LeserclubEs wurde damals kein Skandal. Obwohl die Geschichte um Belinda alle Zutaten dazu hatte. Aber selbst L. hatte den Fall längst vergessen und ein alter, abgegriffener Groschen fiel auch bei ihm erst, als er an diesem späten Morgen mit seinem Ressortchef aneinander geriet. Immerhin lechzte die GANZE STADT nach neuen Sensationsmeldungen zum Panama-Papier-Skandal.

Vorher hatte das Telefon genervt, beharrlich. So, wie nur einer nerven kann, der sich am anderen Ende mit grimmiger Laune meldete: „Wo bist du, Kanaille! Warum fährst du nicht ins Bjuro?!“

„Ich bin im Büro, Oleg.“

„Du bist gefahren nach Norden, du Narr. Ich stehe hier auf nasse kalte Messegelände. Wieso bist du in Bjuro?“

„Weil ich hier jeden Tag bin. Was machst du an der Messe? Und warum so grimmig.“

„Du weißt, dass Petersburger Freunde von Awgust Mjiller hinter dir her?“

„Sind sie nicht.“

„Sind sie doch. In kleines Kaff in Schwaben sind sie schon ganz aufgeregt. Wer fragt nach Häuser von Mjiller? Mjiller ganz zornig …“

„Miller ist tot, Oleg“, sagte L. und versuchte seine Tastatur ein wenig abtropfen zu lassen. Man sollte sich vom Telefon nicht erschrecken lassen. Schon gar nicht mit der ersten großen Tasse Kaffee am Morgen. Die nun eine fast leere Tasse war. Das schöne Koffein tropfte jetzt aus der Gegend von YXCVB auf den Schreibtisch. Ein schöner brauner See. Ohne Wellengang. Aber wie kam er jetzt an die Papierrolle, mit Telefon am Ohr und Tastatur in der Hand? Zumindest kam ihm entgegen, dass Oleg schwieg. Er hörte ihn regelrecht grübeln.

„Aber sie suchen dich, Kumpel.“

„Sollen sie doch. Miller ist mausetot.“

„Stand das in Zeitung?“

„Klar stand das in der Zeitung. Ich hab selbst drüber geschrieben.“

„Cheute?“

„Nein. Vor 20 Jahren …“

Schweigen am anderen Ende. Schnaufen.

„Ich komm in Bjuro.“ Knacken im Hörer. Auflegen. Luftholen. Neues Klingeln. Da hatte L. wohl tatsächlich ein paar Leute aufgeschreckt. Sogar den Ressortleiter, der sonst selten aus seiner Ecke kam, weil er die ganze Zeit beschäftigt war, sich von Rasenden Fotografen Bilder von Autounfällen, brennenden Häusern, schnittigen Polizeiautos beschaffen zu lassen, um die Ausgabe mit richtig feurigen Fotos zu bestücken, egal, was unten im Text stand, auch wenn es gern um Mord und Totschlag gehen durfte.

„Ein Mord, Kolleje? Warum weiß ich das nicht? Warum hab ich den Text noch nicht auf dem Tisch?“

„Geh doch ins Archiv. War groß und breit in der Zeitung: Mord im Löwengehege. Kannste alles nachlesen.“

„Ochja“, der pummelige Mann mit der Halbglatze nickte. Genüsslich, muss man sagen. Wer erinnert sich nicht an die aufregendsten Geschichten in seiner Zeit mit diesem Genuss, den nur Zeilenschinder kennen, die wissen, wie das Leben spielt. „Aber die haben nie rausgefunden, wer es war. War sowieso eine komische Zeit. Lauter seltsame Tode.“

„Ich erinnere mich nur an den einen.“

„Nein, nein. Ich muss das wissen. Damals ist auch die schöne … Wie hieß sie doch gleich? Mein armer Kopf! Ich kann mir nichts mehr merken.“

„Eine Frauengeschichte?“

„Kannste wohl sagen. Mensch, wenn ich nur die verdammte Melodie …“

Und dann zog tatsächlich ein Schimmer stiller Verklärung über das Gesicht des Ressortchefs. Er spitzte die Lippen und summte. Eigentlich eine ganz simple Melodie. So etwas, mit dem gern alte Liebesschnulzen untermalt werden, wenn Regisseuren nichts mehr einfällt, ein bisschen melancholisch, ein bisschen lindenbaumig und …

Da machte es auch in L.s Kopf wusch und er saß mittendrin in dem kleinen, eigentlich schon lange völlig heruntergekommenen Cabarett in der Stadt, 17 Stufen unterm Trottoir, die Wände behängt mit den Fotos vergilbter Stars und vergessener Sternchen, das ramponierte Piano in der Ecke, wo der Klavierspieler mit seinem zerdrückten Hütchen saß und auf der Bühne im pailettenbesetzten Kleid die Diva. Großäugig. „Rehäugig“, hatte der Ressortchef damals geschrieben. Er liebte „Weibergeschichten“. Schöne Frauen kamen auf seiner Seite „Das pralle Leben“ immer ganz groß raus. Die Fotos konnten gar nicht groß genug sein, die Worte gar nicht üppig genug.

Aber in dieser Vorstellung damals hatte L. als einziger aus der Redaktion gesessen. Das wusste er noch. Er hat hinterher nicht drüber schreiben können. Das wusste er auch noch. Was nicht an der schönen Belinda lag, für die die Sänger aus den vielen kleinen Bühnen und Cabaretts der Stadt an diesem Tag das Abschiedskonzert gaben. Abschied nahmen von einer der ihren, denn hier hatte die schöne Belinda ihre Karriere gestartet, bevor sie ihre ersten Förderer fand … Oder war es nur einer, der sie in die heiligen Himmel des Films brachte? Wo sie verruchte Frauen spielte, schmollmündige Rehkitze und einmal auch die eiskalte Räuberbraut in einem völlig blödsinnigen Fernsehkrimi.

Logisch, dass sich alle Sender und Gazetten auf diesen Fall stürzten, als die schöne Belinda stranguliert in einer teuren Hotelsuite gefunden wurde, die Polizei aber partout nicht herausbekommen konnte, wer in der Nacht zuvor bei ihr gewesen war.

Das Heulen und Trauern war entsprechend laut, verdrängte auch den Toten im Löwengehege aus den Schlagzeilen.

Aber als dann die einstigen Kollegen ihren Abschied von Belinda feierten, verzichteten sie darauf, die laute Medienmeute dazu einzuladen. Es gab nur wenige Einladungen an Presseleute. Drei Stück, konnte sich L. erinnern. Er saß neben zwei grauhaarigen Kollegen, die sich schon seit Jahrzehnten im Metier tummelten und bekannt dafür waren, dass sie voller Anekdoten steckten, weil sie mit allen, wirklich allen in der Szene vertraut waren.

L. war zwar noch ein junger Hüpfer. Aber seine Geschichten, die er für die Rubrik „Das pralle Leben“ schrieb, fanden Anklang. Nicht nur bei Lesern, die schöne und begabte Frauen in glitzernden Kostümen mochten, sondern auch bei den begabten Frauen in ihren glitzernden Kostümen. Vielleicht war es auch die Diva selbst gewesen, die ihn auf die Einladungsliste hatte setzen lassen. Jedenfalls fühlte er sich entsprechend verwirrt zwischen all den Leuten, die er sonst nur von der Bühne kannte und vor denen er noch immer einen Heidenrespekt hatte.

Und dann hatte die Diva ihr Abschiedslied für Belinda gesungen. Diese fast sentimentale Schlagermelodie, von der man schon beim Mitsummen das Gefühl hatte, das muss mal ein richtiger Ohrwurm auf alten Schelllackplatten gewesen sein.

Und dann – na ja – eigentlich schämte er sich dafür nicht mal mehr – hatte L. geflennt wie ein Schlosshund. Obwohl er die schöne Belinda nie kennengelernt hatte. Was auch nicht der Grund war. Aber es gab Saiten in seinem wirren Kopf, die brachte eine Sängerin wie die Diva problemlos zu klingen. Oder zum regnen, wie es ihm an dem Tag geschah.

Na ja, den Text musste dann der Ressortchef selber schreiben.

Den Refrain hatte L. noch heute im Kopf. Und eigentlich begriff er erst jetzt, was ihm damals durch die Lappen gegangen war.

Ein Vogel im Winde /
Belinde /
War so schön.
Ein Vogel im Winde /
Belinde/
War zu schön.

„Irgendwie seltsam“, murmelte der Ressortchef. „Dass das damals fast zur selben Zeit …“

„Eigentlich nicht“, sagt L., der nun endlich mit dem Kaffeesee kämpfte, auch wenn das Telefon immerfort bimmelte.

„Willst du nicht langsam abnehmen?“

Aber beide schauten dann doch ziemlich misstrauisch auf das Nummerndisplay. Während sich das Schrillen in L.s Kopf mit den Bildern aus der Abschiedsfeier vermischte. Und eigentlich war es höchste Zeit, dass er sich mal wieder bei der Diva meldete. Sie würde ihm den Kopf abreißen.

Ein paar Kapitel verpasst?
Hier sind alle bisher erschienenen Teile:

Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird

In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?

Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.

Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?

In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!

In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter

In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke

In Teil 8 hat L. irgendjemanden aufgeschreckt.
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt

In Teil 9 fiel zum ersten Mal das Stichwort „Marinaden-Heinrich“.
Herr L. erinnert an eine staubalte Geschichte und muss mit Oleg Blochin aufs Dach

In Teil 10 ging es um leckeren Fisch und eine Frau voller Herzensggüte.
Diesmal steht L. ohne Unschuldsmiene, aber mit Tulpen im Flur

In Teil 11 tauchte die Frage auf: Bekommt es L. jetzt mit schweren Jungs aus Moskau zu tun?
Herr L. will eigentlich nicht nach London und irgendwer hat die Fischlein gemaust

In der 12. Geschichte badete Herr L. in Schweiß und gefährlichen Träumen.
Irgendjemand hat Herrn L. zum Fressen gern

In Teil 13 hat L. auf einmal eine Frage zu einer 20 Jahre toten Geschichte.
Den Löwen zum Fraß vorgeworfen …

In Teil 14 steigt L. hinab in die Abgründe unterm raschelnden Ameisengewimmel der städtischen Verwaltung.
Herr L. in den Verliesen der Administration

Und was passiert jetzt? – Teil 15, in dem Herr L. in uralten Notizbücherbergen kramt
Herr L. ärgert gleich in früher Stunde ein paar Leute und steigt in staubige Ecken hinab

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