Manchmal ist man – als ganz gewöhnlicher Museumsbesucher – doch sehr verblüfft, wie wenig in den Ausstellungen über die Herkunft der ausgestellten Objekte erzählt wird. Und wie wenig oft tatsächlich über diese Herkunft bekannt wird. Jahrzehntelang war das für deutsche Museen tatsächlich kein Thema, Hauptsache, das Ausstellungsobjekt machte was her. Aber seit einigen Jahren ist Provenienzforschung ein Megathema, auch im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.

Das lädt am Sonntag, 6. November, übrigens ein zu einem Thementag „Provenienz und Herkunft“. Da ist dann auch das soeben erschienene dicke Buch „Tiefenbohrung“ Thema. Darin haben die Mitarbeiter/-innen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in der Deutschen Nationalbibliothek in 33 Beiträgen dargelegt, wie sie versuchen, die Herkunft all der Bücher, Plakate, Drucke und Exlibris aus dem Bestand des Museums zu erforschen und Lücken zu schließen.

Nur nicht dran rühren

Und nicht ganz beiläufig wird auch thematisiert, wie sich deutsche Museumsdirektoren jahrzehntelang sperrten, das Thema überhaupt ernst zu nehmen. Etwas, was Stephanie Jacobs und Ramon Voges im Interview mit der französischen Kulturhistorikerin Bénédicte Savoy thematisieren.

Nur ja keine Aufregung, nur ja keine Emotion war jahrzehntelang das Diktum. Und man versteckte sich hinter juristischen Spiegelfechtereien, wähnte man sich doch mit vollem Recht im Besitz einzigartiger Schätze. Und damit die Öffentlichkeit diese seltsame Position akzeptierte, beschwor man geradezu das Bild leerer Museen. Ein Horror. Zumindest für Museumsdirektoren.

Natürlich kann man sich hinter Paragraphen verstecken. Dann sind koloniale Raubzüge genauso durch alte Gesetze legitimiert wie die Ausplünderung jüdischer Besitztümer und Erwerbungen auf Auktionen, obwohl man die Herkunft der ersteigerten Stücke nicht kennt.

Es steht ja nicht immer dran. Aber spätestens, seit in den 1990er Jahren die Suche nach einst jüdischen Besitztümern begann, die auf unrechtmäßigem Weg in öffentliche Sammlungen gelangten, wurde immer klarer, dass man sich hinter dieser Aufklärungsverweigerung nicht verstecken kann.

Altes Unrecht wird nicht dadurch legitim, dass das Museum selbst nicht direkt an Diebstahl und Plünderung beteiligt war. Seitdem gibt es immer wieder geförderte Forschungsprojekte, die Bestände auch der sächsischen Museen zu durchforsten und die Herkunft der Sammlungsstücke lückenlos aufzuklären und dabei auch die ursprünglichen Besitzer namhaft zu machen.

Viel zu wenige Gelder. Denn welcher Aufwand hinter dieser Spurensuche steckt, machen etliche der 33 Beiträge in diesem Buch deutlich.

Spuren in die dunkle Vergangenheit

Längst ist auch die Diskussion um Museumsschätze entbrannt, die einst bei kolonialen Raubzügen „mitgenommen“ wurden. Und Savoy spricht auch nicht grundlos die Beutezüge Napoleons an, der schon bei seinem Ägyptenfeldzug 1798 bis 1801 kostbare Funde aus dem Alten Ägypten für Frankreichs Schatzkammern beschlagnahmte.

Und es waren nicht nur Militärs, die einsackten, was sie meinten, dass es ihrer Nation zu Glanz verhelfen könnte. Es waren auch Kaufleute und Forscher, die mit dem Habitus des allmächtigen weißen Mannes loszogen, um die Schätze antiker Kulturen oder als „wild“ definierter Völker per Express Richtung Heimat zu schicken.

Sodass mit erheblicher Verspätung seit einigen Jahren auch die Diskussion darüber entflammte, was eigentlich als koloniales Raubgut in deutschen Museen betrachtet werden muss und zurückgegeben werden sollte.

Dergleichen vermutet man zwar im Deutschen Buch- und Schriftmuseum nicht. Aber es gibt sie trotzdem auch dort, die Sammlungsstücke, deren Spur in diverse deutsche Kolonien führt oder gar nach China, wo deutsche Truppen sich – Stichwort „Boxeraufstand“ – einst brandschatzend und plündernd betätigten.

Doch auch Schriftgut, das einst vertriebenen und enteigneten Juden gehörte, wird in diesen Beiträgen thematisiert. Wenn nach akribischer Recherche die ursprünglichen Besitzer namhaft gemacht werden können, können auch die Restitutionsprozesse in Gang gesetzt werden. Oft mit vertraglichen Lösungen, die einvernehmlich mit den Erben geschlossen werden können.

Der Weg der Bücher in die Sammlung

Aber ein Problem dieser Suche ist immer wieder die schlechte und lückenhafte Archivierung des Erwerbs. Oft sind es nur noch die Bücher mit Widmungen oder Verkaufsnachweisen, die eine Spur ahnen lassen zu jenen, denen sie einst rechtmäßig gehörten.

So taucht auch die „Bücherverwertungsstelle Wien“ (die auch Sören Flachowsky in seinem materialreichen Doppelband „Schwerter des Geistes“ thematisiert) wieder auf, bei der sich auch die Deutsche Bücherei ordentlich bediente, als dort die enteigneten Buchbestände vor allem jüdischer Vorbesitzer gehortet wurden. Eine Selbstbedienung für deutsche Institutionen, die ihre Bestandslücken auffüllen wollten.

Aber wer sich wie die Mitarbeiter/-innen des Buch- und Schriftmuseums überhaupt erst einmal mit dem Thema Provenienzforschung beschäftigt, merkt bald, dass auch für andere Teile der Sammlung oft unklar ist, auf welchem Weg die Sammlungsstücke eigentlich ins Haus gekommen sind.

Selbst wenn dieser Weg rechtmäßig war. Aber die Aufzeichnungen sind manchmal lückenhaft, oft wenig aussagekräftig. Und das hat auch für die Forschung Folgen. Denn wie ein wertvolles Sammlungsgut nach Leipzig kam, erzählt ja selbst eine Geschichte.

Was gleich im ersten Beitrag zur Klemm-Sammlung deutlich wird, die Sammlung eines Leipziger Schneidermeisters, dem das gut gestaltete Buch schon lange wichtig war, bevor es überhaupt Auszeichnungen für schönste Bücher gab.

Seine Sammlung – bzw. der kleine Rest, der die Bombenschäden des 2. Weltkrieges überstand – war einst der Grundstock des Museums, das 1884 gegründet wurde. Sammlungen erzählen eben nicht nur von Ankäufen, Schenkungen und anderen Zugewinnen. Sie erzählen auch von Verlusten. Mal durch Kriegsverluste, mal durch staatliche Zugriffe, die oft wertvolle Bestände kosten.

Thematisiert etwa an den alten Sammlungsbeständen der Stadtbibliothek Leipzig, die bis 1952 auch eine wissenschaftliche Sammlungsbibliothek war und über reiche Bestände aus einstigen Klosterbibliotheken verfügte. Aber diese Bestände musste sie abgeben. Ein kleiner Teil davon landete auch im Buch- und Schriftmuseum.

So wie auch die legendäre „Reichsbibliothek“ der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 in Leipzig landete – als historischer Gründungsmythos für die Deutsche Bücherei.

Verlust und Reparation

Kapitel um Kapitel macht deutlich, wie wichtig die lückenlose Erschließung der Herkunft der Sammlungsstücke ist. Erst dadurch bekommen die Sammlungsstücke tatsächlich eine Geschichte, kann ihr Weg in die Sammlung erzählt werden, werden Sammler und einstige Besitzer namhaft.

Die Bücher hören auf, geschichtslose Artefakte zu sein. Mit dieser Geschichtslosigkeit begnügten sich Sammler und Museen noch vor Jahrzehnten. Aber längst akzeptieren das auch Museumsbesucher nicht mehr. Denn letztlich ist es nicht auszuhalten, wenn man durch reich gefüllte Museen läuft, aber bei jedem Prunkstück der Zweifel mitschwingt, ob das Kunstwerk tatsächlich dem Haus gehört oder dahinter vielleicht doch eine Geschichte von Raub und Enteignung steckt.

Dass auch das Deutsche Buch- und Schriftmuseum da noch jede Menge Arbeit vor sich hat, bis letztlich jedes Stück eine möglichst komplette Provenienzgeschichte bekommt, wird klar, wenn man weiß, dass heute rund 1 Million Sammlungsstücke dem Museum gehören.

Wieder, kann man sagen. Denn als am 3. Dezember 1943 das Grafische Viertel im Bombenhagel unterging, traf das auch das gerade erst am Gerichtsweg fertiggestellte Buchmuseum. Von einigen der Sammlungsbestände, die dabei vernichtet wurden, ist in diesem Sammelband die Rede.

Die wertvollsten Teile der Sammlung waren zwar ins Schloss Rauenstein bei Pocklau-Lengefeld ausgelagert worden. Aber die sowjetischen Kommissare fanden schnell heraus, wohin die wertvollen Museumsbestände Sachsens ausgelagert wurden.

Die wertvollsten Stücke requirierten sie und verfrachteten sie als Wiedergutmachung nach Moskau. Das betrifft auch einige der wertvollsten Stücke aus dem Buchmuseum, die heute in der Russischen Staatsbibliothek bewundert werden können. Mittlerweile sind sie auch umfassend dokumentiert und digitalisiert worden, sodass auch über diesen ehemaligen Teil der Sammlung geschrieben werden kann.

Mitten im Forschungsprozess

Aber die Beiträge beschäftigen sich natürlich auch mit all den kuriosen Sammlungsbeständen, die im Lauf der Zeit ins Haus kamen – Exlibris, Verlegerporträts, historische Druckmaschinen, Künstlerdrucke, Underground-Comics und die Buchtüten-Sammlung des Verlegers Mark Lehmstedt.

Mittlerweile beschäftigen sich die Fachleute auch schon mit digitalen Speichermedien und ihrer Rettung für künftige Generationen. Immerhin steht da die Frage, wie sich unser aller Leseverhalten ändert, wenn es immer öfter nur noch digital stattfindet und das Buch, das sonst – mit Kratzern und Knicken – oft Jahrhunderte überdauern kann, durch Nullen und Einsen ersetzt wird.

Wobei es wohl derzeit so aussieht, als würde sich das Ganze einpegeln und das gedruckte Buch auch weiterhin eine Rolle spielen im Leben, Lesen und Lernen der Menschen. Und natürlich unter den kritischen Augen der Buchforscher, die den betagten Sammlungsstücken ihre Geschichte wiederzugeben versuchen und den Weg des Objekts in die Museumsbestände möglichst eindeutig nachzuzeichnen.

Was wahrscheinlich nicht bei allen Sammlungsstücken gelingen wird, weil alte Verzeichnisse und Kataloge verloren gegangen sind, Eingänge nur lückenhaft erfasst wurden oder selbst schon beim Erwerb unklar war, aus welchem ursprünglichen Bestand die Bücher stammten.

Da helfen dann manchmal handschriftliche Einträge, Stempel und Exlibris, mit denen Bibliotheken und Sammler einst ihre Bücher bereicherten.

Aber auch hier braucht es Kenntnisse und akribische Spurensuche. Die vielleicht etwas leichter wird, wenn immer mehr große Sammlungsbestände digital vernetzt sind. Was hier – reich bebildert mit Fotos aus dem Sammlungsbestand – vorliegt, ist ein Buch, das im Grunde mitten aus dem Prozess erzählt, der noch längst nicht abgeschlossen ist.

Der aber zeigt, wie aufregend die Suche nach der Herkunftsgeschichte all der schönen Bücher sein kann, die in den wechselnden Ausstellungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums gezeigt werden.

Darunter natürlich auch Bestände, die auf direktem Weg ins Haus kamen – etwa die vielen Bände aus den Wettbewerben um die schönsten Bücher.

Stefanie Jacobs (Hrsg.) „Tiefenbohrung“, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt 2022, 24 Euro

Termintipp: Am Sonntag, 6. November, lädt das Deutsche Buch- und Schriftmuseum zwischen 11 und 15 Uhr ein zum Thementag „Provenienz und Herkunft“. Dabei kann man einen Blick hinter die Kulissen und in die Arbeit der Provenienzforschung werfen.

Auf dem Programm stehen unter anderem Führungen zu verborgenen Orten, Rundgänge in den Magazinen, „Provenienz-Talks“ mit den Sammlungsleiter/-innen und die Begegnung mit zwei Stipendiatinnen aus der Ukraine, die ihre Projekte zum Thema „Heimat und Herkunft“ erstmals der Öffentlichkeit vorstellen. Premiere hat zudem die filmische Miniserie zu „Herkunftsgeschichten“. In die virtuelle Ausstellung zum Thema Provenienz kann man bereits jetzt reinschauen.

Das komplette Programm zu Thementag findet man hier.

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