten Jungs“ aus dem Silicon Valley eine krachende Niederlage erlebt haben. Aber wer hat gewonnen? Ein Populist? Das ist dann wohl die neue Verblendung der gegenwärtigen Zeit. Denn mit Donald Trump hat ein ganzer Haufen alter und gut bekannter Monopole gewonnen: die alte Immobilienfinanzwelt, die Öl- und Kohleindustrie, nicht zu vergessen die harten Hunde aus dem Rüstungsgeschäft.

Es ist also kein Zufall, dass sich heute wieder Ökonomen aller politischen Richtungen mit dem Phänomen Imperialismus beschäftigen. Am Ende des Buches haben Hedeler und Külow hunderte Titel aufgeführt, die sich seit 2000 allein mit diesem Thema beschäftigen. Und es ist nur eine kleine Auswahl. Wichtige Titel fehlen einfach – wichtige Namen wie Naomi Klein oder Noam Chomsky fehlen völlig. Obwohl auch sie sich mit dem Thema beschäftigen, sehr emotional. Denn die Frage steht ja noch immer ungelöst im Raum: Wo führt das alles hin? Plündern wir jetzt einfach unseren Planeten aus, bis gar nichts mehr geht? Schlagen die Katastrophen, die dieses blinde Prügeln um Monopole weltweit auslöst, jetzt einfach über uns zusammen? Verwandelt sich die Welt in ein Inferno der Kriege um die letzten Ressourcen? Oder übernehmen jetzt moderne Autokraten das Ruder und halten die ausgepowerten Völker im Zaum?

Alles Fragen, auf die auch Lenin keine Antwort wusste. Außer die eine, die dann so gründlich in eine stalinistische Diktatur mündete.

Aber seine Schrift mit den Augen von heute zu lesen, sorgt schon für einige Überraschungen. Auch was die Lebenskraft dieses „faulenden Kapitalismus“ betrifft. Obwohl Lenin nicht wirklich begründet, warum er ihn als faulend bezeichnet. Schon die Bildung von Monopolen empfindet er ja als faulenden Zustand – obwohl genau die die komplette Wirtschaftsgeschichte bis heute bestimmen. Und 100 Jahre lang vor sich hinzufaulen und trotzdem zu herrschen, das ist auch ein Kapitel in den Geschichtsbüchern wert.

Eher machen die vielen Schriften zum Imperialismus seit 2000 deutlich, dass 1916, als Lenins Schrift erschien, nicht das Ende einer Epoche war (die ja um 1900 gerade erst so richtig Form angenommen hatte), sondern der Anfang. Mit völlig offenem Ausgang. Nur dass es mittlerweile weit ins liberale ökonomische Lager hinein berechtigte Befürchtungen gibt, dass wir ziemlich bald eine bessere Antwort brauchen als das seither gepflegte Weiter so. Oder „That’s Business, stupid!“ oder „There is no Alternative“ oder „Basta“ und wie der faulen Ausreden mehr hießen.

Lenin Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Verlag 8. Mai, Berlin 2016, 24,90 Euro.

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