LeserclubVielleicht hat Herr L. doch den falschen Beruf ergriffen. Denkt er so. Das Herz pocht ihm bis in den Hals. Der Schweiß rinnt über die Stirn. Und trotzdem friert er in seinem zu kurzen Mäntelchen, mit dem er sich so gar nicht an die frischen Aprilwinde angepasst hat. An die Gefühlsausbrüche wütender Taxifahrer schon gar nicht.

Obwohl er das hätte wissen müssen, dass Taxifahrer in L. nichts mit Taxifahrern anderswo zu tun haben. Auch wenn sie stolz sind darauf, bei jeder Farbe Rot noch über jede Kreuzung zu kommen. Wenn sie wollen. Wenn sie nicht wollen, landet man in jeder Baustelle und sieht nicht nur auf dem Taxameter die Zeit verrinnen.

Und ärgert sich natürlich – anfangs in vorsichtigen Portionen – dass man nicht doch auf die nächste oder übernächste Tram gewartet hat. Dann wäre man … Aber was denkt er nur? Es gibt kein wäre, wenn man pünktlich Mitteleuropäischer Sommerzeit eine brisante Verabredung an Bahnsteig 7 hat, direkt unter der Normaluhr.

Drei Minuten Zeit hätte er zum Umsteigen, vielleicht 13, wenn der beschleunigte Zug aus W. in L.-Hauptbahnhof einrolle, wenn er mit seinem Rollkoffer voller brenzliger Papiere noch den beschleunigten Zug nach N. erreichen wolle, der ihn dann auf die Route gen Süden brächte. Damit sei er zwar noch längst nicht aus dem Zugriffsbereich der allmächtigen Behörde, hatte das heisere Männlein am Telefon gesagt. Und sich fast verschluckt dabei.

Aber Herr L. wisse ja. Er müsse ja nur die heutigen Zeitungsschlagzeilen lesen. Oder die gestrigen. Oder die zum Herrn S. , der im fernen Sibirien festsäße und vielleicht … „Aber nur vielleicht, Sie wissen ja, Herr L. !” … Hoffnung haben dürfte auf ein leidlich sicheres Verfahren in W.

„Womit Sie nicht sagen wollen …“

„Nein. Womit ich nicht sagen will. Aber Sie haben noch unser letztes Gespräch in Erinnerung? In dem ich ihnen das Stichwort Panama gab?“

„Das habe ich sehr wohl.“

„Und dass ein gewisser Herr Kabeljau – nennen wir ihn einfach so –“

„Kabeljau ist gut.“

„Und Sie wollen die Ausdrucke tatsächlich? Sie haben keine Angst, dass Sie sich damit die Finger verbrennen?“

„Ich weiß schon, wo ich sie deponiere …“

„HERRGOTT, Herr L!“

Beinah, das geht L. noch jetzt durch Mark und Bein, obwohl er doch aus anderen Gründen zittern müsste wie Espenlaub. Beinah hätte der heisere Herr ohne Namen, Herr Nelke, wie er ihn so bei sich nennt, aufgelegt in dem Moment. So dass er sich beeilt hatte zu versichern, dass er pünktlich MEZ unter der Normaluhr auf Bahnsteig 7 stehen würde.

„Versprochen.“

Und er hatte das tiefe Einatmen gehört auf der anderen Seite der Verbindung. Und dann ein heiseres „Ich treffe sie dort.“ Und dann das kosmische Rauschen der unterbrochenen Verbindung. Vielleicht ein wenig mit Widerhall, als hätte der Kosmos ein riesiges Ohr und erstaunlich großes Interesse an dem, was Herr L. von seinem Redaktionstelefon aus vielleicht noch sagen könnte. Aber das Klicken blieb aus, das er von früher her noch kannte. Manchmal haben die Zeiten doch erstaunliche Ähnlichkeiten, schnaufte er in sich hinein. Noch immer dampfend wie ein Wasserkessel, nachdem er fünf Minuten lang mit dem Taxifahrer darüber diskutiert hatte, dass nicht der Fahrgast das Wechselgeld mitbringen müsste.

„Kann ich doch nichts für, werter Herr, wenn Sie’s nicht passend haben. Ich hab nurn Zwanziger:“

Und da Herr L. auch nur noch einen Zwanziger hatte, der eigentlich auch noch für ein spätes Frühstück hatte reichen sollen, hatte er jetzt keinen Zwanziger mehr, war nicht nur 5 Minuten zu spät dran, sondern 10, spürte ein Stechen. Nicht nur in der Brust, sondern auch in den Nieren und vor allem im Magen.

Und sah natürlich den beschleunigten Zug nach N. nur noch klitzeklein am Horizont, während die Anzeige schon die nächste Weltstadt ausspuckte, wie üblich mit dem Versprechen, das dieser Zug nur 25 Minuten Verspätung haben würde wegen diverser Probleme im Betriebsablauf.

Warum aber hatte der heisere Mann ausgerechnet den pünktlichen Zug genommen?

Und warum hatte er ihm seine Telefonnummer nicht verraten, verflixt, mussten die denn alle so geheimnisvoll tun?

Die einzige, die ganz ohne Gefühlregung gewartet hatte, war die Normalzeituhr. Natürlich wie so oft mit einem dieser lausigen Aufkleber verunziert, mit denen die späte Jugend von heute aller Welt ihre Meinung kundtun muss. „NICHT ÄRGERN, Alter! Flaschenpost in P. 3“

Als wenn er das verdient hätte – verflixt und ach – gerade heute. Wie er sich fest vorgenommen hatte.

Gerade jetzt hätte er dringend einen dicken heißen Topf Kaffee gebraucht. Aber der Blick in die Börse lässt alle Träume schwinden. Das war nicht mal mehr ein Sperling auf die Hand. Und jetzt bekam Herr L. erst so richtig Hunger.

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