Der Begriff "Nachhaltigkeit" wirkt in heutigen Diskussionen oft wie verbrannt, abgenutzt, wertlos. Das liegt nicht daran, dass er seinen Sinn oder seine Bedeutung verloren hätte, sondern daran, dass er massenweise missbraucht wird - auch von vielen Unternehmen, die alles andere sind als nachhaltig. Dabei hat die Zeit, über den Begriff ernsthaft nachzudenken und zu forschen, gerade erst begonnen. Auch an der Uni Leipzig.

Dort gibt es zwar schon einige Lehrstühle, die sich mehr oder weniger der Nachhaltigkeit widmen – etwa dem nachhaltigen Umgang mit Natur- und Energieressourcen oder mit nachhaltigem Haushalten in Kommunen oder der nachhaltigen Sicherung von Infrastrukturen. Eine Dimension wird dabei aber zumeist ausgeblendet, weil es keine materielle oder technische ist: das ist der Mensch. Und damit steht natürlich die Frage: Wie kann eine Gesellschaft soziale Nachhaltigkeit schaffen und gewährleisten?

Die Uni Leipzig hat das Thema jetzt ins Sommersemester 2015 aufgenommen und Prof. Dr. Michael Opielka als Gastprofessor für Soziale Nachhaltigkeit an die Universität Leipzig berufen. Der 58-jährige Soziologe und Erziehungswissenschaftler ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin und lehrt seit 2000 als Professor für Sozialpolitik an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

Es wird also vorerst eher ein Gastspiel. Und es wird auch nicht die volle Bandbreite des Themas Soziale Nachhaltigkeit besetzt.

Mit der Ernennung Opielkas will die Universität Leipzig ihr Profil in der Nachhaltigkeitsforschung stärken, die zunehmend nicht nur naturwissenschaftlich und technisch, sondern auch sozialwissenschaftlich fundiert werden muss. Die Gastprofessur ist am Institut für Infrastruktur und Ressourcenmanagement (IIRM) der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät angesiedelt.

Opielka betreut dort gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Bruckner, dem geschäftsführenden Direktor des IIRM, erst einmal die Vortragsreihe “Leipzig Research Seminar on Energy Management and Sustainability”, die in Kooperation mit dem Fraunhofer MOEZ veranstaltet wird. Daneben hält er im Sommersemester 2015 innerhalb des Masterstudiengangs “Public Service Management” eine Vorlesung zur Infrastrukturökonomie.

Am 30. April wird er im Rahmen des Leipzig Research Seminars einen öffentlichen Vortrag zum Thema “Social Sustainability and Political Support for Climate Protection” halten, teilt die Uni mit. Irgendwie verirrt man sich in den höheren Sphären der Alma Mater auch dann ins Englische, wenn gar kein Englisch dran ist. Der Vortrag von Opielka wird vom MOEZ ganz schlicht und deutsch angekündigt unter dem Titel “Soziale Nachhaltigkeit und politische Unterstützung im Klimaschutz”.

Was natürlich auch zeigt, wie eng fokussiert Opielkas Start in Leipzig ist. Die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um Klimaschutz und Energiewende haben nun zumindest bei den Forschern die Erkenntnis ausgelöst, dass ein struktureller technischer Wandel immer auch gesellschaftliche Akzeptanz braucht. Die ganze Vortragsreihe ist so fokussiert. Das begann mit dem Einführungsvortrag am 9. April, wo es um “Fragen und Perspektiven des Klimaschutzes” ging. Das geht so am 16. April weiter, wenn Dr. Ariel Hernandez über “Policy-Making und Umweltschutz: Simulation spanischer Sparmaßnahmen” referiert, was zumindest schon mal andeutet, um welche Dimension es geht – denn wenn knallharte neoliberale Sparprogramme die Politik eines Staates bestimmen, geraten gerade langfristig gedachte Umweltschutz-Programme schnell unter Beschuss. Dann steht kurzfristiges Denken gegen langfristiges Handeln, dann geht es auch meist um schnelles Geld versus generationenübergreifenden Wandel. Und es steht Profit gegen gesellschaftliche Balance.

Michael Opielka will seine Gastprofessur in Leipzig dazu nutzen, um die Grundlagen seines Berufungsgebietes “Soziale Nachhaltigkeit” selbst konzeptionell weiter auszuarbeiten.

“Es handelt sich um die erste Denomination in Deutschland, die Universität Leipzig betritt hier Neuland”, sagt er. Denomination bedeutet nichts anderes als Schwerpunktsetzung.  So gesehen könnte die Uni Leipzig jetzt wirklich Neuland betreten, wenn Soziale Nachhaltigkeit zu einem echten Forschungsgebiet wird.

Das Fach Soziale Nachhaltigkeit soll zunächst die soziale, gesellschaftliche Dimension des sogenannten Nachhaltigkeitsdreiecks behandeln. Die beiden anderen Eckpunkte sind zumindest schon akzeptiert. Der erste ist natürlich die ökologische Nachhaltigkeit – eine Gesellschaft, die ihre ökologischen Grundlagen zerstört, ist nicht nachhaltig – heißt auch: nicht überlebensfähig.

Der zweite Eckpunkt ist die ökonomische Nachhaltigkeit: Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, ihre ökonomischen Grundlagen so zu gestalten, dass auch alle künftige Generationen darauf eine auskömmliche Existenz haben, ist nicht zukunftsfähig. Sie wird entweder in einem gnadenlosen Kampf um schrumpfende Ressourcen zu Grunde gehen oder irgendwann einfach den Infarkt der Infrastrukturen erleben. Vielleicht wird’s auch ein Crash der Finanzsysteme sein, der allen das Licht ausdreht. Das ist egal: Zumindest behandeln selbst sonst sehr konservative Zeitungen wie die “FAZ” das Thema mittlerweile mit erstaunlicher Neugier. So langsam spricht es sich herum, dass eine Gesellschaft, die derart vom Wachstum des Verbrauchs besessen ist wie unsere, nicht nur die Grenzen der Existenz sprengt, sondern Probleme produziert, die auch mit politischen Mitteln nicht mehr zu lösen sind.

In der Andeutung der Uni zu Opielkas Lehrstuhl: Hier geht es in der bisherigen Forschung vor allem um Verteilungs- und Akzeptanzprobleme, die mit einer Transformation moderner Gesellschaften in Richtung Nachhaltigkeit verbunden sind.

Was ein bisschen geschönt ist. Denn die “Verteilungs- und Akzeptanzprobleme” gibt es schon jetzt – und sie mehren sich und zwar erst recht, wenn die menschliche Zivilisation nicht sehr bald den Weg hin zu wirklich nachhaltigen Gesellschaftsformen nimmt. Und damit sind ganz bestimmt nicht die alten sozialistischen Planwirtschaften gemeint, auch wenn das einige Kombattanten immer wieder behaupten. Aber als Gespenst, das nicht nur durch Europa läuft, sind sie natürlich am Rand jeder Debatte über Zukunftsvisionen mit dabei.

Soziale Nachhaltigkeit behandelt darüber hinaus auch Nachhaltigkeitsfragen innerhalb der Gesellschaft selbst, die Ökologie des Sozialen, betont die Universität dabei einen wichtigen Aspekt der Forschungen, die jetzt vielleicht mit Opielka Struktur annehmen.

Viele dieser Themen kennen L-IZ-Leser nun schon aus ganzen Serien von Beiträgen: Dazu gehören beispielsweise Infrastrukturinvestitionen, das Generationenverhältnis und Soziale Integration. Stichworte wären: Generationengerechtigkeit, Familienfreundlichkeit, barrierefreie Zugänge zu allen gesellschaftlichen Dienstleistungen, Einführung kompletter Stoffkreisläufe, Sicherung der natürlichen Ressourcen, Energieautarkie, durchlässige Bildungssysteme und so weiter.

Opielka will in seinen Forschungen beide Problemstellungen der Sozialen Nachhaltigkeit verbinden, die ökologische und die soziale. Gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Lenk, Prorektor für Entwicklung und Transfer der Universität Leipzig, bereitet er einen Forschungs- und Entwicklungsverbund für einen “Zukunftsplan Mitte Deutschland” vor. Ein Thema, das in seiner Dimension die Größenordnung des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) erreichen könnte (eigentlich sogar müsste), ein Nachhaltigkeits-Projekt, das ebenfalls in den mitteldeutschen Universitäten angesiedelt ist.

Der “Zukunftsplan Mitte Deutschland” soll nun die an der Universität Leipzig international renommierte Forschung zu Infrastrukturen und Gemeinwirtschaft mit neuen Methoden der Zukunftsforschung verknüpfen, die Opielka am Berliner IZT weiterentwickelt hat.

Michael Opielka möchte während seines bis September 2015 vorgesehenen Forschungsaufenthalts an der Universität Leipzig sowohl den wissenschaftlichen Nachwuchs als auch erfahrene Kollegen für das neue Fachgebiet Soziale Nachhaltigkeit begeistern. “Eine lebenswerte Zukunftsgestaltung ohne soziale Nachhaltigkeit ist nicht vorstellbar, und dennoch wissen wir viel zu wenig über ihre Voraussetzungen. Darüber zu forschen und in wissenschaftlichen Austausch zu treten, ist eine spannende Herausforderung”, erklärt er.

Und die Uni Leipzig wäre gut beraten, den Forschungsbereich ab dem Wintersemester 2015/2016 zu verstetigen. Das Thema brennt geradezu. Und das im wörtlichen Sinn, denn wenn die europäischen Gesellschaften nicht den Weg zu einer fundierten Nachhaltigkeit auch in der sozialen Frage finden, dann sind die Konflikte in Griechenland oder Frankreich nur das Vorspiel zu einer Tragödie, die nur noch irrationale Formen der “Konfliktlösung” kennen wird. Und die Debatte um den Klimaschutz wird dabei eher verblassen.

Die Vortragsreihe im Forschungsseminar über Energiemanagement und Nachhaltigkeit.

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