Für Mathematik braucht man ein spezielles Köpfchen. Es hilft alles nichts. Es braucht die Fähigkeit, hochgradig abstrakt denken zu können. Das ist nicht Jedem gegeben. Und die Menschen, deren Phantasie tatsächlich so speziell war, dass sie unsere Vorstellung der Welt mit Mathematik veränderten, die waren eh seltene Exemplare. So wie der früh verstorbene Bernhard Riemann.

Mit Leipzig hat der Göttinger Professor nichts zu tun, auch wenn Wikipedia das behauptet und die Leipziger Riemannstraße einfach mal dem genialen Mathematiker widmet. Eine verständliche Euphorie, wenn man die Wirkungsgeschichte seiner Arbeiten zur Zahlentheorie oder zur Geometrie betrachtet. Denn auf seinen Arbeiten konnten später Leute wie Helmholtz und Einstein aufbauen. Er schuf die mathematischen Vorstellungswelten, die die Relativitätstheorie erst denkbar machen. Vorstellbar ist schon schwieriger, denn dafür ist der normale menschliche Geist eigentlich nicht geschaffen, sich gekrümmte Räume vorzustellen. Aber mit der Riemann-Fläche sind sie berechenbar. Mit allen ihren physikalischen Folgerungen. Die großen Physiker und Mathematiker nach Riemann waren zwangsläufig Grenzgänger.

Umso verblüffender ist, was dieser Pfarrersohn binnen weniger Jahre zustande brachte. Der auch beinah Pfarrer geworden wäre – sein Vater konnte ihm ein längeres Studium eigentlich nicht bezahlen. Doch was schon seine Schullehrer merkten, beeindruckte dann auch den hochbetagten Carl Friedrich Gauß, bei dem Riemann seine Dissertation ablieferte – mit jener herrlichen Anekdote verbunden, dass von den drei Themen, die er zur Verteidigung vorschlug, Gauß ausgerechnet die dritte, noch unausgearbeitete wählte. Denn Gauß wollte wissen, was dieser mathematische Kopf gerade da zu sagen hatte, wo die Sache noch unfertig war.

Es dauerte dann trotzdem noch lange, karge Jahre, bis Riemann in Göttingen auch eine auskömmliche Professur bekam. Aber das war nicht ungewöhnlich für die Zeit. Es verzögerte nur jede Lebensplanung – was einem nun aus der Sicht des 21. Jahrhunderts wieder sehr vertraut vorkommt. Erst 1862 konnte er heiraten. Da war er endlich ordentlicher Professor, aber schon von der Krankheit gezeichnet, die ihn schon bald arbeitsunfähig machen sollte.

Was der Mathematiker Olaf Neumann hier für diesen speziellen Riemann-Band in der Edition am Gutenbergplatz gesammelt hat, sind im Grunde zwei Klassiker für Riemann-Kenner – und natürlich solche Leser, die seinem Denken nahekommen wollen. Und das geht kaum besser, als mit Riemanns Habilitationsvortrag von 1854 „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“, der 1867 erstmals erschien, also vor 150 Jahren. Doch was so brav nach einer Grundsteinsetzung für die gute alte Euklidsche Geometrie klingt, geht weit über die dreidimensionale Geometrie Euklids hinaus, stellt Neumann fest. Was daran liegt, dass Riemann tatsächlich auf die Grundsubstanz hinuntergeht. Das Ergebnis ist – so stellt Neumann fest – „die Auffassung von Ebene und Raum als zwei- bzw. dreidimensionale ‚Zahlenräume‘ …“

Im Vortrag spricht Riemann von Mannigfaltigkeiten. Ein Wort, das Neumann geradezu begeistert: „Das Originelle besteht darin, dass jeder solchen Mannigfaltigkeit eine bestimmte (endliche) Dimensionszahl zugeordnet wird, wobei ‚im Kleinen‘, d. h. in einer hinreichend kleinen Umgebung eines Punktes, die Mannigfaltigkeit wie ein kleines Stück eines Zahlenraumes von der gleichen Dimension, wie sie das Ganze besitzt, aussieht.“

Das Große und Grenzenlose steckt im Kleinen.

So entsteht der „Riemannsche Raum“, jene in sich logisch begründete Geometrie, mit der nicht nur die Mathematik der Zeit revolutioniert wurde, sondern auch die Physik. Beigegeben ist diesem Habilitationsvortrag, den Riemann extra so verständlich wie möglich verfasste, weil er die Nicht-Mathematiker im Raum nicht ganz und gar außen vor lassen wollte, die 1876 von Riemanns Freund Richard Dedekind verfasste Biografie. Dedekind hat zusammen mit Heinrich Weber nach Riemanns Tod dessen Arbeiten herausgegeben. Felix Klein in Leipzig gehörte zu den Professoren, die Riemanns Ideen populär machten. Wobei Dedekinds biografischer Abriss deutlich macht, wie sehr dieses kurze Mathematikerleben eigentlich geprägt war von Dringlichkeit. Auch Riemanns Eltern starben – für heutige Verhältnisse – sehr jung, ebenso seine Geschwister. Die Ausarbeitung seiner Theorien muss ihn viel Kraft gekostet haben. Doch selbst im Gespräch mit Kollegen muss spürbar gewesen sein, in welchen Dimensionen er dachte – was Riemann wohl oft auch als Unverständnis erlebte, auch wenn seine Gesprächspartner ihm einfach nicht folgen konnten und auch die Zwischenschritte brauchten, um den Gedankensprüngen Riemanns zu folgen.

Natürlich ist es eine typische Biografie des 19. Jahrhunderts, geschrieben mit dem spürbaren Ton des Bedauerns, dass diesem genialen Mann nicht mehr Zeit gegeben war, seine Theorien auszuarbeiten oder gar noch weitere Felder zu vermessen. Was dann wie so üblich im „edelen Herzen“ mündet, das zu schlagen aufhörte, obwohl der ganze Text des Mathematikerfreundes von einer stillen Verzweiflung erzählt. Denn das Unvollendete ist unübersehbar. Und der Verlust so eines Mannes in einer eh schon überschaubaren Welt von Leuten, die derart komplex und abstrakt zu denken in der Lage sind, ist heftig. Einer wie Dedekind wusste, was mit Riemanns frühem Tod tatsächlich verloren ging. Aber Mathematiker fluchen ja nicht. Sie versuchen nur nach besten Kräften fortzusetzen, was die Vorgänger und Zeitgenossen begonnen haben, es fruchtbar zu machen für kommende Generationen.

Und fruchtbar wurde selbst das wenige, was Riemann in knapp 15 Jahren schaffen konnte. Und es begeistert Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker bis heute, worauf Olaf Neumann am Ende ganz kurz hinweist, wenn er besonders die von Jürgen Jost 2013 bei Springer veröffentlichte historisch und mathematisch kommentierte Ausgabe von Riemanns Habilitationsschrift hervorhebt. Denn da wo der mathematische Laie schon Kopfschmerzen bekommt, weil es schon im Text sehr abstrakt wird, springt bei Mathematikern erst so richtig der Zündfunke über und die Formeln purzeln aufs Papier.

Olaf Neumann Bernhard Riemann (1826-1866), Edition am Gutenbergplatz, Leipzig 2017, 19,50 Euro.

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