LeserclubDass er einen von Olegs kleinen Fischen abbekommen haben könnte, bezweifelt L. Auch wenn er in dieser mondhellen Nacht so unruhig schlief wie ein Heringsschwarm, hin und her jagend durch die unendliche Bläue des Kristalls, in dem sich das Licht von Mond und Sternen in vielen Funken brach, die immer wieder zurückschreckten, als würde da am Rand des Schwarms ein Raubfisch unterwegs sein.

Oder einer der anderen unersättlichen Meeresbewohner, die unentwegt Jagd machen auf die Schwärme glitzernder Silberbäuche. Und während sich der eine Fisch, leicht grün schimmernd, versuchte wegzuducken unter seine Millionen Weggenossen, reichte eine unverhoffte Wellenbewegung, ein leichter Schwenk und er war wieder ganz am Rand,  musste sich sputen, dranzubleiben, während ein öliger Schatten neben ihm schwebte. Ein Berg von Zähnen, gierige Äuglein.

Genug geschwommen, kleines Fischlein. Komm, Lass dich fangen.

Und entsetzt stürzte sich das Fischlein dem Schwarm hinterher, sah hier noch eine flüchtende Flosse, da ein Glitzern. Nur nicht abreißen lassen, nur nicht allein bleiben in der Finsternis. Und dann  …

In dieser Nacht begriff zumindest die eine oder andere kleine Gedächtnisstütze in L.s fieberndem Gehirn, wie das ist im Leben eines Schwarms.

Geredet wurde ja überall davon. Aber vorstellen konnte sich das keiner. Wie denn auch. Als normales Fischlein war man immer Teil des Schwarms. Sah vor sich Flossen, neben sich, über sich, unter sich. Und wenn man Glück hatte, waren hinter einem auch noch viele Fische unterwegs.

Aber Schwärme regierten die Welt nicht. Sie sorgten nur dafür, dass immer genug Fischlein da waren für die Raubtiere in der Dunkelheit.

Aber war er nicht selbst ein Raubtier? Ein kleines wenigstens? Eines – das sich wehrt?

Seit er in einigen etwas wilderen Nächten beim wilden Kampf mit seinen Ungeheuern aus dem Bett gefallen war und sich dabei einige heftige Beulen geholt hatte, hat sich L. angewöhnt, in seinen Träumen etwas kulanter zu sein und in den Zweikämpfen mit Oktopussen, Trollen und Grizzlybären nicht unbedingt immer gewinnen zu wollen, sondern sich einfach fressen zu lassen. Das ist zwar ein bisschen würdelos, sorgt aber ab und an dafür, dass die verfressenen Biester jedes Mal ziemlich enttäuscht reagierten und manchmal ihre Wunschspeise auch wieder ausspuckten und baten, sich doch bitteschön ein bisschen anzustrengen. „Was issn dass fürn Aptraum, wenn du nicht mitspielst, du kleiner Scheißer?“ – „Nich meiner“!, sagte das Fischlein dann gern und stürzte sich in den Schlund des Hais – ja, einmal war es auch eine städtische Kehrmaschine gewesen. So eine, die immer auf und ab fährt vor dem Fenster und dabei eine einzelne Taubenfeder jagt, hin und her, mit heulendem Motor, wild kreisenden Borsten und einem zürnenden Grollen in ihrem riesigen Bauch, in dem schon drei verschluckte Katzen, ein jaulender Dackel und mehrere unglückliche Ratten fiepsten, miauten, kreischten und immer wieder herumgeschleudert wurden, während das Maul der Maschine wütend nach der Taubenfeder schnappte …

„Nun ist aber gut, L. Es reicht. Raus aus den Federn.“

Was durchs Fenster schmetterte, war beim ersten Blinzeln nicht mehr der Mond, sondern dieser komische Glutball, um den dieser seltsame Planet Jahr für Jahr seine Runden drehte. Könnte das nicht mal anders sein? Nicht so grell, dachte L., der sich aus dem schweißnassen Federbett quälte und versuchte, seinen viel zu schweren Kopf mühsam Richtung Bad zu tragen. Immerhin war ein Schwarm Heringe drin, außerdem mehrere Katzen, ein jaulender Dackel – ach Gottchen – der wollte jetzt noch Gassi gehen …“

„War es so schlimm”, fragte eine vorsichtig brummige Stimme hinter ihm und eine Hand zog ihn unnachgiebig von der Wohnungstür weg und Schob ihn Richtung Bad. Der Dackel fiepste, aber gehorchte. Jetzt ging es erst mal nicht Gassi, sondern ins Bad und vor den Spiegel, wo ein Heringsschwarm versuchte, sich selbst zu erkennen in einem großen, schwärmenden Glühen, Huschen und Glitzern.

Alle noch da, freute sich irgendetwas in L.s Rückenflosse. Nur wer etwas  aufmerksamer in die Tiefe des Spiegels geschaut hätte, hätte den huschenden Schatten am Rand des glitzernden Schwarms bemerkt. Aber L. war in Gedanken schon wieder ganz woanders. Oder müsste es heißen: Ganz viel anderswo? Mit einem Fuß auf einer schönen einsamen Insel, mit einem auf einer fetten grünen Almwiese und mit zweien draußen auf der Stra .. ochnee! „Sitz!“, knurrte L. Und der Dackel setzte sich gehorsam und wedelte. Mit den Ohren. Jetzt war er beleidigt. Immer ging es nach L.s Nase. Die Welt war ungerecht.

Auch beim Frühstück. Da gab es nur einen Toast, ein Salatblättchen und ein Glas Tee.

„Aber ich brauche doch …“

„Nicht nach so einer Nacht, mein Lieber. Denk an dein Herz.“

„Aber ich denke doch ständig an dich.“

„Du schwindelst. Du hast die ganze Zeit HAI! gerufen! HAI!“

„Aber nicht die ganze Nacht.“

„Natürlich nicht. Ich hab gesagt, dass du aufhören sollst rumzuzappeln.“

„Und dann?“

„Dann hast du gesagt: Dann friss mich doch.“

„Und dann?“, fragte jemand. L. wagte schon gar nicht mehr hinzugucken, wer das gewesen sein könnte.

„Dann hab ich dich gefressen.“

„Und dann?“

„Dann warst du mucksmäuschenstill und hast friedlich geschlafen. Und von Oleg soll ich dir sagen: Lass die Finger davon.“

„Ach so. Hat er mir auch gesagt.“

„Er hat auch gesagt Sie werden dich fressen.“

„Weiß ich schon. Das bin ich gewohnt.“

„Mit Haut und Haar.“

Na gut. Da hielt L. lieber ein bisschen inne beim Mümmeln seines Salatblatts. Das wäre dann zumindest eine neue Erfahrung. Und sicher ein Fall für die Kriminalpolizei, wenn sie dann rausfinden wollten, zu wem die Knöchelchen und Haare gehörten, die sie im Wald finden würden. Oder etwas öffentlicher. Vielleicht im Löwengehege des Zoos.

Im Löwengehege des Zoos?

War da nicht was?

Tief in der Dunkelheit in L.s heringsdurchschwärmten Kopf glühte ein Lichtlein. Ein Lämpchen. Ein Wunderlämpchen, als hätte ein übereifriger Gedanke mal kurz drübergerieben.

„Er sagt auch, deine Redaktion ist jetzt ein unsicherer Ort.“

„Das ist sie schon immer.“

„Es könnten Leute dort auftauchen.“

„Ja. Ich weiß. Herr Schellmufsky zum Beispiel oder Frau Doktor B. …“

„Wohl etwas anders. Vielleicht mit Lederjacke und so, hat er gesagt.“

„Wann will er denn vorbeikommen?“

„Oleg? Du glaubst, dass er selbst …“

„Keine Ahnung. Ich wollte heute eigentlich in den Zoo.“

„Schon wieder? Wir waren doch erst letzte Woche bei den Flamingos …“

„Die kommen auch noch dran“, brummte L., als er in seinen Mantel schlüpfte. Etwas feucht fühlte der sich an. Als wäre er gestern in einen großen Regen gekommen. Hatte es geregnet? Was war eigentlich gestern?

Nichsowichtig, fiepte ein etwas unruhiger Dackel in seinem Kopf, der jetzt unbedingt raus wollte an die frische Luft. Auch wenn er jetzt eigentlich erst mal ins muffige Archiv musste. Denn damals, als das mit dem Löwen passierte, da waren Zeitungen noch aus Papier. Und die Geschichten mit den Löwen standen nicht vorn auf der ersten Seite, sondern ganz klein auf der letzten. Unter Vermischtes. 15 Zeilen. Daran konnte er sich noch erinnern. Und an den kleinen giftigen Polizisten, der ihn angezischt hat, dass er sich verpissen sollte. Dumm nur, dass L. vor dem kleinen giftigen Kommissar am Gehege gewesen war.

Ganz in närrischen schönen Dackelgedanken vertieft, merkt L. deswegen nicht, dass er mitten im gewohnten Lauf einfach umdreht und statt in die Straßenbahn nach Süden in die nach Norden stieg.

Und ein verdutzter Mensch mit Lederjacke und Sonnenbrille starrte aus der Bahn, die nach Süden fuhr, sichtlich überfordert von der Frage, was L. den nun im Norden wollte.

Alle Teile bisher:

Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird

In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?

Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.

Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?

In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!

In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter

In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke

In Teil 8 hat L. irgendjemanden aufgeschreckt.
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt

In Teil 9 fiel zum ersten Mal das Stichwort „Marinaden-Heinrich“.
Herr L. erinnert an eine staubalte Geschichte und muss mit Oleg Blochin aufs Dach

In Teil 10 ging es um leckeren Fisch und eine Frau voller Herzensggüte.
Diesmal steht L. ohne Unschuldsmiene, aber mit Tulpen im Flur

In Teil 11 tauchte die Frage auf: Bekommt es L. jetzt mit schweren Jungs aus Moskau zu tun?
Herr L. will eigentlich nicht nach London und irgendwer hat die Fischlein gemaust

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