LeserclubNatürlich erschien Herr L. nicht zur offiziellen Öffnungszeit am Haupteingang des Zoos. Er nahm auch nicht den Haupteingang, sondern eilte, kaum war er aus der Bahn gesprungen, zum Glaskäfig, wo für gewöhnlich der Pförtner gefangen saß. Nur heute nicht. Nicht um diese Zeit. Im Windschatten eines röhrenden Kühlwagens passierte L. die Schranke und entwischte dann - wer hätte das gedacht - seitwärts. Dem scharfen Geruch hinterher.

Den scharfe Romantiker gern als animalisch bezeichnen. Animalisch carnivorisch. So riechen stolze Zeitgenossen, wenn sie sich nie duschen, aber immer auf der Lauer sind, ob fluchtbereites Wild in ihren Jagdkreis kommt und sie zu animalischer Jagdlust animiert. Sie wissen ja, wie das ist bei Panthera Leo, wie die Spezies heißt. Da reicht ein tiefbrünstiges appetitliches Brummen und drei, vier weibliche Exemplare stürzen los, um dem Mähnenträger ein flottes Reh oder Gnu oder Zebu zu erjagen.

Mit Löwen kannte sich L. zwar nur ein wenig aus. Aber er kannte den Mann, der damals den Kopf hinhalten musste. Denn: WIE WAR DER TOTE ÜBERHAUPT IN DAS LÖWENGEHEGE GELANGT? Wer hatte die Riegel nicht kontrolliert? Wer hatte die Tür zum  Freigehege nicht gesichert? Wer hatte seinen Kontrollrundgang nicht ordnungsgemäß gemacht?

Hatte alles seinerzeit in der Zeitung gestanden.

VON RAUBTIEREN ZERFLEISCHT
WER IST DER TOTE IM LÖWENGEHEGE?
Selbstmord oder Fahrlässigkeit?
POLIZEI TAPPT … jaja, Sie wissen ja, wo die Polizei immer tappt. Damals kam sie, wie wir schon erzählen durften, zu spät. L. war schon da, ein nervöses Kerlchen im gestopften Pullover, frisch in seiner Redaktion, völlig unerfahren, was den Umgang mit der Staatsgewalt betrifft, aber zumindest gewitzt, so weit, dass er stotterte vor Nervosität und sich auf den großen, knurrigen Chef in  der Zeitungsredaktion berief, als er dem forsch und zornig kommenden Herrn Ober-Unter-Oder-sonstwas-Kommissar sagte, er wisse von nichts, sei ganz zufällig da, wegen der maroden Eisbärfelsen und dem unglücklichen Sturz eines Eisbären jüngst („Stand doch in der Zeitung!“) in das eisige Wasser im Graben. So unglücklich, dass selbst der Zoodirektor vage von tierischen Depressionen, mürber Substanz und zu wenig Geld („Diese Geizhälse im Rat, ich könnte sie …!“) redete („Aber nicht zitieren. Die werfen mich sonst den Löwen …“). Was es damals schon schwierig machte, über die lebensgefährlichen Kletterfelsen der Eisbären und ihre Käfigdepressionen („Klaustrophobie“, hatte der Direktor gesagt, aber: „Auch nicht zitierfähig“) zu schreiben. In der schönen Stadt L. begingen Eisbären keinen Selbstmord. In L. hatten sie sich wohlzufühlen. Außerdem waren die Felsen denkmalgeschützt. Da durfte keiner dran rühren. Was L.s Geschichte zusammenschnurren ließ auf ein Nichts. Und den knurrenden Chef aller Zeilen und Spalten zum Panthera Leo machte: „Schleich dich in den Futterbereich. Lass dir von den Tierpflegern erzählen, was alles kaputt ist. Lass den Direx da raus. Der weiß von nichts. Der ist mein Freund, capito?“

War ja nicht schwer.

Deshalb war L. damals in aller Dschungelfrühe in den Gehegen gewesen. Und hatte nicht nur bei den Eisbären mehr gesehen, als ein braves Zoobesucherkind jemals sehen darf. Sondern auch drüben bei den beiden alten Löwen, den so gerühmten Wappentieren dieser Stadt, die sich schon seit Jahren keines Blickes mehr würdigten. Denn wo es keine Weibchen gab, gab es auch keinen Grund, den Macho besonders laut heraushängen zu lassen. Da konnte man in aller Ruhe Trübsal blasen, ein bisschen vor sich hinstinken und auf den Tierarzt warten.

Der kam, maß und schüttelte nicht mal den Kopf.

Wenn in einer weltberühmten Löwenzucht die feschen Löwinnen abhanden kommen, weil ein hohes Tier im Rathaus beschlossen hatte, dass Panthera Leo für die mageren Stadtpenunzen zu teuer geworden war (Immer diese riesigen Fleischkeulen! Können die Viecher nicht Heu fressen wie die Giraffen? (Kein Zitat. Bitte beachten.), dann blieb für die Mähne der Schöpfung nur noch das Warten auf die tägliche Begängnis, das Lachen der Menschenkinder und: Schon wieder Rinderkeule!?! Weit und breit keine Antilope – doch ja. Nebenan. Unerreichbar. In L. ein Löwe zu sein, das grenzte schon an die Hölle für unschuldige Carnivoren.

Vielleicht war’s das auch.

Und vielleicht lag dann auch deshalb eines Tages der zerfleischte Mann im Löwengehege. Eindeutig von riesigen Beißern zerfetzt, die Kehle aufgerissen, das Gesicht völlig unkenntlich, so dass die Polizei nicht mal ein Phantombild anfertigen konnte und die Zeitungen nur von den edlen Markenklamotten redeten, die der Tote trug. Ein Geschäftsmann womöglich, eher keiner der Hiesigen, die bekannt waren dafür, dass sie so schlecht gekleidet waren wie der Scheuch im Zauberer von Oz.

Aber was nutzten die schönen Etiketten an Hose, Schuhen, Unterwäsche, wenn der Mann nicht mal einen Ausweis bei sich trug, kein Fitzelchen Papier, das ihn irgendwie auswies? Auch wurde in keinem der wenigen Hotels ein Reisender vermisst, auch aus der Szene der Leipziger Privatvermieterinnen wurde kein Gast als abwesend gemeldet. Und auch die sich tummelnden Firmen aus aller Welt, die damals gerade den großen Kuchen verteilten, meldeten keinen verlustig gegangenen Top-Mitarbeiter, nichts.

Irgendwann wurden die Meldungen immer kleiner, in denen vermeldet wurde, dass der Unbekannte noch immer nicht identifiziert war. Irgendwann hörte auch der grimmige Kommissar auf, L. anzurufen, weil er den grämlichen Verdacht hegte, L. könnte doch etwas mit dem Toten zu tun haben. Aber das hatte L. ja eigentlich widerlegt durch seine große Geschichte, die in der Zeitung sogar zwei volle Seiten bekam:

IST UNSER ZOO NOCH ZU RETTEN?!
Einstürzende Altbauten, rostige Rohre, kaputte Eismaschine
Wie unsere Stadt ihr bestes Stück in die Binsen spart

Natürlich hatte er keine Namen genannt. Schon gar nicht die des Burschen, der ihn im Morgengrauen durch die Katakomben hinter und unter den Raubtiergehegen geführt hatte. Da musste der Tote schon oben im Löwengehege gelegen haben. Aber das interessierte L. ja eigentlich nicht, auch wenn sie am Ende regelrecht stolperten über das wie weggeworfen daliegende Stück Mensch. Und L. wusste ziemlich sicher, dass der nicht sehr gesprächsfreudige Mann im blauen Zwillich vorher die sperrige Luke zum Freigehege erst entriegeln musste. Die beiden trübsinnigen Löwen hätten also nie und nimmer dieses Blutbad zwischen den Felsen anrichten können.

Aber – und auch das war nicht nur L. klar: Der oder die Täter wussten, wie sie ins Gehege kamen. Deswegen stand von den Löwen nichts in L.s Text damals. „Warum keine Löwen?“, hatte sein knurriger Chef vom Dienst gefragt. Und er hatte es ihm erzählt. Und deswegen war dann der Kriminalreporter auf die Sache angesetzt worden, überließ man ihm die Löwen und die Polizei. Und die beunruhigende Frage: Wer platziert eigentlich derart zerfleischte Tote so, dass sie bei Zooöffnung sofort von einer gaffenden Menschenmenge entdeckt werden mussten? Gar von Kindern! War es ein Sadist?

Wahrscheinlich hatte L.s Gesprächspartner aus den Katakomben schon geahnt, was da kommen würde, als er pflichtschuldigst die Polizei verständigte. Er ahnte wohl schon, dass er sich damit selbst der Meute zum  Fraß vorwarf. Einer muss doch der Schuldige sein. Meistens ist es ja, wie man weiß, der Gärtner. Was ja auch so kam, als die Polizei einfach nicht herausbekommen konnte, wer der Tote war. Und wer ihn so zugerichtet haben könnte. Denn was dann nicht in den Zeitungen stand (darum hatte der Polizeichef selber gebeten) war die Tatsache, dass die Bissspuren eindeutig nicht von einem Löwen stammten, schon gar nicht von einem der beiden trübseligen Burschen, die fast einen Monat lang nicht mehr ins Freie durften und dabei noch viel trübseliger wurden, während ihr Pfleger ganz öffentlich strafversetzt wurde zu den Hängebauchschweinen und Streichelziegen. Diesmal Originalzitat: „Wenn die weglaufen, passiert wenigstens kein Unglück in unserer Stadt.“

(Warum hatte diese Stadt eigentlich keine zahmen Hängebauchschweine im Wappen?)

Mittlerweile war der stille Mann, der wahrscheinlich schon froh war, dass er überhaupt noch im Reich der Tiere bleiben durfte, zu den Mähnenwölfen versetzt worden. Und es stank noch viel animalischer als drüben bei den Löwen, bei denen der stille Mann auch gar nicht wieder arbeiten wollte. Denn man hatte im Lauf der Zeit mehrere agile Löwendamen aus aller Welt zugekauft. Der neue Bürgermeister sah die Sache mit den Wappentieren völlig anders als der alte. Und seitdem mussten auch die Pfleger im Löwenrevier verdammt schnell sein, wenn sie den Arbeitstag nicht als Löwenfutter beenden wollten.

Dafür war es hinterm Gehege der Mähnenwölfe schön still. Sie saßen zufrieden auf einer Bank. Und L. wusste schon längst, dass der stille Mann nicht deshalb schwieg, weil er damals, als die Sache im Löwengehege war, nichts gemerkt hätte. Irgendwas war da gewesen. L. hatte es irgendwie registriert, vorher schon, irgendwo beim Gang durch die Fleischküche mit den blank geputzten Tischen (Messing, Kupfer, ein gelber Ton, „Rauchen verboten!“), aber er hatte es nicht für wichtig gehalten. Bis gestern Nacht, als ihm das wieder einfiel.

„Was war es?“

Der Stille schien noch immer zu überlegen. Und dann kramte er es aus seiner Jackentasche. Ein ziemlich abgeschabtes Zigarettenetui. „Könnte Gold sein“, sagt L.

„Könnte auch nicht“, sagte der Stille. „Willst du mich jetzt …“

„Vergiss es. Ich hab so einen Geruch in der Nase…“

„Das ist das Männchen …“

„Du und deine Mähnenwölfe. Ich meine das Ding da.“

„Das riecht natürlich auch.“

„Nein. Das meine ich nicht. Hast du dir die Marke gemerkt?“

„Die von den Glimmstengeln?“

„Genau die. Ich wusste es doch.“

„Was wusstest du?“

„Sag du es …“

„Ich weiß nicht, wie die die Dinger nennen. Das Zeug roch wie … Machorka.“

„Selbstgedrehte?“

„Sahen fast so aus ..“

„Und der Name?“

„Was für ein Name?“

Der Stille schwieg. Fast ein bisschen trotzig. Warum waren andere Leute immer so verdammt neugierig? Warum ließen sie die Dinge nicht ruhen? Menschen, dachte er.

„Hab ich weggefeilt. Muss keiner wissen.“

„Darf ich mal raten“, fragte L. und setzte sein fröhliches Käuzchen-Grinsen auf, dass er gern aufsetzte, wenn er wusste, dass er es gleich haben würde.

„Meier“, sagte der Stille.

„Falsch“, sagte L. „Eher: Müller. Nicht war? Oder Miller …Vorname: August. Stimmt’s?“

Und da hatte er ihn und konnte sich gar nicht freuen, weil er wusste, wie es dem stillen Mann ging, der gedacht hatte, bei den Mähnenwölfen könnte man in aller Ruhe auf die Tierpflegerrente hinarbeiten. Er wagte ihn nicht mal anzusehen, das merkte L. auch und hätte ihn vor lauter Mitgefühl knutschen können. „Stimmt es?“

Man könnte die leichte Kopfbewegung als Nicken verstehen.

Natürlich knutschte er den Mann in seiner so ganz nach Mähnenwolf stinkenden Kluft nicht.

„Geht das jetzt von vorn los?“

„Glaub ich nicht“, sagte L. „Es sei denn, sie müssen mal wieder was ins Löwengehege legen, damit’s alle sehen. Aber da bist du diesmal raus.“

„Und wenn sie es bei meinen Mähnenwölfen …?“

„Nie und nimmer. Dazu sind die viel zu arrogant. Unter Löwe machen die das nicht. Auch wenn sie von Löwen keine Ahnung haben. Nicht die mindeste.“

Er musste nur aufpassen, dass er jetzt nicht hüpfte wie ein rothaariges Mädchen, wenn er wieder beim Diensteingang ins Freie huschte. Da musste man schon ein bisschen würdevoll auftreten und den Pförtner so grüßen, als hätte man sich vorhin ganz ordentlich angemeldet. „Bis morchen“, rief er noch. Wenn Leute wie er brav grüßten, war das schon in Ordnung. Und als dann die Straßenbahn angekleckert kam, hüpfte er tatsächlich. Das fiel in dieser Stadt nun wirklich nicht mehr auf. Da freuten sich selbst alte Leute noch wie die Kinder, wenn sie die Bahn noch erwischten. Und wenn er aufgepasst hätte, hätte er auch den Mann in der anderen Bahn gesehen, die nach Norden fuhr, und der jetzt verdattert durch seine Sonnenbrille herüberstarrte.

Hat er aber nicht.

Alle Teile bisher:

Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird

In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?

Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.

Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?

In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!

In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter

In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke

In Teil 8 hat L. irgendjemanden aufgeschreckt.
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt

In Teil 9 fiel zum ersten Mal das Stichwort „Marinaden-Heinrich“.
Herr L. erinnert an eine staubalte Geschichte und muss mit Oleg Blochin aufs Dach

In Teil 10 ging es um leckeren Fisch und eine Frau voller Herzensggüte.
Diesmal steht L. ohne Unschuldsmiene, aber mit Tulpen im Flur

In Teil 11 tauchte die Frage auf: Bekommt es L. jetzt mit schweren Jungs aus Moskau zu tun?
Herr L. will eigentlich nicht nach London und irgendwer hat die Fischlein gemaust

In der 12. Geschichte badete Herr L. in Schweiß und gefährlichen Träumen.
Irgendjemand hat Herrn L. zum Fressen gern

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