Es ist ein Mammutwerk und eine Publikationsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Da schrieb ein Pfarrer in der schwedischen Stadt Stralsund vor 250 Jahren sein Leben auf, wie es selbst andere Pfarrer nicht taten. Und die evangelischen Pfarrer in Deutschland waren nicht schreibfaul. Oft betrieben sie das Festhalten der kleinen lokalen Weltgeschichte mit einer Akribie, die Historiker bis heute entzückt. Doch Johann Christian Müller schrieb sogar sein ganzes Leben auf.

Vier dicke Bände werden es am Ende sein, die die Leipziger Historikerin und Germanistin Katrin Löffler im Lehmstedt Verlag herausgegeben hat – alle sorgfältig ediert, mit Anmerkungen und Personenverzeichnissen versehen, sodass der heutige Leser immer die Orientierung hat. Der erste Band mit Müllers Kindheit und Studienjahren in Jena, Leipzig und Greifswald erschien schon 2007.

Der zweite folgte 2013. Er schildert Müllers Zeit als Hofmeister – neun lange Wartejahre in subalterner Position, die ihm nicht einmal das nötige Einkommen zur Gründung einer Familie einbrachten. Sie endeten erst 1755, als der nun 35-Jährige auf die Pfarrstelle an der Heilig-Geist-Kirche in Stralsund gewählt wurde.

Was nicht bedeutete, dass er jetzt endlich aus allen finanziellen Kalamitäten heraus war und ihm seine neuen Vorgesetzten nicht auch noch missgünstig vorwarfen, er hätte wohl doch lieber nicht so jung heiraten sollen, da er ja nicht genug Geld hatte, ohne beim Wirtschaften Schulden zu machen. Dieser dritte Band hat es durchaus in sich.

Denn eigentlich wäre dieses Jahr 1755 das Jahr gewesen, in dem der studierte Theologe endlich hätte aufatmen können. Denn endlich hatte er eine bezahlte Anstellung, wenn auch an der kleinsten der drei Stralsunder Kirchen.

Doch wer in unseren Zeiten jammert, dass das Leben so oft von Widrigkeiten durchsetzt ist, der kennt die Widrigkeiten des 18. Jahrhunderts nicht. Und zu denen gehören natürlich auch die Zeitumstände, all das, was dann in den Geschichtsbüchern vom Ruhm der Könige erzählt, deren Handeln nur zu oft zu einer genialischen Vollstreckung historischer Notwendigkeiten hochstilisiert wird.

Aber Müller erzählt, wie das wirklich war, als der Siebenjährige Krieg auch nach Stralsund kam, denn auch Schweden wurde mit hineingezogen in diesen Kampf um Preußens Gloria. Müller war gerade einmal ein Jahr im Amt, als Stralsund schwedische Truppen aufnehmen musste und zur Festungsstadt wurde, die auch kurzzeitig von den Preußen belagert wurde. Mit dem Ergebnis, dass auch Müller Einquartierung bekam und sein Dachboden jahrelang sogar zur Waffenkammer gemacht wurde.

Und natürlich erlebte er auch, wie die Nahrungsmittel knapp und teuer wurden und gleichzeitig die Kriegsherren das alte Geld durch minderwertiges ersetzten. Was ihm eigentlich unmöglich machte, mit seinem gnädig gewährten Pfarrersalär auszukommen. Doch die sichtlich sehr knauserigen Räte der Stadt, die für die Besoldung der Pfarrer die Entscheidungsgewalt hatten, taten sich während des Krieges schwer, auch nur die Geldentwertung durch Aufstockung der Bezüge auszugleichen.

Nach dem Krieg behandelten sie Müller gar wie einen Mann, der unfähig wäre, mit dem ihm gegönnten Gehalt umzugehen. Denn er hatte sich das Fehlende bei seinen Schwägern ausgeliehen, erhebliche Schulden angehäuft, für deren Ausgleich er nun an die Herren im Rat appellierte.

Natürlich spielten auch persönliche Animositäten eine Rolle. Und natürlich auch Machtspiele, Einfluss und Eitelkeiten. Akribisch verzeichnet Müller all seine Gespräche und Bittgänge. Manchmal hat man das Gefühl, dass er es auch zu seiner Sicherheit tat, um sich gegen spätere Unterstellungen und Gerüchte zu wappnen. Denn dieses Stralsund zwischen 1755 und 1766 war eine letztlich kleine Stadt, in der die meisten Dinge in Hinterstuben besprochen wurden, in denen Verleumdungen scheinbar geübte Praxis waren.

Man schwatzte nicht nur übereinander und streute wilde Gerüchte, wie es Pfarrer Müller in einem Abschnitt von seinen respektlosen Nachbarn auf der anderen Straßenseite erzählt. Man schwärzte auch eifrig an, was diesen ersten Band aus Müllers Pfarrerzeit gleich mal mit einem tragischen Schicksal enden lässt, denn die Ratsherren jagen allein aufgrund einer ganz gezielten Anschwärzung Müllers Küster Neumann aus dem Amt, wohl wissend, dass der 60-Jährige fortan kein Auskommen mehr hat und seine Familie nicht mehr ernähren kann.

Eine Unbarmherzigkeit, die einen doch an so manches aus unseren Tagen erinnert.

Zuvor sind wir als Leser sogar direkt mit dabei, wie das Schicksal der gerade einmal 26-Jährigen Catharina Maria Flindt endet, die als Kindsmörderin hingerichtet wird und der Müller in ihren letzten Stunden geistlichen Beistand gibt. Augenscheinlich eine Zuwendung, die die junge Frau zuvor nicht erfahren hat, denn wie Müller zu berichten weiß, war sie als Dienstmagd wohl vergewaltigt worden, nachdem sie die Avancen eines zudringlichen Offiziers abgewiesen hatte. Auf einmal steht ein ganzes Frauenschicksal vor uns, wie es sich ja auch in Goethes Gretchen spiegelt.

Nur dass Catharina noch viel Dramatischeres erlebt, denn nachdem sie zum Tode verurteilt wurde, wird sie in einer aufsehenerregenden Aktion aus dem Gefängnis befreit und entführt, scheinen die Offiziere, die auch nach dem Kriegsende in Stralsund noch ihr rücksichtsloses Leben fortsetzen, den Schaden scheinbar wieder gutzumachen.

Aber das hatten sie wohl nie im Sinn. Mit 20 Reichstalern schicken sie die junge Frau in die Fremde, in der sie gar keine Überlebenschancen hat – ohne ein Zeugnis, das ihren gesitteten Lebenswandel bestätigt. Denn danach fragen auch die neuen Dienstherren in Dresden. Schon bald verlässt sie jeder Mut und sie kehrt nach Stralsund zurück, wo die Richter nicht einmal daran denken, ihr selbst das zugutezuhalten.

In Müllers Schilderung der Hinrichtung spürt man sein Beteiligtsein und seinen Versuch, davon dennoch nicht zu viel zu zeigen. Obwohl seine Aufzeichnungen nie zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden sollten, zeigen sie dennoch einen Mann, der selbst in der Schilderung der frustrierendsten Ereignisse bemüht ist, Respekt und ein Beharren auf guten Sitten und Anstand nicht zu vergessen. Ganz so, als fürchtete er immer auch, dass dieselben Herren, die er in ihren Amtsgeschäften schildert, eines Tages diese Niederschrift in die Hände bekommen könnten.

An Leser im 21. Jahrhundert hat er ganz bestimmt nicht gedacht. Und es ist ein riesiger Glücksfall, dass die Aufzeichnungen tatsächlich überdauert haben. Aber schon seine 1761 geborene Tochter Christiane Dorothea, liebevoll Dörtgen genannt, muss die Aufzeichnungen ihres Vaters mit Hochachtung aufbewahrt haben.

Vielleicht auch nur, weil sie voller Erinnerungen waren – auch an ihre Mutter Anna Dorothea, die Müller ja in dieser Zeit heiratete und die er nur an einer Stelle als eher zierliche Person schildert, die ihm dennoch allein in diesen hier geschilderten Jahren neun Kinder gebar – acht sind teilweise schon tot geboren. Nur Dörtgen hat überlebt und ist am Ende dieses Bandes zu einem neugierigen und klugen Kind gereift, das selbst seinen Vater beeindruckt.

Der logischerweise auch einige Momente des Entsetzens erlebt hat, in denen Frau und Kind in Lebensgefahr schwebten, kurz nach Ende des Krieges z. B., als die kleine Familie aufbricht, um einen verwandten Pfarrer auf dem Land zu besuchen und dabei einen Unfall mit der Kutsche erlebt. Aber Müller schildert diesen Ausflug auch deshalb so ausführlich, weil ihm dergleichen Urlaub von den Stralsunder Amtsgeschäften in den ganzen Jahren vorher nie vergönnt gewesen ist.

Er muss gar nicht einmal satte Farben auftragen, um seine Leser/-innen mitzunehmen in das geschwätzige, von Krämern regierte und von Soldaten durchpolterte Stralsund von 1755 bis 1766 (der zweite Teil seiner Pfarrerjahre wird sich in Band 4 dieser Ausgabe finden). Wir erleben seinen immer wiederkehrenden Ärger mit den Hausmädchen, die sich auch deshalb verdingen, weil sie sonst kaum eine andere Chance auf einen bürgerlichen Broterwerb haben.

Und die fleißigsten und besten werden auch dem Pfarrer entweder von anderen Standespersonen mit einem besseren Handgeld abgeworben oder sind auch begehrte Bräute bei Handwerkern. Denn wer einen Pfarrerhaushalt verwalten kann, der kann auch eine Familie gut versorgen.

So denkt Müller zwar nicht, für den oft der blanke Ärger über die Dummheit, Faulheit oder Unwissenheit der jungen (und älteren) Frauen im Vordergrund steht. Aber Ärger hatte er ja mehr als genug. Manche Tage lief er regelrecht von Pontius zu Pilatus, um irgendwie auch nur einmal eine klare Ansage zu bekommen. Und so nebenbei lässt er zumindest durchblicken, dass selbst die Arbeit als Seelsorger kein Zuckerschlecken war und ihn oft bei Wind und Wetter und mit angeschlagener Gesundheit zu den Gottesdiensten und Predigten eilen ließ.

Die Predigten schrieb er oft mitten in der Nacht. Und immer häufiger erzählt er von den Fiebern, Kopfschmerzen und Lähmungen, die ihn überfallen. Eigentlich Stoff genug für einen heutigen Arzt, denn die Frage, woran er wirklich leidet, kann auch der herbeigerufene Doktor meist nicht klären. Und so sind dann Aderlässe oft die vorgeschlagene Lösung.

Müller rennt sich zwar regelrecht die Hacken ab, um mit all den Leuten und Vorgesetzten zu reden, die für sein Amt und seine Stellung eine Rolle spielen. Aber selbst unter den Pfarrern ist er nur der Drittrangige (was nicht heißt, dass ihm andere diese Stellung nicht neideten). Zu den Honoratioren gehört er jedenfalls nicht. Teilweise auch nicht, weil ihm die Unverfrorenheit fehlt, Bitten abzuschlagen und Arbeit zu delegieren. In ihm lebt ganz unübersehbar ein protestantisches Pflichtgefühl, verbunden mit einem stark ausgeprägten Gefühl für Recht und Gerechtigkeit. Was es ihm nicht leichter macht, mit seinen zuweilen hämischen und missgünstigen Zeitgenossen auszukommen.

Man bekommt ein ziemlich farbenreiches Bild des Lebens und Treibens in diesem Stralsund in der Zeit des Siebenjährigen Krieges, auch von den vielen ungeschriebenen Regeln, die die Lebenswege seiner Bewohner bestimmten. Immerhin begleitete Müller ja als Pfarrer die Menschen von der Geburt bis zum Tod, war auch Beichtvater. Persönliches vermischt sich mit Stadtleben, die Sorge um Frau und Kind mit den Sorgen um seine Schwestern und ihre Familien.

In gewisser Weise ist man mit diesen zwölf geschilderten Jahren tatsächlich Teil seines kleines Haushalts, hat an seinen Sorgen und Bekümmernissen teil, auch wenn er über sein eigentliches Familienleben nicht wirklich viel verrät. Was ganz gewiss auch viel mit seiner doch sehr zurückhaltenden Persönlichkeit zu tun hat. Selbst als er aus Hilflosigkeit einmal das Dienstmädchen schlägt, ist er hinterher zerknirscht. Man merkt, wie sehr er die Rollenerwartungen seiner Zeit verinnerlicht hat und wie sehr das Unterdrücken von Leidenschaften zu seinem Selbstverständnis als Lutherischer Pfarrer gehört.

Aber gerade dadurch wird es einmal ein völlig anderes Zeitgemälde als das etwa aus Sicht von Dichtern und Schriftstellern – nicht verklärt, auch nicht von einer Aufgeklärtheit, die es so im Deutschland des 18. Jahrhunderts in der Breite noch nicht gab. Noch gelten die strengen Sitten einer Standesgesellschaft, verbunden mit den Erwartungen an eine umfassende Frömmigkeit, die freilich etliche von Müllers Zeitgenossen nicht (mehr) erfüllen.

Der Krieg spielt da gewiss eine Rolle. Aber Müllers harsche Kritik an Freimaurern und Herrnhutern zeigt auch, dass er sehr wohl registriert, dass sich da auch in der Gesellschaft etwas ändert, etwas, das ihm zutiefst fremd ist, obwohl er immer wieder zeigt, wie offen er für die Leiden und Freuden seiner Mitwelt ist.

Es ist kein Roman, den man mal eben wegschmökert. Man taucht beim Lesen dieses nun dritten Bandes seiner Lebenserinnerungen tief ein in die Welt des evangelischen Pfarrers Johann Christian Müller. In riesiger Fleißarbeit wurden seine Aufzeichnungen transkribiert. Sogar einige Stellen im Plattdeutsch seiner Zeit wurden erhalten. Und praktisch jeder erwähnten Persönlichkeit wurde nachgeforscht. Man findet die gefundenen Lebensdaten alle im Anhang.

Nebst hunderten Erläuterungen zu Stellen, die von sich aus nicht immer verständlich sind, teilweise auch, weil die erwähnten Dinge und Selbstverständlichkeiten verschwunden sind. Und am Ende hat man zuweilen selbst das Gefühl, mit diesem frommen Pfarrer in seiner Diele zu stehen, das zärtliche Gefühl für die Frau zu unterdrücken, die ihn verabschiedet, wenn er in aller Frühe zu seiner Kirche eilt, um dort das zu tun, was man so tut für das Seelenheil einer Gemeinde, die meist nicht allzu zahlreich vertreten ist.

Was wohl eher weniger mit dem Sittenverfall durch die Kriegszeit zu tun hat, als mit der Auflösung einer konfessionell streng verwalteten Gesellschaft, die ja gerade erst begonnen hat. Das lässt für den von Glaubensstrenge überzeugten Pfarrer im letzten und vierten Band noch so einiges an Ärger und Grübelei erwarten. Und für heutige Leser/-innen dürfte es durchaus erhellend sein, so intensiv und dicht zu erleben, wie fern uns gefühlsmäßig dieses späte 18. Jahrhundert schon ist. Und im Allzumenschlichen dennoch vertraut.

Johann Ch Müller; Katrin Löffler Meines Lebens Vorfälle & Nebenumstände, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2020, 30 Euro.

Des Müllerschen Lebens zweiter Teil: Das harte Leben als Hofmeister in Pommern

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