Hänsel und Gretel hätten heutzutage gewaltige Schwierigkeiten, einen Wald zu finden, in dem sie sich verlaufen könnten. Aber: Ist deshalb das Märchen schon überholt? Macht es gar keinen Sinn mehr? Oh doch, fand der Leipziger Autor Gunter Preuß. Denn unsere Wohlstandsgesellschaft kennt eine ganz andere Hungersnot als das in Märchen verwandelte Mittelalter.

Da fing er gar nicht erst an, nach einem Wald zu suchen, in dem zwei Kinder von herzlosen Eltern hätten ausgesetzt werden können. An die Eltern von Hänsel und Gretel denkt ja kaum einer, der das alte Grimmsche Märchen liest. Man sieht die böse Hexe vor Augen und wie sie mit den Kindern umspringt. Dass aber die eigentliche Herzlosigkeit ganz am Anfang stattfindet, als die Kinder im Wald ausgesetzt werden, geht bei aller Humperdinckschen Märchenhaftigkeit völlig unter.Was natürlich psychologische Gründe hat. Denn wenn Eltern so weit gehen, ihre Kinder auszusetzen, ist das wohl das schlimmste Trauma, das Kinder erleben können. Gar nicht daran zu denken, wie die Eltern damit umgehen werden und was das mit ihnen anrichtet.

Und Traumata werden verdrängt. Viele der von den Grimms aufgezeichneten Märchen erzählen von genau diesen verdrängten Schrecken. Das Märchenhafte ist die Tünche darüber, der Versuch, das erlebte Schreckliche irgendwie zu bewältigen und in eine aushaltbare Geschichte zu verwandeln. Wer diesen Kern der Geschichte ernst nimmt, der merkt, dass die Kinder unserer scheinbar von Hungersnöten befreiten Gesellschaft dennoch ganz Ähnliches erleben.

Und dass die Hexe auch in der Grimmschen Variante eigentlich ein ernst zu nehmendes Gegenbild ist. Denn im Gegensatz zu den Eltern der Kinder sind ihr die beiden nicht gleichgültig. In ihr vereinen sich Faszination und Verunsicherung. Und damit ist sie unübersehbar viel lebendiger als die Eltern – oder genauer: als die Mutter in der Fassung von 1812, die sich eindeutig so herzlos benimmt, als wären die Kinder nicht ihre eigenen, während der Vater, ein armer Holzhacker, es nicht übers Herz bringen will, die Kinder im Wald auszusetzen.

Auch diesen Aspekt der Geschichte lassen selbst die ganzen Berge von psychoanalytischen Deutungen, die auch Wikipedia wollüstig zitiert, einfach weg. Ein klassischer Fall dafür, wie auch so ein Lexikoneintrag die eigentlich traumatische Geschichte zu sublimieren versucht, um mal Freud zu zitieren. Kaum ein Märchen erzählt so drastisch vom Trauma der Kindheit (Stichwort: Alice Miller „Du sollst nicht merken“), wenn eins der Elternteile unfähig ist, seine Zuwendung zu zeigen. Am Ende des Märchens ist der Vater überglücklich. Die Frau, die ihn genötigt hatte, die Kinder fortzuschaffen, aber ist tot.

So weit geht Gunter Preuß natürlich nicht. Und bei ihm hungert die Familie Goldberg auch nicht. Der Vater ist ein erfolgreicher Juwelier, hat Geld wie Heu und einen Tresor im Keller. Er kann der Familie alles kaufen, was sie braucht.

Die Kinder werden mit Spielzeug überschüttet. Aber das Haus, das er sich hat bauen lassen, ist ein kleines Schloss – gut gesichert mit Video- und Alarmanlage, einem gepflegten Garten, in dem die Kinder nicht spielen wollen, und Gitter vor den Fenstern. Herzlich willkommen im Leipziger Speckgürtel, wo man etliche solcher protzigen Eigenheime finden kann, gesichert wie Banken und schon beim puren Anblick abweisend wie Trutzburgen.

Und Gunter Preuß macht es nicht kurz. Er will ja das Märchen nicht nacherzählen. Er nutzt seinen großen Atem als Erzähler, um die kleinen und großen Leser/-innen einzuführen in die Welt von Johannes und Margarethe, Kinder, die eigentlich alles haben, die von ihren Eltern geradezu überhäuft werden mit Geschenken. Doch Margarethe merkt, dass da etwas fehlt.

Sie kann deshalb nicht schlafen. Die kleine Welt in diesem Haus, in dem scheinbar alles in Ordnung ist (auch wenn man der Mutter anmerkt, dass sie keine Ruhe findet in ihrer Rolle als schöne Partnerin und Hausfrau – zwei Bedienstete leistet sich die Familie ja auch noch), ist gerade diese Ordnung zu viel. Einfach zu viel. Die Abenteuer der Kinder finden nur noch vorm Fernseher statt. Draußen aber, irgendwo da in der Welt außerhalb des Hauses, muss noch etwas anderes sein.

Und so sind es diesmal die Kinder, die den Ausbruch wagen – raus aus einer in sich geschlossenen Welt, in der alles perfekt organisiert ist und doch irgendetwas gewaltig fehlt. Vielleicht haben die heutigen Kinder der Helikoptereltern genau solche Gefühle. Und wahrscheinlich müssen wir uns auch nicht wundern, wenn sie künftig noch viel mehr ausbrechen aus einer Gesellschaft, in der es keine Geheimnisse, keine Störenfriede und Hexen mehr gibt.

Also eine andere Welt, in der es eben nicht von allem zu viel gibt. In der Menschen sich um ihr täglich Brot sorgen müssen und ihr Dach über dem Kopf, in der sie noch Abenteuer erleben, auch wenn es die oft harten Abenteuer eines Lebens in einer gefühllosen Gesellschaft sind, die auf die, die nicht im Geld schwimmen, mit Verachtung herabschaut.

Nichts ist so beklemmend wie das Schlaraffenland, das nächste Märchen aus der Grimmschen Sammlung, das von den Schrecken des gedankenlosen Wohlstands erzählt. Wer liest, wird noch mehr finden. Es ist höchste Zeit, diese Märchen auszubürsten und die oft genug traumatische Wirklichkeit der Erzähler darin zu finden, des sogenannten Volkes, das sich nicht auf die berühmte Couch der Psychoanalytiker legen kann, weil es dazu weder Zeit noch Geld hat. Und worüber sollte es dort auch reden, wenn die Gefühllosigkeit fester Bestandteil ihrer Erfahrungen ist mit den Hochwohlgeborenen und Gutversorgten?

Eben jener Gesellschaft, aus der Gretel und Hänsel gleich zweimal flüchten – beim ersten Mal noch von den „Brosamen“ des Vaters wieder eingefangen, beim zweiten Mal von der energischen Gretel aber endlich herausgebracht aus diesen falschen Verlockungen einer Elternliebe, die sich nur noch in teuren Kinkerlitzchen zeigte. Und natürlich bangt man mit diesen beiden mit, weil sie natürlich in eine Welt geraten, in der die sowieso Ausgestoßenen und Außenseiter leben.

So wie Ingwer, die Frau in der seltsamen Hütte auf der Müllhalde, die den Kindern so burschikos und rigoros begegnet wie eine richtige Hexe. Und vielleicht ist sie ja auch eine, so, wie richtige Hexen eigentlich immer waren: selbstbewusst, eigensinnig, stolz darauf, von niemandem abhängig zu sein. Und deshalb auch mit dem „Herz auf der Zunge“. Sie redet nicht um den heißen Brei herum, redet Klartext und lässt die Kinder dann doch bei sich in der Hütte schlafen, nachdem diese hartnäckig blieben.

Deswegen faszinieren Hexengestalten in den Märchen immer wieder: Sie fordern heraus, lassen keine Ausreden gelten, sind direkt und unverschämt. Denn sie haben nichts zu verlieren, schon gar keinen Status. So gesehen stehen sie für all das, was sich die Wohlerzogenen immerfort verkneifen. Auch für den Mut, sich aus den ganzen Verlockungen einer von Sicherheit und Ordnung besessenen Gesellschaft herauszuhalten, sich ihre Hütte in der letzten verbliebenen Wildnis zu bauen und von dem zu leben, was sie mit eigener Mühsal zusammenklauben können.

Gretel und Hänsel finden bei ihr etwas, was ihre Eltern ihnen nie geben und nie zeigen konnten, auch wenn es Gunter Preuß nicht benennt und nicht erwähnt. Was er auch nicht muss. Denn genau das ist jene Stelle, die auch die Grimms nicht auserzählen, über die die Märchenvorleser meistens gedankenlos hinweglesen ohne zu stutzen.

Du darfst nicht stutzen, könnte man meinen.

Aber man sollte stutzen. Denn was Preuß nicht extra erzählt (weil er mit klugen und aufmerksamen Leser/-innen rechnet) steckt in dieser scheinbar etwas flapsigen, respektlosen und auch fordernden Umgangsweise von Ingwer mit den Kindern, die schnell gelernt haben, sie genau so zu nehmen. Denn genau auf diese Weise zeigt sie den beiden, dass sie sie ernst nimmt – auch in ihrer Unentschiedenheit. Sie nimmt ihnen nichts ab, im Gegenteil. Sie sollen mithelfen, kochen und putzen. Und ob sie dableiben wollen oder weggehen, das müssen sie selbst entscheiden.

Es klingt so einfach. Aber lernen das Kinder tatsächlich noch in unserer Gesellschaft, die so viel Eigensinn und Unbotmäßigkeit gar nicht mehr verträgt? „Lackaffen“ nennt Ingwer die beiden Kinder, denen sie – egal wie kurzsichtig sie ist – sofort ansieht, in welcher behüteten Umgebung sie aufgewachsen sind.

Lackaffen. Mit dem Wort holt Preuß die Wirklichkeit zurück in die Geschichte, die Wirklichkeit der sogenannten kleinen Leute, die immer um jeden Cent Mühe walten lassen mussten, in der Frauen, die sich abschindeten in völlig unzulänglichen Wohnungen, mit zu wenig Geld – arme Leute eben, die froh waren, wenn die Kinder wenigstens geflickte Kleider trugen. Ist das schon so lange her? Leben wir alle im Schlaraffenland?

Nein. Nur sehen wir meistens diejenigen nicht mehr, die sich noch immer jeden Tag abrackern müssen, um über die Runden zu kommen und die Kinder satt zu bekommen. Armut ist zu etwas Peinlichem geworden, versteckt hinter den bunten Vorhängen einer Gesellschaft, die sich über Kaisers Bart streiten kann – jeden Tag aufs Neue. Aber wenn mal was aufploppt von da draußen und da unten, geht gleich wieder die Neiddebatte los, das Abwiegeln und Kleinreden. Unsere finsteren Wälder sind andere.

Und auch die Herzenskälte sieht anders aus, hat sich auf nett geschminkt und besorgt und mitfühlend. Aber sie ist deshalb nicht weniger egoistisch und introvertiert. Und sie macht nicht weniger Angst. Und nicht alle Kinder werden das so sehr spüren wie Margarethe, die kurzentschlossen den Fluchtplan schmiedet. Nur die wenigsten werden das Glück haben, auf eine Hexe wie Ingwer zu stoßen.

Es ist eine Geschichte, die keine Moral braucht und in der Gunter Preuß auch nichts erklären muss. Auch nicht, dass die Flucht durchaus hätte schiefgehen können. Unsere Gesellschaft ist keine, die Ausbrüche und Abweichungen auch nur im geringsten tolerieren mag, auch wenn sie sich scheinbar tolerant gibt in der Öffentlichkeit.

Wie hart und gefühllos sie tatsächlich ist, wissen nur die, die sich an ihrem Rand durchschlagen müssen, dort, wo es nichts zu erben gibt und der viel zitierte Staat auch keine Wohltaten verteilt. Wo das Leben wirklich hart ist und die alten Frauen früher sterben, weil sie sich Gesundheit nicht kaufen und nicht leisten können. So wie Ingwer in dieser Geschichte. Womit die Zuflucht für Johannes und Margarethe erst einmal perdu ist und sie entweder weiterziehen oder zurückkehren müssen.

So betrachtet, ist das auch eine Geschichte vom Loslassen, die alle jungen Menschen erleben, die den Kokon des Elternhauses verlassen. Worum es Preuß indirekt wohl auch geht, denn er hat das Buch zusammen mit seiner Tochter Simone Weiland gemacht. Sie hat nämlich die Illustrationen angefertigt. Und da kann man drauf wetten, dass auch zwischen diesen beiden die Geschichte vom Weggehen der Kinder eine Rolle spielt. Denn natürlich steckt darin auch das ganze Bangen der Eltern: Schaffen es die Kinder? Und: Wie kommen sie eigentlich zurück? Werden sie jetzt zu Fremden?

Viele Eltern wollen das nicht wahrhaben. Die Eltern von Gretel und Hänsel (die sich am Ende lieber Gritt und Jo nennen) müssen es akzeptieren. Diese beiden Kinder haben ihr Leben selbst in die Hand genommen. Weshalb es auch noch einen kleinen Nachspann gibt, in dem Preuß die ganze Geschichte öffnet, weil das nun einmal jeder irgendwie erlebt: „Wem wachsen Flügel, wer fliegt sich frei?“

Auch so eine Ebene des alten Grimmschen Märchens, die fast immer übersehen wird, weil Hänsel und Gretel als niedliche süße Märchenkinder inszeniert werden. So eben, wie das biedere Feuilleton Kinder nur zu gern sehen will. Da muss man die „Kleinen“ nicht ernst nehmen, da kann man dann auch als Erwachsener ein Leben lang einen auf jugendlich machen und so tun, als müsste man sein Leben nicht wirklich selbst verantworten. Weshalb man dann haufenweise kindische alte Leute trifft, die sich wie quengelnde Kleinkinder benehmen, aber verdammt wenige echte Hexen. Also solche vom Format Ingwers.

Eine Geschichte, die eben nicht nur Kinder anregt, sondern auch den erwachsenen Vorlesern etwas gibt. Und wenn es die störende Frage im Hinterkopf ist: Hab ich den goldenen Käfig eigentlich jemals verlassen? Gab es solche kantigen Menschen wie diese Ingwer in meinem Leben? Oder konsumiere ich mein Leben nur so, wie es mir andere immer eingeredet haben? Nicht ganz unwichtige Fragen in einer Zeit, wo der Konsum gerade dabei ist, alle seine Kinder zu fressen. Mit Haut und Haar.

Gunter Preuß Neues von Gretel und Hänsel, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2021, 14,90 Euro.

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