Dass dieses Deutschland irgendwie doch zusammengewachsen ist, merkt man nicht in der Politik oder den Medien. Da ist alles noch streng geteilt nach Wir und Die, nach Hüben und Drüben. Da herrscht institutionalisierte Selbstgerechtigkeit. Man merkt es erst, wenn man sich mit jüngeren Großstadtbewohnern unterhält, die sich in München und Hamburg, Leipzig und Berlin alle mit denselben Problemen herumschlagen. Den Problemen, die eine Alte-weiße-Männer-Welt ständig produziert. Und die Captain Futura in punktgenaue Grafiken verwandelt.

Würde man nicht erfahren, dass Jörn-Peter Boll alias Captain Futura in Hamburg lebt, hätte man ihn nach dem Durchblättern dieses Buches auch für einen Leipziger halten können. Sogar einen waschechten, der jeden Tag mit dem Fahrrad in sein Studio fährt und nur noch den Kopf schüttelt über den Wahnsinn einer Welt, deren Macher so irre sind, dass sie nicht einmal mehr merken, was sie jeden Tag anrichten.

Vielleicht liegt diese Vertrautheit daran, dass Hamburg für junge Selbstständige dieselben Probleme aufgestapelt hat wie Leipzig. Und Jörn ist Selbstständiger – Solo-Selbstständiger im ganzen Sinn des 2020 so oft verwendeten Wortes. Eigentlich hat er Umweltwissenschaften studiert, machte sich dann aber als Grafiker, Texter und Musiker selbstständig.

Dass er nicht in der Umweltwissenschaft Karriere gemacht hat, steckt zum Teil in seiner Grafik auf Seite 28: „Study ‘n run“. Die Chance, in Deutschland auch wissenschaftlich arbeiten zu können auf einem existenzsichernden Arbeitsplatz, liegt bei ungefähr 1 Prozent, wahrscheinlich noch weniger. Deutschland verschwendet seine wissenschaftlichen Begabungen, wenn man es freundlich ausdrücken will.

Verarschen, entsorgen und düpieren würde wohl besser beschreiben, was das Land mit seinem wissenschaftlichen Nachwuchs macht.

Kein Wunder, dass sich Verschwörer, AfDler, Marktradikale und andere Blitzmerker überall tummeln und die Diskussionen an sich reißen. Sie merken doch auch, mit welcher Verachtung die etablierte Politik auf wissenschaftlich gebildete Menschen herabschaut. So etwas färbt ab und regt Nachahmer an.

Also macht Jörn lieber Musik und hat auch gerade seine erste CD herausgebracht. Das Buch erwuchs eher beiläufig, weil Jörn-Peter Boll nie aufhören konnte, wissenschaftlich zu denken. Denn wenn man das erst einmal gelernt hat, kann man sich nicht mehr so doof stellen wie die Herren mit den Dackelkrawatten.

Dann begegnet einem die ganze Unlogik dessen, was die regierenden alten weißen Männer Tag für Tag produzieren, auf Schritt und Tritt. Da musste gar nicht erst Corona kommen mit seinen Demos der Gar-nix-mehr-Merker. Die nicht mal merken, dass auch diesmal wieder das Häuflein der Überbezahlten und Immer-Profiteure seine Regeln durchgesetzt hat und dann im Shutdown aus der sicheren Villa grinsend postete: „Wir stehen das zusammen durch“.

Das ist die Grafik auf Seite 9. Einfach mal auf den Punkt gebracht, warum die Regierungen der reichen Staaten die Corona-Eindämmung nicht gebacken kriegen. Wer aus elitärer Abgehobenheit irgendwelche Nonsens-Regeln aufstellt, die eigentlich Betroffenen aber so offensichtlich im Stich lässt, der kriegt nichts auf die Reihe. Tut aber gern so.

Eigentlich wäre eine richtige wütende Rebellion fällig. Aber die wird es nicht geben. Die querdenkenden Wirrköpfe sorgen genau für den ablenkenden Zirkus, der die eigentlichen Probleme völlig aus dem Blickfeld schiebt. Was Captain Futura in der Grafik auf Seite 7 anschaulich zeigt, auch wenn es da die Welle der Coronaberichterstattung ist, die all die Themen von rechter Gewalt, sozialer (Un-)Gerechtigkeit, Klimawandel und Mietenwahnsinn überrollt. Wenn wir uns nur monatelang immer wieder über Corona erregen, müssen wir uns ja keine Gedanken machen darüber, warum es unsere Regierenden nicht in den Griff bekommen.

Irgendwann vor fünf Jahren begann Captain Futura seine kleinen, treffenden Grafiken zu zeichnen, die in deutlicher Bildsprache auf den Punkt bringen, was alles schiefläuft in unserer Gesellschaft. So treffend, dass er damit ein großes Echo auslöste und den noch jungen YES-Verlag auf sich aufmerksam machte, der aus 100 dieser treffenden Grafiken jetzt dieses Buch gemacht hat.

Die Grafiken sprechen für sich, auch wenn sie nicht so einfach ins Auge gehen wie die üblichen Karikaturen aus deutschen Zeitungen. Denn dahinter steckt Wissen. Richtiges wissenschaftliches Wissen, was noch einmal klarer wird, wenn man die ausführlichen Erläuterungen des Autors zu einigen seiner Grafiken im Anhang liest.

Denn einer wie Captain Futura liest die Medien anders als der übliche Erregungsbürger. Da geht es ihm so ähnlich wie uns. Schon beim Durchscrollen der täglichen Nachrichten filtert er sich die Beiträge zu wissenschaftlichen Hintergründen und Zusammenhängen heraus. Weil man, wenn man wissenschaftlich geschult ist, nun einmal immer wissen will, warum etwas so ist und wie es funktioniert.

Warum veröden eigentlich die Dörfer in Deutschland? Warum werden selbst die Einkaufsstraßen in den großen Städten immer öder und unbezahlbarer? Warum gelingt den deutschen Autobauern seit Jahren, ihre viel zu großen und klimaschädlichen „rollenden Schrankwände“ zu verkaufen? Wie funktioniert das Sackgassendenken von Verschwörungstheoretikern?

Warum haben 90 Prozent der Bürger das sehr berechtigte Gefühl, keine Macht und keinen Einfluss zu haben? Warum führt das konservative Denken, obwohl es doch alles Bestehende bewahren will, so gnadenlos zu Artensterben und Steuerflucht? Warum ist es für deutsche Beamte leichter, eine milliardenteure Autobahn zu bauen als einen simplen Radweg an der Seite?

Captain Futura: Grafiken für eine bessere Welt. Foto: Ralf Julke
Captain Futura: Grafiken für eine bessere Welt. Foto: Ralf Julke

Warum sieht das Hamburger Radnetz (wenn man es wie einen HVV-Linienplan zeichnet) genauso bettelhaft aus wie das Leipziger? Warum funktioniert immer noch das Märchen vom Markt, der alles regelt, obwohl das eigentlich die verdammte Pflicht eines funktionierenden Staates wäre?

Und warum schaffen es die irren Verschwörungstheorien von ein paar wenigen Leuten, die wirklich realen Probleme einfach zu überbrüllen? Kann es sein, dass das Absicht ist und dass das den Leuten, die von Umweltsauereien profitieren, nur zu gut in den Kram passt?

Oder den ganzen rotzfrechen Konzernen, die wie Amazon & Co. komplette Märkte zerstören, die Gewinne aber so lange klein rechnen, bis sie von Luxemburg sogar noch 15 Millionen Euro an Steuererstattung bekommen?

Die Grafiken wirken eigentlich doppelt: Einerseits zeigen sie einem in grafischer Deutlichkeit, wie irre die Welt ist, in der wir unterwegs sind. Und dass auch der radelnde Captain Futura zuweilen richtig wütend ist, zeigen nicht nur seine bissigen, aber sehr realistischen Interpretationen von Verkehrsschildern auf den Seiten 20 und 21.

Da dürfen sich auch die Nutzer von Leipziger Radwegen und Fahrradstraßen wiederfinden mit ihrem nur zu berechtigten Zorn auf Planer, die – hoppla – mal wieder den Radweg vergessen haben. Oder Autofahrer, denen die Regeln eh egal sind, Hauptsache, sie haben Vorfahrt.

Und auch das ganze politische Geschwätz von der Mitte (wo sie sich ja alle nur zu gern verorten wollen) löst sich in Luft auf, wenn man die Haltungen der Parteien zu Klimawandel, Digitalisierung oder umweltverträglichem Wirtschaften auf einer Skala zeichnet. Da werden die extremistischen Positionen etlicher Parteien erst richtig deutlich – und verständlich, warum sie zwar gern darüber reden, was sie tun wollen – aber stets das Gegenteil tun.

Die Grafiken zeigen sehr schön, wie die Mehrheit der Gesellschaft nur zu bereit ist, sich hinter Phrasen, Märchen und faulen Ausreden zu verstecken. Was sind schon 50 Millionen Autos in Deutschland? Damit kommt man doch nicht mal zu Mond? Hintereinander gereiht aber schaffen diese 50 Millionen schon mal drei Viertel der Strecke. Und müssen nicht mal fahren dabei.

Das ist sozusagen Skalierung mal anders herum: zu zeigen, welche brachialen Wirkungen eigentlich die millionenfachen Ego-Entscheidungen von Menschen haben, die immer so tun, als ginge sie das alles nichts an, als wäre ihr Beitrag zum großen Käse doch nur ganz klein.

50 Millionen kleine Beiträge aber sind nun einmal ein riesiger Käse, der vor sich hinstinkt. Genauso wie 500 Millionen faule Kaufentscheidungen bei Amazon eben das Sterben kompletter Geschäftsstraßen und kleiner Betriebe nach sich zieht. Oder der Abbau von 2.600 Kilometer Gleisen in Ostdeutschland die Verödung ganzer Landschaften nach sich zog.

Oder, oder …

Captain Futura hat ein ungemeines Gespür dafür, all diese frappierenden Fakten und Tatsachen in treffende Grafiken zu verwandeln, die auf ihre Weise die Gedankenlosigkeit einer ganzen Gesellschaft sichtbar machen. Egal, ob es die Ausbeutung der Billiglöhner in der deutschen Fleischindustrie ist, die Macht der Hühnerbarone bei der Verhinderung von Gesetzen für das Tierwohl, die Macht der sogenannten Wirtschaft (hinter der immer wieder dieselben Manager der Fossilkonzerne stecken), wenn es um das fahrlässige Auslösen von Krisen geht und die dann automatisch immer folgende Selbstbedienung bei Rettungsgeldern des Staates – also der kleinen Steuerzahler.

Und andererseits tröstet das Buch natürlich. Denn es zeigt, dass wir hier nicht allein sind, dass es unter dem ganzen Krawallzirkus der eitlen alten Männer, die nur an sich, ihr Ego und ihren Profit denken, überall in Deutschland diese gut ausgebildeten jüngeren Menschen gibt, die nicht mehr bereit sind, diesen Irrsinn zu bejahen. Die lieber solo ihr Ding machen und sich mit solchen treffenden und klaren Grafiken verständigen können. Und die die Welt eben nicht so interpretieren, wie es die Narren in den Talkshows jeden Abend beschwören.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Und wer weiß, wie Youtube-Algorithmen funktionieren, weiß auch, warum auf einmal so viele Leute zu Verschwörungstheoretikern werden.

Wer das wissenschaftliche Denken liebt, der wird seine innige Freude haben an diesem Buch. Und mancher wird beim Durchblättern erst merken, dass er auch wissenschaftlich denken kann. Denn dazu muss man keinen Master oder Doktortitel haben oder sich von einem befristeten Forschungsstipendium zum nächsten hangeln.

Dazu reicht irgendwann im Leben dieser kleine Moment, in dem es irgendwo im Kopf schnapp machte und die Freude darüber aufploppt, dass man mit logischem Denken die Welt erkennen kann. So wie sie ist. Wissenschaftliches Denken ist nicht nur Wissenschaftlern vorbehalten. Es schenkt jedem, der es gelernt hat, jeden Tag neue Vergnügungen eines entdeckungsfreudigen Geistes.

Auch wenn man sich dann nur umso mehr ärgert über die Gedankenlosen, die einfach immer so weitermachen in ihrem Trott, meistens erschreckend humorlos. Aber wie soll man auch noch Humor haben in einer Welt, wenn man sie nicht mehr als verbesserbar begreift, sondern sich nur noch fürchtet vor allem, was sich ändern könnte? Wie aber kann einer über sich selbst schmunzeln, wenn er die Narrheit des eigenen Tuns nicht mehr sieht?

Was übrigens nicht nur für SUV-Besitzer gilt oder Bitcoin-Käufer, Schottergärten-Anleger oder Black-Friday-Besessene. Es gilt auch für einen Großteil unserer Medien, die wirklich jede Runde im jährlichen Empörungszyklus mitdrehen (Seiten 98 und 99) und bei jeder Nachricht aus dem Ausland die dämliche Frage stellen: Waren auch Deutsche unter den Opfern? Das ist nicht nur ein leicht angehauchter Nationalismus, sondern ein nach Fußschweiß riechender.

Wir bräuchten eigentlich viel mehr Medien, die die Welt mit diesem wissenschaftlichen Humor betrachten würden, wie es Captain Futura hier tut. Viel mehr.

Aber wir sind noch viel zu wenige.

Captain Futura Grafiken für eine bessere Welt, YES Verlag, München 2020, 14,99 Euro.

100 Karten über Sprache: Die bunte Welt der Sprachen mal aus der listigen Perspektive des Sprachwissenschaftlers gezeichnet

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