Als es die DDR noch gab, gehörte Peter Wensierski als Reporter für diverse Zeitschriften und ab 1986 für das Fernsehmagazin „Kontraste“ zu den bekanntesten Berichterstattern über all das, was in der DDR geschah. Denn Öffentlichkeit über die Vorgänge in der DDR wurde fast ausschließlich über westliche Medien hergestellt. Aber in diesem Buch erzählt Wensierski eine Geschichte, die mit dem Titel „Fenster zur Freiheit“ eigentlich nicht erfasst wird.

Damit assoziiert man ja eher den flimmernden Bildschirm, auf dem die DDR-Bürger die Berichterstattung von ARD und ZDF verfolgten, auch Wensierskis Filmclips, die heute schon historischen Wert haben. Ein ganzes Volk musste die Fernsehsendungen aus dem Nachbarland schauen, um wenigstens ein wenig von dem mitzubekommen, was in seinem Land tatsächlich vor sich ging.

Das war so prägend und bestimmt bis heute die Erzählung von Bürgerrechtsbewegung und Friedlicher Revolution im Osten, dass kaum jemandem bewusst ist, dass die gedanklichen Grundlagen für den Herbst 1989 nicht im Westfernsehen gelegt wurden. Und dass das Denken über die Möglichkeiten einer freien Gesellschaft auch nicht erst im Jahr 1989 begann.

Teilweise weiß man es – etwa aus dem lebendigen Roman Wensierskis über die Akteure der Friedlichen Revolution in Leipzig: „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“, ein Buch, das aus vielen intensiven Gesprächen des Autors mit jenen Menschen entstand, die in Leipzig tatsächlich den Mut hatten aktiv zu werden, als ihnen noch die ganze Härte eines restriktiven Regimes drohte.

Und wer das Buch las weiß, dass auch die Leipziger nicht allein waren, dass sich der Protest in der DDR in den 1980er Jahren zunehmend vernetzte und dass die rund 300 oppositionellen Gruppen eine Menge nicht nur voneinander lernten, sondern auch von den schon deutlich kräftigeren Bewegungen in Polen und der CSSR.

Aber sie haben nicht nur geschaut, wie sich in den Nachbarländern friedlicher Protest organisierte. Dann wäre der Protest in der DDR ziemlich hohl gewesen, ohne Inhalt. Er hätte die falschen Fragen gestellt und die falschen Antworten gegeben. Ungefähr so, wie heutige westdeutsche Medien gern Protestbewegungen in aller Welt darstellen – Hauptsache, es ist ein böser Finsterling da, gegen den der kleine David mutig antritt – und am Ende gewinnt.

Meistens gewinnt er zwar nicht, sondern wird niedergeknüppelt oder bereitet neuen Alligatoren den Weg an die Macht. Oder er kann nicht verhindern, dass den roten Fundamentalisten auf einmal religiöse Fundamentalisten folgen. Und das liegt oft daran, dass zwar die Aufstände und Demonstrationen sehr spontan passieren und schnell Massen auf die Straße bringen. Aber fast immer fehlt die intellektuelle Vorarbeit, die auch die Frage beantwortet: Was wollen wir überhaupt? Und wie kommt man der Herrschaft, die sämtliche Machtinstrumente kontrolliert, eigentlich bei?

Beides gehört zusammen. Weshalb die Revolution in der DDR den größten Teil ihrer Vorgeschichte eine intensive Diskussion über ganz elementare Fragen war wie Frieden, Abrüstung, Demokratie, Zweistaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Denkfreiheit, ein Leben in Würde, das Verhältnis zu Osteuropa, der Traum vom richtigen Kommunismus, die Analyse von Macht- und Männerstrukturen, Gewaltfolgen, psychischem Leidensdruck in Verhältnissen, die eigentlich nicht mehr auszuhalten waren usw.

Und vieles davon fand man in den buchstarken Publikationen eines Verlages, der eigentlich kein richtiger Verlag war, sondern ein riskantes Zwei-Mann-Unternehmen. Der Untertitel bezeichnet es gar als „Untergrundverlag und -druckerei der DDR-Opposition“, als wäre es ein Dienstleistungsbetrieb für eine organisierte Bewegung gewesen. Aber was Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn mit den radix-blättern auf die Beine stellten, war selbst ein Teil dieser Opposition, einer, der gerade in der Rückschau erst zeigt, wie wirksam er war.

Denn illegale Publikationen gab es eine Menge, die meisten eher Faltblätter und kleine Druckschriften in geringer Auflage. Was auch mit dem Zugang zu Druck- und Vervielfältigungsmöglichkeiten zu tun hatte. Denn eine richtige, ordentliche Druckerei stand keiner einzigen Oppositionsgruppe zur Verfügung. Im besten Fall hatten die Akteure Zugang zu Vervielfältigungsgeräten in kirchlichen Einrichtungen – aber das hatten die wenigsten, nur ein geringer Teil der Pfarrer war tatsächlich bereit, die Oppositionsgruppen zu unterstützen.

Aber all diese Publikationen waren zumeist nur für den Tag gedacht, nicht so groß, wie es sich Bickhardt und Mehlhorn dachten, als sie 1986 darangingen, eine Druckschrift zu konzipieren, die sich mit den brennenden Themen des Landes kritisch und vielstimmig auseinandersetzen sollte. Wensierski vergleicht die radix-blätter, die im Grunde Buchformat hatten, mit dem im Westen von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Kursbuch“, 1965 gegründet und tatsächlich in seiner Frühzeit das Debattenbuch zu den gesellschaftlichen Umbrüchen im Westen, was man heute so landläufig 1968 nennt. Und damit benennt er eine Parallele, die fast immer übersehen wird: wie ähnlich sich beide Bewegungen waren.

Beides waren hochintellektuelle Bewegungen, die klügsten Köpfe des Landes formulierten schriftlich ihre Analysen zum Zustand der Gegenwart, machten Lösungsvorschläge, benannten die wichtigsten Themen, hinterfragten politische Gewissheiten. Und: Beides wirkt bis heute.

Auch deshalb sind die heutigen Neuen Rechten so wütend auf ’68 und glauben, ’89 einfach vereinnahmen zu können, obwohl ihr Anliegen das blanke Gegenteil dessen ist, was in der DDR seit Anfang der 1980er zum Aufbruch drängte. Und was dann ab 1986 in den von vielen später namhaften Intellektuellen der DDR-Opposition für die zwölf radix-Publikationen geschrieben wurde, die bis zum Sommer 1989 erschienen und in einer tatsächlich gut versteckten Druckerei in Auflagen mehrerer hundert Exemplare gedruckt wurden. Wensierski arbeitet im ersten Teil des Buches akribisch heraus, wie sich die Akteure rund um diese Publikation fanden, welche Lebensläufe sie hatten und wie vor allem Bickhardt das Ganze so organisierte, dass die Stasi bis zum Schluss nicht herausbekam, wo und wie diese Hefte gedruckt wurden.

Vertrieben wurden sie in der Regel durch Verkäufe bei Kirchenveranstaltungen und auf Basaren. Deswegen hatten die dicken Hefte, in denen sich die Autoren intensiv Gedanken machten auch über den pathologischen Zustand der eingemauerten Gesellschaft, leider nicht die Öffentlichkeitswirkung wie das „Kursbuch“ im Westen, das ja ganz offiziell erscheinen konnte. Aber die Hefte wirkten innerhalb der Kreise, die sich in der Struktur Kirche vernetzt hatten. Hier wurden all die Gedanken formuliert und ausgearbeitet, die ab 1989 ihre Wirkung entfalten konnten.

Von der Infragestellung der deutschen Teilung über die völlig sinnlose und geistabtötende Zensur bis hin zur Frage: Wie demokratisch waren eigentlich die Wahlen und welche Möglichkeiten hatten DDR-Bürger, diese Wahlen zu nutzen, um alte Machtstrukturen aufzubrechen? Noch viel wirksamer war am Ende die Beschäftigung mit der Frage, wie man die Wahlauszählung eigentlich nutzen konnte, um die Wahrhaftigkeit der staatlichen Wahlmeldungen herauszubekommen?

Wensierski hat wohl recht, genau die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 als letzten Auslöser für die Ereignisse von 1989 zu bezeichnen, denn – angeregt von der zugehörigen radix-Publikation – hatten hunderte Oppositionsgruppen im Land an den Auszählungen teilgenommen und konnten schon wenig später belegen, dass die Meldungen über die Wahlergebnisse blanke Lügen waren. Das zeitigte Wirkung, denn ab diesem Zeitpunkt war auch für Millionen DDR-Bürger, die vorher alles brav hingenommen hatten, die Glaubwürdigkeit der SED-Regierung völlig infrage gestellt.

Im zweiten Teil des Buches analysiert Wensierski sehr intensiv, was eigentlich in den zwölf thematisch völlig unterschiedlichen und auch unterschiedlich entstandenen radix-Publikationen zu lesen war. Und ein Fazit, das er zieht, ist natürlich, dass es in der ganzen Geschichte der DDR keine Publikationsreihe gab, die sich so intensiv mit dem realen Zustand der Gesellschaft beschäftigte. Bis hin zu der Frage, was die Mauer eigentlich auch in den Köpfen der Ostdeutschen anrichtete, ein Thema, das Edelbert Richter in einem eigenen Heft ausführlich behandelte.

Und das selbst 30 Jahre nach dem Jahr des Aufbruchs so aktuell ist wie damals. Eben weil die Themen und Fragestellungen der DDR-Opposition zwar alles ins Rollen brachten – aber spätestens mit der Wahl im März 1990 spielte das alles im deutsch-deutschen Einigungsprozess keine Rolle mehr, ging es nur noch um die schnellstmögliche Deutsche Einheit, ohne dass noch jemand die Kraft hatte zu fragen: Was hat eigentlich die Mauer mit der Psyche der Eingemauerten angerichtet? Und: Wie wirkt das eigentlich fort?

Was passiert mit Menschen, die von klein auf mit einem radikalen Bild aus Gut und Böse aufgewachsen waren, mit Mauern nicht nur an der Westgrenze und radikalen Reisebeschränkungen im Osten, sondern auch mit lauter Denkverboten, mit Ausgrenzungen auch im ganz normalen Alltag? Und einige davon waren elementar: etwa die Ausgrenzung aus der eigenen Politik. Was passiert mit Menschen, die nie erfahren durften, wie Demokratie wirklich funktioniert? Wo Mitmachen gefordert ist und die Fähigkeit zum Dialog auf Augenhöhe? Die von den Staatslenkern bis zum Schluss wie unmündige Kinder behandelt wurden, die einfach nicht reif waren für die richtige Einsicht in die Notwendigkeit. Und die es ganz schnell mit Polizei, Partei und Stasi zu tun bekamen, wenn sie es wagten, die Grenzen des Erlaubten zu überdenken.

Nein, es hat sich – außer wieder nur ein paar Engagierte – niemand wirklich damit beschäftigt. Auch nicht mit den Denkverboten der Westdeutschen, die auch deshalb die Opposition in der DDR nur marginal unterstützten, weil die Zweistaatlichkeit auch hier ein Denken der Abgrenzung – und leider auch der Abwertung – produzierte. Was die Ostdeutschen dann ziemlich schnell nach dem Mauerfall zu spüren bekamen, als die ganze Brüderlichkeit wie Schnee an der Sonne schmolz.

Und wie manifest diese Abgrenzung West heute noch ist wird spürbar, wenn Wensierski Mehlhorn zitiert: „Im Empfinden vieler Menschen führt das wahrscheinlich dazu, dass wir hier gar keine richtigen Europäer mehr sind – von den Völkern weiter östlich ganz zu schweigen … So gesehen hat der Mauerbau zu einem tiefen Entfremdungsprozess geführt – trotz der durch ihn möglich gewordenen Entspannungspolitik der siebziger Jahre auf der staatlichen Ebene. Für die DDR waren und sind die Folgen gänzlich anderer Art … Im Schutz und im Schatten der Mauer ließ sich trefflich eine Politik der Abgrenzung und Abschottung realisieren, an deren Folgen unser gesamtes gesellschaftliches Leben schwer – und viele, die weggehen, meinen: tödlich – erkrankt ist …“

Das sind Sätze, die die auf Abschottung zielenden Entwicklungen der Gegenwart in anderem Licht erscheinen lassen. Und die auch erklären, warum Westdeutsche Ostdeutsche immer noch verachten und sich für die besseren Europäer halten, während einige Ostdeutsche noch immer ihre Kränkungen pflegen und für eine Politik der Ausgrenzung und Abschottung nur zu leicht zu haben sind.

Das ist ein gewaltiges Versäumnis. Da war einigen Wahlsiegern der Machterhalt zu wichtig. Machterhalt in der Regel gleich mal verbunden mit bewährten Mitteln der Ausgrenzung und Abschottung.

Auf einmal stehen diese zwölf Publikationen der radix-blätter wie ein Anfang da, der zwingend eine Fortführung gebraucht hätte, ein richtiges „Kursbuch“ für den Osten und/oder die gesamte Deutsche Einheit, die leider durch eines markant gezeichnet war: Denkfaulheit, Scheuklappen und leider eben westdeutsche Überheblichkeit und Mustersetzung bis in die Medien hinein. Und sie stehen für eine intellektuelle Ernsthaftigkeit, die der ganze deutsch-deutsche Dialog in den Folgejahren nicht hatte. Wenn man überhaupt von Dialog reden kann, wenn einer schon qua Medienmacht seine Deutung als die einzig richtige setzt und die Gegenseite immer wieder in der Schmuddelkinderecke landet.

Und gerade das von Richter und dann von der APPA-Gruppe (Absage an Praxis und Prinzip der Ausgrenzung) gesetzte Debattenthema Ausgrenzung hätte nach 1990 endlich zonenübergreifend diskutiert werden müssen. Denn die Diagnose war ja eindeutig: Die Gesellschaft in der DDR war unter den etablierten Ausgrenzungsmechanismen zutiefst erkrankt. Sie litt darunter – unter Sprachlosigkeit, Gefühllosigkeit, unter Zukunftslosigkeit und Machtlosigkeit. Deswegen war ja der Herbst 1989 wie ein Fest, weil er Millionen Menschen zum ersten Mal nach Jahrzehnten das Gefühl gab, nicht mehr macht- und sprachlos sein zu müssen.

Ein Gefühl, das viele Autoren und Autorinnen, die für radix schrieben, schon zuvor gehabt haben müssen. Denn sie wagten nicht nur Grenzüberschreitendes, sie merkten auch, welche Kraft es ihnen gab, endlich wieder Dinge tun zu können, in denen ihr Mut, ihre Emotionen und ihre Klugheit gefragt waren. Sie diskutierten wahrscheinlich viel intensiver als die 68er über Adornos Spruch vom richtigen Leben im falschen, das es nicht geben könnte.

Sie bewiesen, dass der Spruch nicht stimmte. Dass es eher die Forderung nach einem richtigen Leben ist, die eine falsche Bevormundung sprengt. Denn falsches Leben macht krank. Zutiefst krank. Und zwar eine ganze Gesellschaft, die den Leidensdruck nicht dauerhaft verdrängen kann. Was mit so einem Leidensdruck passiert, hat ja 1990 Hans-Joachim Maaz in „Der Gefühlsstau“ beschrieben.

Und man kann sich umschauen und sieht: Es gibt schon wieder ganz ähnliche Phänomene. Und wieder haben Leute die große Klappe, die behaupten, man könne die Sache mit dem Bau von Mauern und Grenzanlagen lösen. Was sie auch deshalb können, weil sich unsere Gesellschaft seit 1990 nie wirklich mit den Fragen beschäftigt hat, die gerade die APPA-Gruppe thematisiert hat.

Die letzten Publikationen von radix waren im Herbst 1989 zwar schon vorbereitet – aber sie erschienen dann nicht mehr. Die Entwicklung war ins Rollen gekommen, viele der Autoren tauchten namhaft als Bürgerrechtler und Parteigründer in der nun zunehmend offenen Debatte auf. Viele wurden Mitgründer von „Demokratie jetzt“, das dann später in Bündnis 90 aufging.

Und erst die Rückschau von Wensierski zeigt, wie stark die Texte und Gedanken aus den radix-Publikationen bis 1989 die Debatten in der Bürgerrechtsbewegung der DDR bestimmten und wie stark diese Vorlagen dazu beitrugen, dass die Entwicklung 1989 mit greifbaren Forderungen verbunden war. Die Frage nach der Deutschen Einheit war genauso gestellt wie die nach einer richtigen Demokratisierung, nach Gleichberechtigung der Geschlechter, nach dem auch damals schon sichtbaren, nie bewältigten Faschismus, nach einer neuen Wirtschaftsweise, die eben nicht mit Marktradikalität unsere Welt zerstört …

Wensierski kann ja nur anreißen, was in den radix-blättern alles angesprochen und aus unterschiedlichster Warte diskutiert wurde. Und gerade weil das so ist, merkt man, wie viel uns heute an gesellschaftlicher Diskussion fehlt. Die Ausgrenzung in vielen Bereichen haben wir dafür behalten. Und alle, die ausgegrenzt werden, wissen, wie man sich damit fühlt.

Weshalb die radix-Geschichte eigentlich keine Erzählung über ein „Fenster zur Freiheit“ ist, sondern eine über eine faszinierende gesellschaftliche Debatte, die einerseits die ganze Sprach-Losigkeit der SED-Herrschaft enthüllte, weil sie zeigte, worüber alles geredet werden musste. Und anderseits zeigen die radix-Hefte durch ihr abruptes Ende auch, wo bis heute die Fehlstelle in der deutsch-deutschen Selbstwahrnehmung ist.

Peter Wensierski Fenster zur Freiheit, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 20 Euro.

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