Mit Henner Kotte wird es immer spannend, egal, ob man einen seiner Leipzig-Krimis liest, seine Sammlungen echter Kriminalfälle, oder ob man mit ihm auf Stadtführung geht – zu echten Leipziger Tatorten oder auch als Knirps zur Kinder-Krimi-Tour. Er weiß an jeder Ecke eine aufregende Geschichte. Und gerade deshalb wird dieser gedruckte Stadtführer etwas Besonderes: Er zeigt – erstmals in dieser Art – wie viele Geschichten in so ein einer kleinen, kompakten City stecken.

Natürlich weiß man das. Unterbewusst ist das alles da. Nur in den üblichen Stadtführern auf Papier nicht. Dort gibt es meist nur immer wieder dieselben Skandalhistörchen, wie sie auch schon zu Gustav Wustmanns Zeiten die Leute zum Schmunzeln oder Grauseln gebracht haben. Als wenn alle nur voneinander abschreiben würden, neues Foto dazu, fertig der Lack. Und das Ergebnis ist ein Bild der Stadt, das aus lauter Stereotypen, Schenkelklatschern und falschen Selbstbildern besteht.

Dabei passiert in so einer Stadt immerfort allerlei, was das Zeug zum großen Skandal oder zur blutigen Tragödie hat. Und manches passt ganz und gar nicht zum netten Farbrausch der Leute, die da an einem verkaufsträchtigen Bild der Stadt malen. Wer wüsste das besser als dieser Henner Kotte, der den realistischen Leipzig-Krimi erst wieder auf die Höhe der Zeit gehoben hat –mit einem gewissen Ingrimm natürlich, denn er gehört zu den Menschen, die es einfach nicht schaffen, die Ereignisse der Gegenwart immerfort mit rosaroter Brille zu sehen.

Die blank geputzte Gegenwart ist oft nur von außen schön sauber. Aber Menschen ändern sich viel langsamer als Gebäudehüllen. Und so verwundert es ganz und gar nicht, dass Henner Kotte auch in diesem Buch jede Menge Geschichten von Scharlatanen, Betrügern, Dieben und Blendern erzählt, die in den letzten Jahren für fette Schlagzeilen sorgten.

Was sie wahrscheinlich alle lieber vermieden hätten. Man wundert sich ja sowieso, wie Leute im vollen Wissen um ihr sträfliches Tun trotzdem immer weitermachen, bis eine kleine Anzeige genügt, ihrem wilden Treiben ein Ende zu setzen. Als hätten sie nie so etwas wie ein Gewissen abbekommen oder jene Gesetzestreue, die die meisten Menschen zu friedlichen und relativ ehrlichen Zeitgenossen macht. Augenscheinlich ist der Lustgewinn am Übertölpeln, Lügen, Betrügen und sich Bereichern so groß, dass dabei alle Hemmungen abfallen und alle Vorsicht flöten geht.

Und schwupps sind diese bekannten Herrschaften eine weitere Geschichte in dem großen City-Parcours, den Henner Kotte hier spazieren geht mit uns. Kleine Karten im Buch zeigen, in welchem Stückchen Innenstadt man sich gerade befindet, sodass man auch die Lokalitäten leicht ausmachen kann, wo all das geschah, was Kotte in seinem knackig-lapidaren Stil zu erzählen weiß. Und da er auch ein emsiger Leser ist, kennt er auch alle wichtigen Bücher, in denen Leipzig zum literarischen Schauplatz wurde – meist mit einem Aufhänger in alten Gerichts- und Polizeiakten.

Man nehme nur gleich die erste Geschichte mit dem mittlerweile weltberühmten Michael Kohlhaas, der eigentlich Hans Kohlhase hieß, oder gleich in der nächsten den Krimi-Autor Friedrich Schiller, der in „Der Geisterseher“ einen Leipziger Fall behandelt, den des Gastwirts Johann Georg Schrepfer, auf den Kotte später noch einmal zu sprechen kommt.

Denn in der City verwebt sich alles. Immerhin war das bis ins frühe 19. Jahrhundert fast die ganze Stadt. Die Personen, die zu Opfern oder Tätern wurden, lebten hier auf ziemlich dichtem Raum beieinander. Die Ereignisse passierten praktisch vor der Haustür – manchmal auch ganz unblutig und trotzdem skandalträchtig wie die Vertreibung des Hanswurst oder der Versuch eines arbeitslosen Lehrers namens Karl May, der sich mit fremder Leute Pelz ein Einkommen zu verschaffen versuchte. Und am „Vebrechertisch“ saßen auch keine Verbrecher, auch wenn die Revolutionäre von 1848 von der preußischen und der sächsischen Justiz so behandelt worden waren.

Manchmal war Leipzig einfach nur der Ort, an dem Autoren literarisch fündig wurden – nicht nur Schiller, der seinen Wurm hier fand, sondern auch Goethe, der hier wohl seine Werther-Idee bekam, von seiner Faust-Geschichte ganz zu schweigen. Literatur und Historie durchweben sich. Und immer wieder gibt es auch Versuche, den Stoff dann für Kino und TV fruchtbar zu machen, was mit jüngeren Leipziger Krimiserien fast immer schiefging. Schiefgehen musste, weil die Drehbuchautoren weder von Leipzig noch von der Mentalität der Leipziger die geringste Ahnung haben.

Vielleicht, weil sie einen der vielen dreisten Stadtführer lasen, mit dem die ahnungslosen Touristen irregeführt werden. Da hätten sie lieber eine der deftigen Stadtführungen bei Henner Kotte gebucht, der vor allem eines weiß: Leipziger sind weder etepetete noch rücksichtsvoll oder smart, wenn es darum geht, das Leben bei den Hörnern zu packen. Da lasse man sich ruhig die Geschichte der Witwe Lehmann vorm Coffebaum von ihm erzählen oder die des titelgeschmückten Dr. Postel, der in Leipzig ganz kurz Karriere machte. Und die Herren, die einst die Leipziger Bank in den Konkurs ritten, sind ganz bestimmt vom selben Kaliber, genauso wie der Ablasshändler Tetzel. Vom smarten Betrüger Johann Jonas, der in der Titelgeschichte die Hauptrolle spielt, ganz zu schweigen.

Natürlich gibt es auch einige der ganz skandalfreien Geschichten zwischendrin, in denen Kotte erzählt, wie etwa das Bachdenkmal zu seinem Gesicht kam, wer in Wirklichkeit das Modell für die Goethestatue abgab oder wie das Hufeisen an die Nikolaikirche kam. Seine Geschichten leben vom Blick aufs Detail. Und deswegen unterscheiden sich auch die Fotos in diesem Band deutlich vom üblichen Postkartenmotiv.

Angefertigt hat sie zum größten Teil Eudora-Verleger Ralf C. Müller selbst. Und man sieht sie schon da stehen, all die neugierig gemachten Stadtbesucher, wie sie mit gezückter Brille nach eben diesen Details Ausschau halten, die auch der eilige Leipziger meistens nicht sieht (oder auch noch nie gesehen hat, weil er nie die Zeit hat, nach oben zu schauen).

Jedenfalls hört mit diesem handfesten Buch die kleine, schmucke Innenstadt auf, einfach nur Kulisse für die üblichen Stadtbilderklärungen zu sein. Die Häuser werden zu Orten, an denen wirklich etwas geschehen ist. Die Namen auf den vielen Erinnerungstafeln werden mit realen Ereignissen verknüpft, grausamen, bedenkenswerten, historischen oder schlicht immer wieder gern erzählten – wie das Drama von Clara und Robert mit dem erzürnten Vater Wieck.

Große und kleine Ganoven treten auf. Aber auch etliche schäkernde Damen im Goldhahngässchen, diebische Museumsmitarbeiter, verunglückte Musikanten und ein pleite gegangener Casanova, dessen Ruhm erst ein Leipziger Verleger zum Blühen brachte, der mit geübtem Auge den Wert der frivolen Tagebücher erkannte.

Wenn nichts passieren würde, gäbe es ja keinen Stoff für gute Bücher. Selbst das überfällige Verbot der Leipziger Lerchenjagd wurde zur Geschichte, die man heute beim Konditor kaufen kann. Eigentlich eine sehr typische Leipziger Geschichte: Man lässt den Kopf nicht hängen, sondern macht was draus. Selbst aus einem so völlig anders gemeinten Spruch wie Froschs „Mein Leipzig lob’ ich mir …“.

Denn was andere über einen erzählen, das kann man immer auch ein bisschen beeinflussen. Und clevere Touristen nehmen sich künftig lieber diesen Band mit lauter knackigen Geschichten über die Stadt, der nun einmal erlebbar macht, dass Leipzig alles mögliche ist – nur nicht langweilig.

Henner Kotte Der Hingerichtete lebt!, Eudora Verlag, Leipzig 2020, 15 Euro.

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