LeserclubSternenhimmel über L. Eigentlich unmöglich. Wenn in L. nachts die Lichter glühen, sieht niemand den Sternenhimmel. Aber vorstellen kann man sich das, wie Oleg Blochin und Herr L. da unter Sternen sitzen, spät nach getaner Arbeit. „Und? Chast du nu deinen bösen Artikel geschrieben? Hat sich gelohnt der Stress?“ – „Ja“, sagt Herr L. Und: „Nein.“

Denn was er heute schreiben konnte, konnte – wie so oft – wieder nur so ein Tierchen sein mit ein paar Stacheln, aber eher ohne große Reißzähne. Das möchte man ja gern. Und eine Menge Leute glauben ja, unermüdliche Jäger wie der Herr L. würden nur mal irgendwo anrufen können, und alle Tiere zittern vor ihnen, werden blass vor Angst und geben alles zu. Aber die großen Tiere heißen ja nicht so, weil sie gemütliche Grasfresser sind, sondern weil sie groß sind und ihnen alles gehört. Nicht nur das Geld. Auch die Gesetze, die Beziehungen, die Macht. Wenn L.s Kontakte, die er anrufen darf, sagen, dass sie nichts sagen dürfen, dann weiß L., dass er wieder nur die Hälfte erzählen kann.

So etwas wie heute.

Der Fall „Marinade-Heinrich“ und der „Fonds Edeltraud“

Wieder mal sind ein paar Akten verschwunden

Nichts Genaues weiß man nicht. Und vielleicht wird man es auch nie herauskriegen. Jedenfalls in L. nicht, obwohl hier möglicherweise alles angefangen hat und auch in ganz alten, ganz unauffälligen Aktenordnern zu finden wäre. Wenn man sie denn fände. Aber vielleicht wird der Fall doch irgendwann aufgerollt, wenn die Anwälte der Steuerbehörde der USA sich den Fall „Marinade-Heinrich“ alias „Fonds Edeltraud“ einmal vornehmen. Denn eine Spur führt auch in die USA zu einer nicht ganz unbekannten Kanzlei im Staate Delaware, die im fernen Jahr 1994 dabei half, einen unscheinbaren Fonds mit diesem hübschen Frauennamen in Panama zu gründen. Im Namen einer Fondsgesellschaft mit dem ebenso hübschen Namen „Grundstücks Vermarktungsgesellschaft Edeltraud & Co.“ mit Sitz im schönen bayerischen Sonnenstädtchen B., wo auch eine den Bewohnern von L. gut bekannte Vermarktungs-KG ihre feine Adresse hat, die vor nun doch schon etwas längerer Zeit nicht nur die Sportwelt in L. erfreute, sondern auch diverse Bürgermeister, Staatssekretäre und Treuhandmitarbeiter in Freudengesänge ausbrechen ließ, weil Sie seinerzeit mit ungemeiner Freude am Helfen ungefähr ein Dutzend in L. und Umgebung  ansässiger Betriebe aus dem Bereich der Feinmechanik und elektronischen Ausrüstung kaufte, sanierte und …

Den Weitergang der Geschichte kennen ja die Meisten. Diese ganz besonders gelungene Rettungsaktion ging als Fall „Marinade-Heinrich“ in die jüngere Skandalgeschichte unserer Stadt ein. Obwohl ausgerechnet das einst beliebte Unternehmen „Marinade-Heinrich“ sichtlich der kleinste Fisch bei diesem Fang war – freilich der prominenteste. Denn dass auch eine kleine, eher mausgraue Fabrik mit dem Namen VEB Optische Präzisionsgeräte L. in dem netten Paket war, das jene nunmehr legendäre Vermarktungs KG aus B. bei der sanierungsfreudigen Treuhandgesellschaft in L. für den spendablen Preis von 0,- DM (sprich: Null D-Mark) erwarb, spielte auch in den großen Schlagzeilen dieser Jahre keine Rolle. Wer wusste denn schon, dass in diesem kleinen, unscheinbaren Fabrikkomplex in der …er Straße ziemlich moderne Nachtsichtgeräte für die Truppen des Warschauer Paktes produziert wurden?

Dass die emsige Vermarktungs KG mit dem Null-DM-Kauf die Verpflichtung eingegangen wäre, sowohl die Arbeitsplätze in mindestens drei der betroffenen Kleinbetriebe (darunter auch „Marinade-Heinrich“) zu erhalten, war ja bekanntlich im fernen Jahr 1995 kurzzeitig Thema vor Gericht, weil zumindest ein etwas misstrauischer Bürgermeister glaubte, in dem ziemlich schnellen Verschwinden der so preiswert erworbenen Betriebe einen Fall von Betrug wittern zu müssen. Aber bekanntlich befand der Richter seinerzeit – in einer für die Öffentlichkeit geschlossenen Verhandlung – dass der Verwertungsgesellschaft aus B. und ihrer gewitzten Geschäftsführung keinerlei Untreue nachzuweisen wäre, dem zuständigen Treuhandsachbearbeiter auch nicht. Und selbst die Verkäufe der entkernten Gebäude und beräumten Grundstücke an eine – ebenfalls in B. unter gleicher Adresse ansässigen – Grundstücksvermarktungsfirma für einen nicht genannten Preis, sei ein marktüblicher Vorgang.

Und dabei könnte man es ja belassen, wäre nicht 1994 jener nette „Fonds Edeltraud“ eingerichtet worden mit einer Dollarsumme, die das seinerzeitige Kapital der in B. ansässigen Vermarktungsfirma um ein Zehnfaches übersteigt. Eingerichtet wurde er gerade einmal zwei Tage nach der Schließung des VEB Optische Präzisionsgeräte und der Kündigung aller Mitarbeiter – bis auf den Direktor der Einkaufsabteilung, Herrn A. Da der Vorgang auch im Rathaus beurkundet werden musste, wollten wir uns natürlich gern anschauen, wer diese Grundstücke an der …er Straße eigentlich für welchen Preis an wen verkauft hat und wer der heutige Besitzer ist.

Aber Sie wissen ja, wie das ist: Nach Auskunft des Rathauses sind diese Akten im Archiv nirgendwo aufzufinden.

Dafür war L., nachdem er geduscht und sich endlich ein paar trockene Klamotten angezogen hatte, natürlich ins Büro gefahren, hatte mit der Bildabteilung geklärt, dass es keine großformatigen Reproduktionen der verschwundenen Aktenstücke geben würde, mit dem Korrektor, dass die abgekürzten Namen bitteschön auch nach der Korrektur abgekürzt bleiben sollten, sonst könne sich gleich die Rechtsabteilung mit dem Fall beschäftigen und es würde gleich wieder schweineteuer werden.

Das Mammut, dem er ja bekanntlich am Bahnhof so heftig begegnet war,  hatte er lieber noch rausgelassen aus der Geschichte, auch wenn er so eine Ahnung hatte. Und als dann auf dem Display seines Telefons die Nummer des Blassen erschien, hatte er ziemlich eilig seinen Computer heruntergefahren und hatte der blonden Maus am Empfang eingeschärft, dass er heute für niemanden mehr erreichbar wäre. Er hätte noch einen wichtigen Termin, da dürfe ihn niemand stören.

„Außer …“, hatte sie geschmollt.

„Jaja“, hatte er gesagt. Ein Zwinkern versucht und war aus der Tür gestürmt. Sein Telefon hatte die ganze Zeit geklingelt. Das hatte ganz bestimmt auch die blonde Maus am Empfang gehört. Aber manchmal muss man einfach mal die Welt ohne Antworten lassen und sich um einen Kasten Bier kümmern und einen höchst besorgten Nachbarn, der ihm noch in der Dusche eingeschärft hatte: „Red zu niemandem über dein Papier hier.“

„Wollte ich auch gar nicht.“

„Du musst zuhören, L. Ich sag dir das in alle Freundschaft. Kein Wort, zu niemand, hastu kapiert?“

„Aber warum?“

„Sag ich dir nachher. Steigen wir auf Dach und machen Saufabend, was meinstu?“

„Aber warum erst nachher? Kannst du nicht gleich ….?

„Muss ich erst gute Freund fragen. Hab da ein dummes Gefühl, mein Lieber.“ Die mehrfach gewässerten Papiere hatte Oleg gleich mitgenommen, als er die Wohnung verließ. Die Tür war schmatzend zugefallen. Deswegen wischte L. lieber erst noch den Schaum im Flur auf, bevor er sich selbst duschte. Am Sonntag würde er den Flur also wieder malern müssen. Oder einen Kater haben. Nein, doch lieber malern. Das musste er sowieso wieder seiner Schönen irgendwie beibringen, nachher, und dass er mit Oleg …

Er sah schon ihre ungläubigen Blicke.

Nur nicht dran denken. Als er draußen auf die Straße stürmte, hörte er noch immer das Klingeln des Telefons aus seinem Büro.

Sie haben die ersten Teile verpasst? Hier sind sie:

Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird

In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?

Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.

Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?

In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!

In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter

In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke

Und was passiert jetzt? Teil 8
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt

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