Nach den ersten Meldungen von Anfang März erhielten rund 12.800 der 28.569 Mädchen und Jungen in den vierten Klassen des Freistaats eine Empfehlung für das Gymnasium. 10.768 von ihnen hätten sich bisher an einer entsprechenden Einrichtung angemeldet. Aber so richtig können diese Vorabzahlen nicht gestimmt haben. Petra Zais, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Landtag, hat lieber alles genau abgefragt.

Natürlich verschieben sich solche Zahlen immer noch, gerade wenn es um die Anmeldung in der neuen Schule geht.

Aber die Auskunft, die Petra Zais jetzt mit Datum 22. März bekam, listet tatsächlich 28.220 Kinder der vierten Klasse auf, von denen sogar 13.624 eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium bekamen, also deutlich mehr als bislang gemeldet. Und zwar trotz neuer Regelung für die Bildungsempfehlung. Die Ansprüche an die Noten sind zwar gleich geblieben – dafür können die Eltern ein Wörtchen mehr mitreden. Was vor allem dazu führt, dass Kinder, die keine Bildungsempfehlung für das Gymnasium bekommen haben, noch einen Test schreiben konnten. 841 Kinder haben auf diese Weise in diesem Jahr den Sprung aufs Gymnasium geschafft.

Wobei diese Neuerung im sächsischen Schulgesetz tatsächlich nur ein Nebenschauplatz ist. Die eigentlichen Probleme des sächsischen Schulsystems wurden nicht gelöst, auch wenn es die SPD als Juniorpartner noch einmal versucht hat. Aber mit grimmiger Miene schmetterte Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) das Ansinnen eines längeren gemeinsamen Lernens ab. Das stünde nicht im Koalitionsvertrag, also gäbe es das nicht.

Was Sachsen behält, ist ein Schulsystem, das Kinder aussortiert und mehrfach benachteiligt, wenn sie am falschen Ort wohnen und in der falschen, weil „bildungsfernen“ Familie aufgewachsen sind. Wobei das Wörtchen „bildungsfern“ in die Irre führt, denn von diesem Aussiebemechanismus betroffen sind auch und gerade Ausländerkinder.

Die Zahlen selbst sind schon ernüchternd genug

Bekamen sachsenweit 48,3 Prozent der Viertklässler eine Empfehlung fürs Gymnasium, so lag der Wert in den meisten Landkreisen deutlich darunter – meist um die 40 Prozent. Im Landkreis Nordsachsen zum Beispiel gab es für 43,3 Prozent der Vierklässler eine Empfehlung fürs Gymnasium. Der Landkreis Leipzig war eher eine Ausnahme mit 50,3 Prozent.

Deutlich höher lagen die Empfehlungsquoten fürs Gymnasium vor allem wieder in den Großstädten Leipzig und Dresden. Aber während in Leipzig 52,3 Prozent der Kinder eine Empfehlung fürs Gymnasium bekamen, waren es in Dresden 59,9 Prozent.

Allein diese Zahlen zeigen schon, dass im sächsischen Bildungssystem Vieles nicht stimmt, dass Zufall und Geburt bestimmen, ob ein Kind höhere Bildungschancen bekommt.

Noch deutlicher wird das Bild, wenn man sich die Verteilung in den Leipziger Grundschulen anschaut. Es ist – was keine Überraschung ist – die alternativen Schulen in Ortsteilen, wo die Eltern mehr verdienen und höherqualifizierte Jobs haben, haben Empfehlungsquoten weit über dem Stadtdurchschnitt.

Es fällt regelrecht auf. Das beginnt mit der Schule 5, der Containerschule am Waldstraßenviertel, wo 84,7 Prozent der Kinder eine Empfehlung fürs Gymnasium bekamen. Ganz ähnlich waren die Verhältnisse in der Schule am Auwald (Schleußig) mit 82,3 Prozent, der 31. Schule in der Franzosenallee in Probstheida (80 Prozent) oder der Lessingschule (ebenfalls Waldstraßenviertel, 79,7 Prozent). Auf ähnliche Werte kam auch die Erich-Kästner-Schule in Gohlis (78,8 Prozent) oder die Schule am Floßplatz (Zentrum Süd, 75,7 Prozent).

Deutlich werden die Widersprüche, wenn man die Grundschulen mit der niedrigsten Zahl von Empfehlungen fürs Gymnasium verortet. Schlusslicht ist da die 74. Schule in der Friedrich-Dittes-Straße in Anger-Crottendorf mit 17,4 Prozent. Die 33. Schule in Eutritzsch kam auf 23,5 Prozent und die Clara-Wieck-Schule in Schönefeld auf 24,7 Prozent. Die Wilhelm-Wander-Schule in Neustadt-Neuschönefeld kam auf 22,2 Prozent.

Wobei der Blick ins Detail auch zeigt, dass es deutliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt. Bekamen 55,1 Prozent der Mädchen eine Empfehlung für das Gymnasium, so waren es bei den Jungen nur 49 Prozent.

Wobei es durchaus auch Grundschulen gab, wo deutlich mehr Jungen eine Bildungsempfehlung bekamen als Mädchen – wie an der Erich-Zeigner-Grundschule in Plagwitz. Aber es gab auch Schulen, wo doppelt so viele Mädchen eine Gymnasialempfehlungen bekamen als Jungen – wie an der Carl-Linne-Schule in Eutritzsch und der Franz-Mehring-Schule in Stötteritz.

Ein Lotteriespiel

Die Zahlen zeigen vor allem Eines. Dass Schulbesuche in Leipzig und Sachsen ein regelrechtes Lotteriespiel sind. Wer im falschen Ortsteil wohnt, hat Pech gehabt. Dass es so gravierende Unterschiede beim Erfolg von Jungen und Mädchen gibt, hat sichtlich auch nichts mit dem Können der Kinder zu tun, sondern damit, wie bewusst die Lehrerinnen und Lehrer selbst mit der Geschlechterspezifik umgehen.

Aber alle Zahlen zeigen auch, dass Sachsen nicht mal in Ansätzen versucht, ein wirklich gerechtes Bildungssystem zu entwickeln, das die Stärken der erfolgreichen Schulen auch in allen anderen Schulen implementiert. Es ist nicht logisch, dass die Kinder im etwas reicheren Ortsteil bis zu vier Mal klüger sein sollten als die im sozial durchwachsenen Ortsteil.

Die Zahlen zeigen nur, wie sich die Handicaps der Kinder, die sie aus einem in der Regel nicht reichen Elternhaus mitbringen, schon in den ersten vier Schuljahren so verstärken, dass sie schon in Klasse 4 nicht einmal mehr halb so viele Karrierechancen haben wie der Durchschnitt aller Kinder, gegenüber den vom Glück begünstigten Kindern ist der Nachteil noch viel größer.

Wir müssen in Deutschland nicht über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich diskutieren, wenn eine Landesregierung ein derart ignorantes System als „Erfolg“ verkauft. Es ist kein Erfolg. Im Gegenteil: Es ist ein Bildungssystem, das von Reichen für Reiche gemacht ist und wo jede Forderung, daran wirklich einmal etwas zu ändern, als Zumutung behandelt wird.

Hier wird sichtbar, wie die Etablierten dafür sorgen, dass ihnen aus dem abgehängten Milieu ja keine Konkurrenz erwächst und die Hälfte der Kinder aus den ärmeren Ortsteilen gar keine Chance bekommen, ihre Talente zu entfalten.

Und der Blick nach Dresden zeigt erst recht, wie sehr das Elite-Denken in Sachsen herrscht. Dort erreichen 59,9 Prozent der Kinder eine Gymnasialempfehlung. Was im Grunde heißt, dass eigentlich rund 60 Prozent der sächsischen Kinder das Zeug zum Gymnasium haben. Was nicht bedeutet, dass sie alle studieren müssen. Aber das ist ein anders Thema.

Und vielen Kindern nützt die Bildungsempfehlung gar nichts, weil sie entweder im falschen Landesteil wohnen und der Weg zum Gymnasium zu weit oder zu umständlich ist – oder die Eltern sich das längere Lernen des Kindes gar nicht leisten können. Auch das gibt es in Sachsen. Ergebnis: Von den 13.624 Kindern, die eine Gymnasialempfehlung bekommen haben, haben sich bislang erst 11.609 auf einem Gymnasium angemeldet, während 14.596 Empfehlungen für die Oberschule schon 15.897 Anmeldungen an Oberschulen gegenüber stehen.

Das ganze Geunke, die Eltern würden die Möglichkeiten der Neuregelung der Bildungsempfehlungen schamlos ausnutzen, ging völlig an der Realität vorbei. Viele Eltern wollen gar nicht, dass ihr Kind das Abitur macht, selbst wenn es die Vorraussetzungen dafür hat. Und meistens aus einem Grund: Sie können sich den höheren Bildungsweg der Kinder nicht (mehr) leisten.

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