Dass es im deutschen Bildungssystem zahlreiche Missstände gibt, bestreiten mittlerweile nicht mal mehr jene, die dafür mitverantwortlich sind. In Leipzig hat sich vor einigen Monaten die Gruppe „Lernfabriken… meutern!“ gegründet. Diese möchte auf die bestehenden Missstände hinweisen und Alternativen aufzeigen. Im zweiten Teil des Interviews spricht Albert Haas über die konkrete Situation in Sachsen, selbstgemachten Lehrermangel, Schulabbrecher, kommende Infoveranstaltungen der Gruppe und das Ziel der Demonstration am 21. Juni 2017.

Welche Probleme seht ihr konkret in Leipzig beziehungsweise Sachsen?

In Sachsen ist seit Jahren bekannt, dass ein Mangel an Lehrkräften droht. Jetzt wird dieses Problem akut. Unserer Meinung nach wurde diese Entwicklung nicht „verschlafen“, wie manchmal versucht wird zu suggerieren. Wir denken, dass es sich um das Ergebnis einer bewusst kalkulierten Sparpolitik handelt, wie es für konservative Regierungen typisch ist. Nach nun 27 Jahren CDU-Regentschaft ist die Situation katastrophal. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs.

Was noch?

Momentan werden sogenannte Quereinsteiger in Schulen eingestellt. Diese haben keinerlei pädagogische Qualifikationen. Des Weiteren hält Sachsen am dreigliedrigen Schulsystem und an dem Konzept der Sonderschulen fest. Das ist ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Außerdem führt es dazu, dass zehn Prozent der Schüler*innen in Sachsen gar keinen Schulabschluss erhalten und weitere zehn Prozent einen Hauptschulabschluss bekommen.

Anders ausgedrückt: Ein Fünftel der Bevölkerung in Sachsen wird zukünftig keine oder kaum eine Chance auf einen Beruf haben.

Hinzu kommt, dass Dozierende an den Universitäten größtenteils befristet eingestellt werden und keine Aussicht auf ein gesichertes Einkommen haben. Die Universitäten müssen ihre Forschung über sogenannte Drittmittel finanzieren, immatrikulieren zu viele Studierende oder versuchen ein Teil der Exzellenzinitiative zu werden, da die Finanzierung durch das Bundesland Sachsen schlichtweg nicht ausreicht.

Für diese Woche habt ihr zahlreiche Veranstaltungen organisiert, darunter Podiumsdiskussionen, Vorträge und Workshops. Ganz grob zusammengefasst: Worum geht es dabei inhaltlich?

Grob zusammengefasst geht es um die Bedingungen, unter denen Bildung stattfindet, und die Kriterien, nach welchen sich Wissenschaftlichkeit konstituiert. Außerdem werden die Ursachen für Proteste und deren Gemeinsamkeiten im globalen Vergleich reflektiert. Auf dieser Grundlage sollen Utopien, Gegenentwürfe und Handlungsoptionen entwickelt werden. Alle Veranstaltungen lassen sich im Internet einsehen.

Zusätzlich werden wir am Donnerstag an der Sachsenbrücke öffentlich unsere Transparente für die Demonstration bemalen und am Freitag eine Party veranstalten. Beides richtet sich vor allem an Schüler*innen und soll die Möglichkeit bieten, sich einzubringen und mit uns ins Gespräch zu kommen.

Am Mittwoch, den 21. Juni, soll ab 11 Uhr schließlich eine Demonstration auf dem Augustusplatz stattfinden. Befürchtet ihr nicht, dass potentielle Teilnehmer zu einer solchen Uhrzeit in den „Lernfabriken“ festhängen?

Darauf lassen wir es ankommen – unsere Demonstration am 21. Juni wird nämlich ein Bildungsstreik sein. Da es die letzte Schulwoche ist, gehen wir davon aus, dass ohnehin keine wichtigen Prüfungen mehr geschrieben werden. Außerdem erhoffen wir uns die Solidarität von Lehrer*innen und Eltern. Erstere können gemeinsam mit ihren Schüler*innen auf die Demonstration gehen oder ein Auge zudrücken. Letztere können sogar eine vorgedruckte Entschuldigung unterschreiben, welche wir veröffentlichen werden.

An der Universität versuchen wir die bestmöglichen Konditionen zu schaffen. Momentan stellen wir eine Anfrage an die Rektorin Beate Schücking. Wir hoffen, dass sie alle an der Universität Beschäftigten dazu auffordert, an diesem Tag keine prüfungsrelevanten Inhalte zu lehren. Außerdem laden wir natürlich alle Interessierten herzlich ein, ab 11 Uhr an unserer Demo teilzunehmen oder zumindest ab 14 Uhr die Abschlusskundgebung auf dem Augustusplatz zu besuchen.

Was wollt ihr mit dieser Demo erreichen?

Strukturell erhoffen wir uns von dem Protest eine Vernetzung aller Statusgruppen im Bildungssystem sowie eine Verbindung beziehungsweise Entfachung von Bildungskämpfen. Das soll natürlich über den 21. Juni hinausreichen. Im Idealfall gelingt es uns damit so viel gesellschaftlichen Druck zu erzeugen, dass sich die Landesregierung mit uns auseinandersetzen muss.

Zumal mit der SPD eine Partei an der Regierung beteiligt ist, die sich als Arbeitnehmerpartei versteht und sich mit Hinblick auf Bildung durchaus Inhalte in ihr Parteiprogramm geschrieben hat, die eine Verbesserung der von uns angeprangerten Missstände zum Ziel hat. Selbstverständlich ist es für einen Koalitionspartner mit circa zwölf Prozent Stimmenanteil schwierig, sich gegen die 40-Prozent-Partei CDU durchzusetzen. Regierungsarbeit ist aber nur dann sinnvoll, wenn man die eigenen Inhalte verwirklichen kann. Mit viel Glück könnte unser Protest vielleicht dazu beitragen, dass die SPD-Fraktion standhaft bleibt und den Mut findet, zumindest partielle Verbesserungen durchzusetzen.

Und inhaltlich?

Gehen wir weit darüber hinaus. Wir wollen einen Diskurs darüber anregen, welche Aufgabe ein Bildungssystem in einem modernen Verfassungsstaat hat und welchen Anteil sie daran trägt, eine Zukunft in Frieden, gesellschaftlicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und ökologischem Gleichgewicht zu verwirklichen.

Zum ersten Teil des Interviews mit Albert Haas von der Gruppe „Lernfabriken… meutern!“ auf L-IZ.de

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