Der Titel ist provokant, war aber so nicht gemeint. Zumindest nicht so eindeutig. Immerhin ist das eher ein Erinnerungsbuch – von Studierenden und Dozenten des einstigen Theologischen Seminars in Leipzig, das Leser von Büchern zum Herbst ‘89 aus anderen Zusammenhängen kennen: Manche Studierende dieses Instituts spielten eine prominente Rolle in den Ereignissen vor und nach dem 9. Oktober 1989.

Dass das so kam, hat mit der Rolle dieses ganz besonderen kirchlichen Institutes in der DDR zu tun. Es existierte von 1964 bis 1991 und war eins von vier solcher Institute, die die ostdeutschen Landeskirchen abseits des staatlichen Hochschulbetriebs gegründet hatten. Vorrangig, um sich den eigenen Nachwuchs auszubilden und das möglichst unabhängig von staatlichen Eingriffen. Theologische Lehrgänge gab es ja an den Hochschulen ebenfalls noch – aber die konnten sich dem staatlichen Hineinregieren nicht entziehen.

Aber nicht nur die Unabhängigkeit spielte für die Landeskirchen eine Rolle, sondern auch die staatlichen Restriktionen vor allem gegen Kinder aus christlichen Elternhäusern. Ihnen wurde oft genug das Abitur verwehrt und damit jeglicher Zugang zu einer staatlichen Hochschule. Was auch Kinder aus Pfarrhäusern traf. Man handelte also ganz im Eigeninteresse, als man solche Seminare in Eigenregie gründete und hier eine Ausbildung nach Hochschulstandards organisierte. Mit Lehrern, die sich zwar nicht Professor nennen durften, aber trotzdem ein Studienprogramm nach Hochschulstandard durchzogen. Teilweise sogar noch eine Spur anspruchsvoller, denn man orientierte sich ja nicht am Modell der sozialistischen Hochschule, sondern an dem der humanistischen Universität. Und das nicht nur in der theologischen Ausbildung.

Denn den Gründern dieser Einrichtungen war sehr wohl bewusst, dass die ausgebildeten jungen Theologen ein gutes Rüstzeug brauchten, wenn sie argumentativ in einer Umgebung überleben wollten, in der seit Jahren ein Frontalangriff gegen Kirche und Religion betrieben wurde. Dass diese vier kirchennahen Seminare tatsächlich wie Inseln in einem roten Meer wirkten, war also nur folgerichtig. Auch wenn es die Akteure meist eher wie eine Insel auf einer Insel erlebten, einem zwar kärglich ausgestatteten, aber trotzdem anspruchsvollen Ort, der anfangs noch ganz im Geist der Missionstätigkeit der sächsischen Landeskirche fungierte. Das Leipziger Seminar war im Missionshaus in der Paul-List-Straße untergebracht, die Vorlesungen fanden in der Mozartstraße statt.

Nur wurden die über 900 jungen Leute, die sich hier im Lauf der Zeit bewarben, nicht mehr für Missionen nach Afrika oder in die Südsee ausgebildet. Das war im eingemauerten Ländchen nicht mehr möglich. Viele wurden tatsächlich Pfarrer und haben letztlich das Kirchenleben in den ostdeutschen Landeskirchen stark geprägt und auch verändert. Vielen begegnete man ab 1989 auch nicht zufällig als Pfarrer in der Politik. Was auch an ihrer Ausbildung am Theologischen Seminar liegt, denn hier erlebten sie auch etwas, was es an den staatlichen Hochschulen nicht mehr gab – und zwar im großen Packen: eine ausgeprägte Diskussionskultur, bei der konträre Meinungen nicht mit Sanktionen oder gar Exmatrikulation geahndet wurden, eine für DDR-Verhältnisse sehr weitgehende Selbstverwaltung, aber auch eine grundlegende philosophische Ausbildung, in der die Klassiker des Marxismus-Leninismus keine Rolle spielten.

Was dieses Seminar auch für Bewerber attraktiv machte, die aus anderen Gründen als dem christlichen Glauben keine Hochschulzulassung bekommen hatten oder an keiner der indoktrinierten staatlichen Hochschulen studieren wollten. Denn am Seminar bekamen sie – mitsamt einer umfassenden Ausbildung in den klassischen Sprachen – auch eine gründliche humanistische Hochschulbildung. Die Theologie gab es quasi als Dreingabe. Aber einige der in diesem Band gesammelten Erinnerungen zeigen, dass sich das augenscheinlich nicht biss. Selbst die Dozenten freuten sich sichtlich, wenn der Stoff ihrer Vorlesungen Anregung für intensive Diskussionen war – eben und auch gerade über die wesentlichen Dinge des Lebens, mit denen sich Kirche immer herumschlagen muss. Zum Beispiel Ehe, Frieden oder – in Luthers Zwei-Reiche-Lehre ja manifest – der Frage: Wie hält man es mit der Staatsmacht?

Da gibt es durchaus auch ein paar kritische Töne. Denn eine allumfassende Zustimmung bekamen die ostdeutschen Kirchenleitungen für ihr Projekt „Kirche im Sozialismus“ nicht. Sie waren immer zwischen den Fronten. Und auch hier versuchte die Staatsmacht hineinzuregieren – so weit das möglich war. Denn was für die Kirchen im Allgemeinen galt, galt auch für ihre Bildungseinrichtungen: Sie waren der staatlichen Gleichschaltung weitgehend entzogen. Und sie waren auch in großen Teilen etwas, was es sonst in der durchherrschten Gesellschaft nicht mehr gab: geschützte Räume. Und damit Räume einer gewissen Freiheit – vor allem auch der Denkfreiheit.

Was nicht verhinderte, dass die Staatssicherheit dennoch versuchte, ihre Fühler auszustrecken. Auch diese Geschichten gibt es im Band. Doch darum ging es Wolfgang Ratzmann und Thomas A. Seidel eher nicht, als sie Autoren für die Beiträge in diesem Buch ansprachen. Sie wollten tatsächlich ein Buch, das die Geschichte des Instituts möglichst von Anfang an bis zu seiner Auflösung im Jahr 1991 erlebbar macht. Und das gelingt vielen der ehemaligen Studenten und Dozenten sehr gut. Bildhaft schildern sie das Leben im Konvikt, die gemeinsamen Unternehmungen, die Erfahrungen in den Vorkursen und das Wirken besonders beliebter Dozenten, den Aufbau der Bibliothek und die Veränderungen und Diskussionen, die manches Semester durchaus in Aufregung versetzen konnten.

Wer freilich erwartet, jetzt eine Art Widerstandszelle geschildert zu finden, der wird eben das nicht finden. Das ist der Punkt, an dem auch der Titel irritiert – auch wenn diese Zuschreibung in den Erinnerungen der Beteiligten immer wieder auftaucht. Das Problem ist eher dieses „rote Meer“, das die herrschenden Funktionäre aus der DDR gern gemacht hätten. Und in Abgrenzung zur staatlichen Doktrin sahen sich Dozenten und Studierende auf dieser Insel durchaus.

Aber in Wirklichkeit war dieses Meer ja nur ein kleines, eingemauertes Land. Und die Hauptfarbe war eher Funktionärsgrau. Nicht einmal die Dozenten, die abgeordnet waren, den Seminarteilnehmern wöchentlich eine Dusche Marxismus-Leninismus zu verpassen, standen hinter den staatlichen Doktrinen. Auch dazu gibt es eine Geschichte.

Was das Buch freilich vermittelt, ist eine Ahnung davon, warum es ausgerechnet Pfarrer und Pfarrerinnen waren, die 1989 und 1990 in der Friedlichen Revolution so eine herausragende Rolle spielten. Im Grunde fasst man sich die ganze Zeit nur an den Kopf und fragt sich: Waren diese Funktionäre wirklich so behämmert?

Wir wissen ja: Sie waren es wirklich. Und eingeschüchtert waren sie zudem. Sie haben lieber – mit der stalinschen Peitsche im Kreuz – jedes eigenständige Denken aus den Hochschulen verjagt, als diese Chance zu nutzen: Selbst klugen, kritischen und philosophisch sattelfesten Nachwuchs auszubilden. Man darf ja nicht vergessen: Linke Denker vom Schlage eines Bloch und eines Mayer wurden schon vor 1964 von der Uni Leipzig vertrieben. Mit jedem Ansatz unabhängigen linken Denkens wurde rigoros aufgeräumt.

Wer unabhängig denken und auch noch studieren wollte, der landete mit einiger Logik just am Theologischen Seminar, das sich im Lauf der Zeit ganz zwangsläufig zu einer Insel des unabhängigen Denkens entwickelte – mit Studierenden, die durchaus im Zwiespalt steckten, ob sie nun tatsächlich im Pfarrdienst ihre Zukunft sahen. Aber das ging augenscheinlich auch kritischen Geistern nicht wirklich gegen den Strich, weil Seelsorge nun einmal immer auch bedeutet, sich um seine Mitmenschen zu sorgen, ihre Nöte und Kümmernisse ernst zu nehmen. Etwas, worauf man bei der ach so mütterlichen Regierungspartei ganz bestimmt nicht rechnen konnte. Hier war also auch ein Moment gesetzt, der die Sorge um Gemeinwohl und Gesellschaft mit einschloss.

Eher wäre es erstaunlich gewesen, wenn aus diesem Theologischen Seminar 1989 überhaupt kein kluger Kopf gekommen wäre, der in der Friedlichen Revolution eine Rolle hätte spielen können. Trotz des stillen Schismas, das die evangelische Kirche in Sachsen bis heute kennt. Da staunt man eher, dass man sich damit auch schon in den späten 1980er Jahren herumschlug: der Unüberbrückbarkeit der Gegensätze zwischen liberalen Protestanten und evangelikalen Fundamentalisten. Ein Schisma, das in Sachsen noch heute eine Rolle spielt – teilweise bis in die sächsische Regierungspolitik hinein, die oft auch deshalb so skurril ist, weil nicht die liberalen Christen den Ton angeben, sondern eher die evangelikalen.

1990 wurde das Theologische Seminar tatsächlich noch in den Hochschulstatus erhoben, 1991 dann mit dem Theologischen Institut der Universität verschmolzen, so dass die Kompetenzen der Lehrerschaft auch weiterhin erhalten blieben, auch wenn die kleine Insel keine Insel mehr war und das Abgeschottetsein in einem „roten Meer“ ein Ende hatte. Das Buch ist also auch eine Art Lesebuch über ein durchaus besonderes Gebilde in einer vergangenen Zeit – das aber auf eher erstaunliche Weise dennoch eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat in der widerständigen Geschichte der DDR. Ein schönes Beispiel dafür, wie sich unabhängiges Denken auch in einem völlig durchherrschten Land einen Ort sucht und schafft, an dem es sich entfalten darf. Dass es dann im Pfarrhaus landete, gehört zu den großen Späßen der jüngeren Geschichte.

Wolfgang Ratzmann; Thomas A. Seidel Eine Insel im roten Meer, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 20 Euro.

In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/03/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar