Die Leipziger Thomaskirche ist eine Marke. Nicht nur durch den hier beheimateten Thomanerchor und den legendären Thomaskantor Johann Sebastian Bach, auch durch das große Bemühen, in der Leipziger Stadtgesellschaft streitbar im Gespräch zu bleiben. Immerhin weiß man hier, dass der Kirchenbau ein wichtiges Stück der Leipziger Stadt- und Kulturgeschichte repräsentiert.

Hierher pilgern Touristen, die die letzte Ruhestätte Johann Sebastian Bachs sehen wollen, die sich für den Thomanerchor interessieren und die auch Leipziger Geistesgeschichte erfühlen möchten. Denn die ist in dieser über 800 Jahre alten Kirche natürlich auch präsent – etwa mit dem Kanon der bunten Glasfenster, an dem sich die Positionierung der Stadt in der Lutherschen Reformationstradition ablesen lässt. Auch mit den klugen neuzeitlichen Kontrapunkten – dem nach über 100 Jahren verwirklichten Mendelssohn-Fenster und dem Friedensfenster, das die Friedliche Revolution in die Kirche holt.

Die Autoren des Büchleins sind den Leipzigern bestens bekannt. Angefangen mit Thomaspfarrerin Britta Taddiken, die diesen komprimierten Streifzug durch die Thomaskirche herausgegeben hat, und dem nun ganz und gar nicht ruheständigen ehemaligen Thomaspfarrer Christian Wolff, der die Baugeschichte der Kirche zusammenzufassen versucht.

Immerhin hat das einen großen Teil seiner Amtszeit an der Thomaskirche begleitet. Keine andere Leipziger Kirche hat ihre Restaurierungsbemühungen so öffentlich gemacht und jeden einzelnen Schritt auch mit einer internationalen Sammelkampagne begleitet. Was damit begann, dass man die sanierungsreife Kirche unbedingt wieder schön bekommen wollte zum 250. Todestag von Johann Sebastian Bach im Jahr 2000 – was ja bekanntlich gelungen ist. Aber auch danach hat man weitergemacht – Orgeln restauriert, Altar erneuert, Epitaphe restauriert, einen elektronischen Wegweiser geschaffen, die eben erwähnten Kirchenfenster erneuert.

Die Kirche ist ein Programm – auch ganz klassisch ein gebautes Bildprogramm, auch wenn von der barocken Kirche der Bachzeit nicht mehr allzu viel zu sehen ist, von der neogotisch umgebauten Kirche von 1884/1885 dafür umso mehr. Von der viel kleineren romanischen Kirche, die hier vor 1212 wohl schon stand, sieht man eher nichts. Bestenfalls die Größenverhältnisse, die dem Architekturliebhaber auffallen, wenn er den fast winzig wirkenden Chor auf der Ostseite mit dem steilen und eindrucksvollen Kirchenschiff der Renaissancezeit vergleicht, das seinesgleichen lange suchen kann in deutschen Landen.

Aber nicht nur Baugeschichte ist in diesem reich bebilderten Kirchenführer zur Thomakirche nachzulesen – mit zwei Beiträgen zur Kunstgeschichte und einigen Persönlichkeiten aus der Geschichte der Thomaskirche kommt auch der kürzlich verstorbene Martin Petzoldt noch einmal zu Wort, der Mann, der sich so intensiv wie kein anderer mit der Geschichte der Thomaskirche beschäftigt hat. Und Georg Christoph Biller, der ja auch erst in jüngster Zeit sein Amt als Thomaskantor aufgeben musste, hat das notwendige Kapitel zu den berühmten Thomaskantoren geschrieben. Denn Bach war ja nicht der einzige Berühmte und auch als Komponist Gefeierte. Tatsächlich war er ja der Gipfel einer Entwicklung, die nach ihm eher in eine neue Suchphase mündete, weil die Stadtväter ihre Politik bei der Auswahl der Kantoren geändert hatten.

Wie die Thomaskirchgemeinde heute in die Stadtgesellschaft hineinwirkt, das erzählt am Schluss Christian Wolff noch einmal ausführlich, so dass der Leser des handlichen Kirchenführers eigentlich ein doppeltes Schriftstück in die Hand bekommt: ein kleines, informatives Bilderbuch über die Kirche, das nicht nur zum Bestaunen des Kirchenschiffes mit seinen doch recht imponierenden künstlerischen Details einlädt, sondern auch zum Umschreiten der Kirche. Sonst sieht man nämlich weder die Gedenktafel für den Minnesänger Heinrich von Morungen noch die Apostel am Apostelportal. Und es ist eine Positionsschrift, die noch einmal neu auslotet, welche Rolle eine Kirchengemeinde mit 4.900 Mitgliedern heute im Leben einer so säkularisierten Stadt wie Leipzig spielen kann.

Bekanntlich scheut diese Kirchgemeinde weder die Diskussion noch die Ökumene, mischt sich ein und versucht sich auch mit dem „forum thomanum“ im Bildungsleben der Stadt zu positionieren. Der steinerne Bau, dessen Turm man ja auch besteigen kann, ist eben nicht nur ein architektonisches Relikt, eines der wenigen Bauwerke, die überhaupt noch die Lutherzeit in Leipzig anschaulich machen. Es ist eben auch ein Bau, der ein ganzes Kapitel Leipziger Gesellschaftsgeschichte sichtbar macht. Und – das klingt ja bei Christian Wolff an – es stellt die nicht ganz unwichtige Frage in den Raum: Welche Rolle kann Kirche heute und in Zukunft eigentlich spielen? Im „forum thomanum“ wird das ja mit der Formel „Glauben, Singen, Lernen“ umschrieben, da steht eindeutig der Thomanerchor mit seinem Super-Thomaskantor Bach im Mittelpunkt.

Aber schon am Thomaskirchhof, wo dieser Bach so präsentabel auf seinem Sockel steht, verschiebt sich die Fragestellung, entstehen Fragen und Korrespondenzen in die gebaute Stadt hinein. Immerhin steht diese Kirche mitten in der Innenstadt. Und damit auch in den Fragen, die die Gegenwart durchfurchen. Wolff ist sich sicher, dass diese Kirche „vor jeder musealen Verkrustung bewahrt“ bleibt und das sein kann, „wonach viele Menschen sich sehnen: ein Raum voll Geist und Leben mitten in der Stadt, gebraucht von Menschen, die nach Trost und Wegweisung suchen“.

Oder vielleicht auch „nur“ nach einem Ort, der sie mit ihrer eigenen Geschichte erdet. Und den sie immer wieder gern besuchen, wenn hier Bachs Musik erklingt. Und der war ja bekanntlich mehr als nur ein Bach, wie Beethoven schon wusste. Selbst in diesem Büchlein ist es überdeutlich, wie dieser Mann mit seiner Musik alles durchdringt an diesem Ort.

Britta Taddiken Die Thomaskirche Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 5 Euro.

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