Dieser dritte Band mit lauter Krimi-Kurzgeschichten, in denen eifrig mit Gift gemordet wird, ist auch ein Beispiel für die Lernfähigkeit der daran beteiligten Autorinnen und Autoren. Denn anfangs setzten sie alle auf Dramatik und einen möglichst überraschenden Plot. Als wenn es beim Morden nur auf eine möglichst clevere Idee ankommt, und nicht auf die Motive der Täter.

Die manchmal gar keine Motive sind, sondern Kurzschlusshandlungen. Das Böse ist zwar immer und überall – aber es ist selten bis nie eindeutig. So, wie der Mensch selten eindeutig ist. Erst recht nicht, wenn er glaubt, ein Racheengel des Guten zu sein, wie der Kopfgeldjäger in Andreas M. Sturms Geschichte „Kopfgeld“. Gleich die erste im Band, die geradezu dazu einlädt, darüber nachzudenken, wie schnell der Mensch Unrecht tut, wenn er das Recht in die eigene Hand nimmt. Die Geschichte spielt zwar in den USA, wo dieses geradezu urtümliche Rechtsverständnis noch immer Teil der Rechtspraxis ist. Aber dieser Drang zur Selbstjustiz steckt in vielen Menschen. Vielleicht sogar in allen. Nur: Die meisten schämen sich schon bei dem Gedanken und halten ihre Emotionen zurück. Wohl wissend, dass ein unbedachter Moment fatale Folgen haben kann.

Natürlich geht es in diesen Geschichten zumeist trotzdem um sehr bedachte Momente. Denn um den Opfern all die tödlichen Pflanzeninhalte beizubringen, die in diesem Buch vorkommen, braucht es Planung, wenden allerlei Leute jede Menge Köpfchen auf, um den von ihnen zu Tode Gewünschten das Gift in fester (Kuchen ist sehr beliebt) und flüssiger Form (selbstgebrautes Bier zum Beispiel) beizubringen. Dabei sind oft genug Koch- und Backkünste gefragt.

Aber wenn man den Täterinnen und Tätern so über die Schulter schaut, merkt man, dass sie alle ein Problem haben: Sie planen zwar ihre Taten akribisch – aber sie kommen nicht aus den Schleifen heraus, die sie erst dazu getrieben haben, die Lösung in der Tötung oft ihrer Allernächsten zu suchen. Was ganz sicher ein sehr psychologischer Blick auf unsere Welt ist und auf die Hilflosigkeit vieler Menschen, die sich in Beziehungen flüchten, als müssten sie sich vor dem Leben retten. Und da fällt schon auf, dass die Lebensgefährten, die hier gemeuchelt werden, nicht mehr nur wie Schablonen erscheinen, sondern als Teil sehr komplizierter Ich- und Wir-Beziehungen. Es gibt schon ein paar Stellen, da sagt man sich beim Lesen: Da hätte man wohl doch besser nicht geheiratet. Denn wenn zwei miteinander nicht mehr ehrlich und vertrauensvoll reden können, wenn jede Äußerung doppeldeutig wird – dann wird auch die Liebe zur Hölle.

Ganz zu schweigen von Typen wie in Regine Curths „Weihnachten in Familie“, die direkt einer der schwärzesten Roald-Dahl-Geschichten entstiegen zu sein scheinen.

Aber nicht nur hier schwingt der tödliche Wunsch mit, Macht über andere Menschen zu bekommen. Den kennen sichtlich auch Nachbarn, Schwiegermütter, Geliebte und Ex-Geliebte. Sogar Leute, die mit Internet-Blogs den großen Zampano markieren wollen – diesmal in Whisky-Fragen. Was für den berühmtesten Whisky-Verkoster aus Sachsen in Mario Schuberts  „Finish für Fortgeschrittene“ tödlich ausgeht. Übrigens eine früh im Band zu findende Geschichte, die von der Rücksichtslosigkeit heutiger Geschäftsmodelle erzählt. Denn auch die Gurus im Internet haben Macht – und missbrauchen sie auch. Oft rücksichtslos. Und gern gegen Wehrlose. Mobbing gibt es nicht nur an Schulen. Und auch im Wirtschaftsleben sind die Opfer meist wehrlos.

Dass die Dinge auch völlig aus dem Ruder laufen können, erlebt die Heldin in Frank Kreislers „Überlebensmodus“. Da funktioniert zwar der Modus der Profi-Kriminellen (die die Heldin eigentlich nicht ist), aber immer wieder sorgen Ãœberraschungen im Ablauf dafür, dass die Sache immer mehr aus dem Ruder läuft. In diesem Fall ist mal kein giftiges Pflänzchen schuld, eher ein rabiater Freier, der seine Mordlust nicht zügeln kann … eigentlich eher nur das beiläufige Auslösermotiv für eine Ereignisreihe, die in einer Katastrophe mündet. Aber gerade weil es so beiläufig anklingt, fragt man sich: War es jetzt für diese Runde der Krimi-Anthologisten dran, über den schmalen Grat nachzudenken, der den Menschen von der wilden Bestie trennt, die im Blutrausch keinen Halt mehr kennt?

Was ja eher über die raffinierte Giftmischerei hinausweist und auf eine Gesellschaft verweist, die sichtlich immer enthemmter agiert, moralische Grenzen niedertrampelt und die Enthemmung (den „Kick“) geradezu feiert aller Orten und auf allen Kanälen. Quasi eine Gesellschaft auf Speed, in der gerade die Gewalttätigen alles Recht auf ihrer Seite glauben und die Machtlosen sich keinen rechtlichen Ausweg mehr wissen. So wie der Held in Frank Kreislers „Überlebensmodus“, einer Geschichte, die dann freilich etwas anders ausgeht als gedacht.

Aber gerade weil sich die Autorinnen und Autoren deutlich mehr Mühe gegeben haben, die Psychologie der Täterinnen und Täter zu erkunden, wird deutlicher, wie sehr Mord und Totschlag mit den zunehmenden Ungleichgewichten von Macht und Ohnmacht zu tun haben, wie zuallererst die Atmosphäre einer Gesellschaft kippt und Menschen, die sozial schon ohnmächtig sind, nun auch noch in emotionale Situationen gedrängt werden, die sich (scheinbar) friedlich nicht mehr lösen lassen. Kleine, oft klug konstruierte Kriminalerzählungen also als eine Art Spiegelbild einer zunehmend von Rechthaberei, Gier und Rücksichtslosigkeit besessenen Gesellschaft.

Zumindest bietet sich so eine Interpretation an: Erst wächst das Misstrauen, dann die Ausweglosigkeit …

Da fällt dann David Grays Geschichte „Die bleichen Blumen“ mal wieder völlig aus dem Rahmen. Eine Geschichte aus dem Innenleben einer südamerikanischen Diktatur, wo die Mächtigen ihr Volk mit Mord und Totschlag in Angst und Unterwürfigkeit halten. Bis eine Mörderin zur Heldin wird und die Unterdrückung in eine Revolution kippt … der alte Traum, es brauche nur ein Fanal, und ein Volk steht auf, um sich der Finsterlinge zu entledigen.

Wenn es dann nicht oft genug dummerweise neue Finsterlinge bekäme. Ach, wenn das Volk nur klug wäre!

Aber eigentlich erzählen alle anderen Geschichten davon, dass der Mensch meistens gar nicht klug ist, sehr von seinen Emotionen abhängig, oft völlig irrational reagiert und dann meistens Schäden anrichtet, die nicht wieder gutzumachen sind. Nur nutzt die Einsicht hinterher nichts mehr.

Aber vorher hat Mann (oder Frau) an alles Mögliche gedacht – den richtigen Zuckerguss oder die richtige Dosierung. Nur nicht an all die Folgen an Leid und Schuldgefühlen. Aber vielleicht sind gerade Täterinnen und Täter so, dass sie sich nicht einmal vorstellen können, welche Folgen ihr Tun hat – auch für sie selbst. Und einige Mörderinnen stellen in diesem Büchlein zu spät fest, dass sie die Zeichen falsch gelesen haben.

Auch wenn der Verlag innigst warnt, die tödlichen Rezepte nachzukochen, bleibt ein ganz anderes Gefühl hängen – eines des Bedauerns um die oft von ihren eigenen Gedankenwelten Getriebenen. Das auch in der Realität immer öfter durchschimmert: Warum können sie nicht einhalten? Warum tun sie sich selbst das an?

Gerade weil die um Andreas M. Sturm versammelten Autorinnen und Autoren sich sichtlich mehr mit der Psychologie ihrer Täter beschäftigen, kommt auch ein ganzes Stück Psychologie unserer Gegenwart mit ins Buch. Einer Gegenwart, die einen schon beklommen machen kann, wenn man sieht, wie viel – tatsächlich über Macht verfügende – Menschen ihre Lust ausleben (oder ihre Manie), andere Menschen diese Macht auch spüren zu lassen. Bis zur letzen Konsequenz.

Auf einmal hat man Stoff darüber nachzudenken, dass Mord und Totschlag zutiefst wesensverwandt sind mit Vielem, was wir an unserer Gesellschaft für normal halten. Obwohl es das nicht ist. Auch wenn es sich ein Mäntelchen aus Zwangsläufigkeit und Gesetz gibt. Das Böse …

Aber vielleicht schreibt ja Andreas M. Sturm gerade an seinem nächsten Krimi über das ach so friedliche Sachsen.

Andreas M. Sturm (Hrsg.) Giftmorde 3. Weitere tödliche Anleitungen, Edition Krimi, Leipzig 2016, 13 Euro.

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